Читать книгу Standards zur Teilhabe von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und komplexem Unterstützungsbedarf - Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft - Страница 6
Оглавление1 Einführung
Die Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft (DHG) engagiert sich seit nahezu 30 Jahren als berufsübergreifender und interdisziplinärer Fachverband für die Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und komplexem Unterstützungsbedarf. Mit Aktivitäten wie Tagungen, Fachgesprächen, Expertisen, Stellungnahmen und DHG-Preis unterstützt die DHG innovative Ideen und Projekte, insbesondere zur Entwicklung inklusiver Wohnformen, zur Sozialraumorientierung, zur Quartiersentwicklung und für arbeitsweltbezogene Beschäftigungsangebote mit dem Ziel der Stärkung der Teilhabechancen.
DHG-Fachtagungen5 zu Themen wie Selbstbestimmung und Assistenz, Hilfeplanung, Teilhabe, Sozialraumorientierung und Quartiersentwicklung boten in den vergangenen 20 Jahren ein Forum, um innovative Entwicklungen anzustoßen und voranzutreiben. Als Fachverband stellt sich die DHG nun der Aufgabe, Leitziele und Handlungsempfehlungen für Fachkräfte und Dienste der Behindertenhilfe zu entwickeln. Die folgenden Standards sind Ergebnis einer über zweijährigen Diskussion im Vorstand der DHG mit einem Kreis von Unterstützer*innen sowie eines Fachgesprächs im Rahmen der Mitgliederversammlung vom April 2018. Sie sollen Grundsätze und Handlungsempfehlungen für Methoden, Prozesse und Strukturen einer zeitgemäßen »guten Praxis« professioneller Unterstützung konkretisieren. Gerade im Prozess der Umsetzung und der Evaluation des Bundesteilhabegesetzes und damit der weiteren Entwicklung des neuen Teilhaberechts erscheint es notwendig und hilfreich, entsprechende fachliche Standards, fundiert durch wissenschaftliche Diskurse und Erkenntnisse, zu formulieren.
Im Mittelpunkt stehen Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen6 und komplexem Unterstützungsbedarf. Der Personenkreis ist sehr heterogen. Dazu gehören
• Menschen mit erheblichen kognitiven und kommunikativen Beeinträchtigungen, die ihre Befindlichkeiten, Bedürfnisse und Interessen überwiegend nonverbal, über jeweils eigene Ausdrucksformen signalisieren;
• Menschen mit mehrfachen Beeinträchtigungen (körperlich, sprachlich oder sinnesbezogen, teilweise zusätzliche psychische Problemlagen und chronische Erkrankungen);
• Menschen, deren Verhalten auffällt, die sich selbst oder andere gefährden, z. B. durch selbstverletzendes oder fremdverletzendes Verhalten gegen Personen und Sachen.
Allen gemeinsam ist, dass sie nicht oder nur bedingt für sich selbst sprechen können und bei der Wahrnehmung ihrer Rechte und Interessen anwaltschaftlicher Unterstützung bedürfen.
Der komplexe Unterstützungsbedarf fordert eine ganzheitliche Perspektive, die die Verwobenheit der vielfältigen individuellen Bedürfnisse und Bedarfe erkennt und auf der Handlungsebene integriert. Angesichts der Heterogenität des Personenkreises sind die Einschränkungen von Teilhabe nur personenzentriert beschreibbar und Unterstützungsbedarfe nur individualisiert realisierbar.
Die Begrifflichkeit und das Verständnis von Behinderung orientieren sich an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)7. Auf der Basis eines bio-psycho-sozialen Ansatzes wird Behinderung mehrperspektivisch im Rahmen einer Wechselwirkung zwischen körperbezogenen Faktoren, Umweltfaktoren und personenbezogenen Faktoren gesehen und als Einschränkung von Aktivitäten und Teilhabemöglichkeiten verstanden. Für den hier benannten Personenkreis sind Teilhabeeinschränkungen erheblich, in der Regel umfassend, d. h. sie beziehen sich auf alle ICF-Teilhabebereiche. Erforderlich sind entsprechend komplexe Unterstützungsleistungen und infrastrukturelle Rahmenbedingungen im Zusammenwirken verschiedener Leistungssysteme, um Teilhabebarrieren zu beseitigen bzw. zu reduzieren sowie Teilhabechancen zu erschließen bzw. zu erweitern. Fehlende oder unzureichende Unterstützungsangebote bedeuten für diese Menschen ein hohes Exklusionsrisiko. Wahlmöglichkeiten für kleinteilige Wohnsettings sind nach wie vor extrem beschränkt, institutionelle Strukturen sind in der Behindertenhilfe weithin vorherrschend.
Ergänzend zur ICF lenkt das sozialwissenschaftliche Lebensqualität-Konzept8 den Blick auf menschliche Grundbedürfnisse, um einer vielfach praktizierten Verkürzung von vielfältigen Bedürfnissen auf leistungsrechtlich anerkannte Bedarfe entgegenzuwirken. In dem mehrdimensionalen Konzept werden objektive Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden integriert. Die Leitfrage nach dem subjektiven Wohlbefinden mit entsprechenden Indikatoren für das physische Wohlbefinden, das soziale Wohlbefinden, das materiell bedingte Wohlbefinden, die persönliche Entwicklung und Aktivitäten sowie das emotionale Wohlbefinden ist eine wichtige personenzentrierte Orientierungshilfe für die Teilhabeplanung und die Evaluation von Assistenzleistungen, insbesondere für den hier betreffenden Personenkreis.
Rechtliche Grundlagen für Standards einer »guten Praxis« basieren vorrangig auf dem neuen Teilhaberecht des Bundesteilhabegesetzes (BTHG). Aus Sicht der DHG muss das Recht auf »volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft« (§ 91 SGB IX) für alle Menschen mit Behinderungen9 unabhängig vom Unterstützungsbedarf, ohne Einschränkungen und mit Vorrang gelten. Mit den Pflegestärkungsgesetzen10 und dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff sowie den erweiterten Pflegeleistungen vergrößern sich die Schnittstellen des Pflegerechts zum Teilhaberecht. Konkrete Auswirkung auf Leistungsstrukturen sowie Umfang und Qualität von Assistenzleistungen haben die länderspezifischen BTHG-Ausführungsgesetze, Bedarfsermittlungsinstrumente sowie die jeweiligen Landesrahmenverträge. Einfluss nehmen auch die Wohn- und Teilhabegesetze der Bundesländer und die Aufsichtspraxis der jeweiligen Heimaufsichtsbehörden, z. B. hinsichtlich teilhaberelevanter Fachkonzepte.
Mit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention und des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) stellen Personenzentrierung und Teilhabe die zentralen Leitbegriffe für eine zukunftsweisende Behindertenhilfe dar. Im Leistungsdreieck von Leistungsberechtigten, Leistungsträgern und Leistungserbringern stärkt das neue Teilhaberecht sowohl die Steuerungskompetenz durch die Leistungsträger der Eingliederungshilfe als auch die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Deren verstärkte Rechte beziehen sich allgemein auf Selbstbestimmung, auf volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, vor allem in der Teilhabe am Arbeitsleben und der sozialen Teilhabe.
Im Besonderen zielen sie darauf,
• dass die »Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich« wahrgenommen werden kann,
• dass Wünsche einschließlich nach einer »gewünschten Wohnform« und dem »Wohnen außerhalb von besonderen Wohnformen« berücksichtigt werden, »soweit sie angemessen sind«, und
• dass erforderliche Assistenzleistungen »zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohnraum sowie in ihrem Sozialraum« erbracht werden (§§ 91 SGB IX, 104 SGB IX und 113 SGB IX).
Zwar gelten diese verstärkten Rechte auf umfassende Teilhabe und erforderliche Assistenzleistungen in einer Wohnform nach Wahl unabhängig vom Umfang des jeweiligen Unterstützungsbedarfs, fehlende Ressourcen und fortbestehende institutionelle Strukturen bleiben jedoch wesentliche Barrieren für die Realisierung personenzentrierter Teilhaberechte. Außerdem stellt die Komplexität des Unter stützungsbedarfs sowohl an Leistungsträger (»Leistungen wie aus einer Hand«) als auch an Leistungserbringer (»Leistungsmix«, »Hilfen aus einer Hand«) zusätzliche Anforderungen an Koordination und Kooperation im Leistungssystem.
Viele rechtliche Ansprüche und fachliche Anforderungen des neuen Teilhaberechts sind erst noch mit Leben zu erfüllen. Die Realisierung einer umfassenden Teilhabe – ohne Exklusion und unabhängig vom Unterstützungsbedarf – bedarf einer systematischen Verankerung in der Umsetzung, Evaluation und Weiterentwicklung des Teilhaberechts. Die DHG-Standards zur Teilhabe bei komplexem Unterstützungsbedarf sind als Beitrag zum notwendigen Prozess der Ausgestaltung, Konkretisierung und Umsetzung von Teilhabe in fachlicher, rechtlicher und sozialpolitischer Hinsicht zu verstehen. Sie richten sich nicht nur an Leistungsträger und Leistungserbringer und deren Mitarbeitende, sondern auch an weitere Akteure wie Angehörige, Selbstvertretungsgruppen, Fach- und Berufsverbände sowie die Wissenschaft.
Komplexer Unterstützungsbedarf ist eine interdisziplinäre und multiprofessionelle Aufgabe. Dabei kommt in der alltagsgestaltenden Assistenz der pädagogischen Disziplin (Soziale Arbeit, Heilpädagogik, Andragogik) bzw. den pädagogischen Fachkräften (der Heilerziehungspflege und Heilpädagogik) mit ihren entwicklungs-, lebenswelt- und beziehungsorientierten Handlungsfeldern11 und einem an Selbstbestimmung orientierten, komplexem Assistenzkonzept12 eine herausragende Rolle zu. Unverzichtbar ist je nach Unterstützungsbedarf die Kooperation mit anderen Leistungssystemen, Disziplinen und Fachkräften (vor allem aus Sozialer Arbeit, Pflege, Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie) und mit deren Kompetenzen in einem strukturierten Teilhabemanagement.
In Anbetracht eines Personenkreises, der sich nicht oder nur sehr eingeschränkt für seine Interessen artikulieren kann, sieht sich die DHG in der Verantwortung, entsprechende Standards zunächst in anwaltschaftlicher Vertretung zu formulieren. Gleichwohl stellt sich die DHG der noch offenen Herausforderung zur Entwicklung einer Kultur der Selbstbestimmung und Beteiligung bei komplexem Unterstützungsbedarf.
Im Rahmen der Umsetzung des BTHG konzentriert sich die DHG mit ihren Standards zur Teilhabe auf fünf Handlungsfelder: Teilhabe und Assistenz; Teilhabe und Pflege; Individuelle Teilhabeplanung und Teilhabemanagement; Teilhabe im Sozialraum; Teilhabe am Arbeitsleben. Es ist beabsichtigt, diese Standards in einem fortlaufenden Prozess sowohl fortzuschreiben als auch um weitere Standards zu erweitern.
Literatur
Bundesarbeitsgemeinschaft der Ausbildungsstätten für Heilerziehungspflege in Deutschland (BAG HEP) (2019): Qualifikationsprofil Heilerziehungspflege. Länderübergreifendes kompetenzorientiertes Qualifikationsprofil für die Ausbildung von Heilerziehungspfleger*innen an Fachschulen für Heilerziehungspflege. Online verfügbar unter: https://www.akademie-schoenbrunn.de/fileadmin/data_akademie/Berufliche_Schulen/HEP_HEPH/Qualifikationsprofil_fuer_Heilerziehungspfleger.pdf, Zugriff am 29.06.2020.
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2013): Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Teilhabe – Beeinträchtigung – Behinderung. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.bmas.de/Share dDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a125-13-teilhabebericht.pdf?__blob=publicatio nFile&v=2, Zugriff am 30.07.2020.
Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) (Hrsg.) (2005): Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Genf: World Health Organization.
Kopyczinski, W. (2016): Assistenz zur Selbstbestimmung. Fachliche und menschenrechtliche Grundlagen zur Assistenz von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Marburger Beiträge zur Inklusion 01. Marburg: Lebenshilfe Hessen.
Seifert, M. (2002): Menschen mit schwerer Behinderung in Heimen. Ergebnisse der Kölner Lebensqualität-Studie. In: Geistige Behinderung, 41 (3), 203–222.
5 vgl. dazu die DHG-Schriften: www.dhg-kontakt.de/schriften/
6 leistungsrechtlich als »Geistige Behinderung« bezeichnet
7 DIMDI 2005
8 Seifert 2002; vgl. auch Kap. 8 (Zielperspektive Lebensqualität) dieser Standards
9 Die Verwendung des Begriffs »Menschen mit Behinderungen« ist hier und im Folgenden an der Bezeichnung des Personenkreises in der UN-BRK und im BTHG orientiert, die auf dem Behinderungsverständnis der ICF basiert. Im Teilhabebericht der Bundesregierung wird zwischen Behinderung und Beeinträchtigung unterschieden. Beeinträchtigung bezieht sich auf konkrete Einschränkungen, z. B. beim Gehen, Hören oder Sehen. »Erst wenn im Zusammenhang mit dieser Beeinträchtigung Teilhabe und Aktivitäten durch ungünstige Umweltfaktoren dauerhaft eingeschränkt werden, wird von Behinderung ausgegangen.« (BMAS 2013, 7).
10 Pflegestärkungsgesetze 1, 2 und 3 (2014–2016); vgl. Kap. 4 (Teilhabe und Pflege) dieser Standards
11 vgl. BAG HEP 2019: Qualifikationsprofil Heilerziehungspflege
12 vgl. Kopyczinski 2016