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Wild.
Drei Reviere des
Flaneurs Bäckeranlage mit Borbakis

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Kaum im neuen Stadtteil angekommen, die Straßen noch unbegangen, geschweige denn vertraut, noch keineswegs eingerichtet in der neuen Wohnung und noch lange nicht bereit, den Tratsch an der Ecke aufzunehmen, traf Wild auf Borbakis.

Kannte ihn von früher. Nicht besonders gut. Man war im selben Milieu junger, aufstrebender, eingebildeter Möchtegern­künstler gewesen, eine biografische Streifkollision. Erinnerte sich sogar an den Vornamen. Nikos. Ein Typ vieler Begabungen, Tausendsassa, in allem verdammt geschäftig, in keiner Sparte außergewöhnlich. Griechischer Abstammung.

Den Namen hatte er vom Vater. Von seiner italienischen Mama die Schwammigkeit, mit der er auftrat: ein Menschenpudding. Krause Fantasie, genau wie der Haarkranz, den die Griechen um den Kopf herum haben. Ein Champion der Ungenauigkeit. Weltmeister des Ungefähr. Das wusste Wild nun wieder, sofort.

Sie standen an einer Straßenecke. Die Häuser bildeten mit ihren Übereckfassaden ein der Kreuzung eingeschriebenes Quadrat. Über ihnen ein schmaler Balkon, Blumentöpfe. Wild wollte weiter, ging solchen Begegnungen instinktiv aus dem Weg, wollte nicht aufgehalten werden durch Bekannte, wollte niemanden kennenlernen und niemanden wiedersehen. Warum fiel von dem Balkon kein Topf auf Borbakis’ Schädel?

In der Schweiz aufgewachsen. Es bleibe ihm, sagte er jetzt ungefragt auf Wilds Trottoir, und er sagte schon immer alles ungefragt, es bleibe ihm bei allem Dazugehören doch immer ein Gran des Fremden, ein Millimü, das ihn nicht ganz heimisch werden lasse, etwas, was er das Peloponnesisch-Widerständige nennen möchte.

Gran des Fremden!

Borbakis’ Vater war Nordgrieche gewesen, aus Saloniki. Von wegen Peloponnes! Als Früchtehändler war der in die Schweiz gekommen. Das heißt: so hatte er sich hier etabliert. Fünfzigerjahre, alle waren unterwegs. Auf dem Weg nach Norden war er in Italien Nikos’ Mutter begegnet, in Bari, wo sein Schiff gelandet war. Zusammen kamen sie in die Stadt, in dieses Quartier, wo damals die Südländer wohnten, Italiener, Spanier, Griechen, später Portugiesen. Heute auch Tamilen, Nigerianer, Ex-Jugoslawen, Albaner, ein paar Türken. Versprengt: Schweizer.

Der Laden war ein griechisch-italienisches Lebensmittelparadies gewesen. Nikos hier geboren. Nikos Elvetikos, ein Secondo. Im Laden seiner Eltern hatte er dann eine Kunstgalerie eingerichtet. Zum Kunsthändler hatte es gereicht.

Und jetzt noch die jüngsten Ereignisse in Athen, sagte Borbakis. Eine Katastrophe!

Warum Katastrophe? Nordeuropa zahlt euch ja alle Schulden mit dem vielen Geld, das sie an euch verdient haben, also könnt ihr genauso weitermachen wie bisher.

Er ächzte. Und unsere Tabakfelder, sagte er, was glaubst du, was die jetzt für Grundstücksteuern draufknallen.

Der Ärmste. Er hatte Tabakfelder.

Warum hörte Wild ihm zu? Warum war er stehen geblieben? Verdammt. Seine unausrottbare Höflichkeit. Oder Feigheit. Oder Unvorsichtigkeit.

Das wusste er doch: Jede Begegnung, die man nicht vermeidet, noch die unbedeutendste, wird Teil des Schicksals. Wild wusste das. Und schlug es schon wieder in den Wind. Mit jeder Sekunde Wirklichkeit gehen Myriaden von Möglichkeiten verloren, unrettbar. Man weiß nicht einmal, was einem fehlt. Und Wild blieb da stehen, mit Borbakis. Nikos. Dem Elvetikos. Mit einem zufällig Hergekommenen und ewig Hiergebliebenen.

Wild war zuletzt in Rom gewesen. Mithras und Frühchristen. Davor Feldforschung in Inner Mongolia, Naturmedizin, und noch vorher in Douala, Geistheiler. In Lamu – archaischer Hummerfang – leider nur kurz, dafür lange in New York und San Francisco. Hatte Hexen gesehen jenseits des Polarkreises. Yogis in Indien. Den großen und den kleinen Atlas. War gereist, um wegzukommen, um woanders Station zu machen, um anderes zu erfahren und einem Freund zu bestätigen, dass überall alles anders ist.

Und jetzt stand er hier, mit dem da.

Wild hatte ihn zwanzig Jahre lang nicht mehr gesehen. Borbakis trug nun einen Bart wie Carlo Marx und saugte an einer dicken Partagas. Er saugte an seiner Zigarre wie an einem Euter. Vor Jahren hatte Friedrich Dürrenmatt zwei Marxe auf der Bühne des lokalen Theaters auftreten lassen, ein grotesker Hohn auf Karls geschichtliche Einmaligkeit, das doppelte Marxchen.

Je länger Wild Borbakis gegenüberstand, dachte er an ein Imitat. Popanz.

Die Maskerade, das Bartgeprotz erinnerte ihn an Key West, an «Sloppy Joe’s Saloon», in dem jedes Jahr ein Hemingway-Ähnlichkeits-Wettbewerb stattfindet. Zwanzig erwachsene Män­ner, in offenen Buschhemden und mit weißen Hemingwaybärten, grölen mit erhobenen Fäusten in die Kamera. Dazu serviert Sloppy Joe Hühnerflügelchen «Farewell to the Arms», Fischplatte «Old Man and the Sea» und «The Bell Tolls»-Käsekuchen.

Als hätte Hemingway gegrölt. Als wäre er nicht völlig einmalig gewesen, unwiederholbar. Das ist doch der Witz von Literatur, wütete Wild, dass es jeden immer nur einmal gibt.

«Hemingway was larger than life», sagt Sloppy Joe in seinem Advertising. Er weiß nicht, wie recht er hat.

Hinter Borbakis’ Brillengläsern, deren Linsen sich konzentrisch nach innen verengten wie bei einem Chamäleonauge, schauten kleine Gucker zugleich listig und unsicher und überaus feucht. Überheblich und unsicher. Ob man ihm glaube, schienen sie bei seinem Gerede ständig zu fragen.

Wild war neu im Quartier, Borbakis ein alter Hase, sofern das Wort Hase auf einen solchen Raviolihaufen passte. Unter den Zuwanderern, die hier die Mehrheit ausmachen, residierte er offenbar wie ein König. Familiär früh genug eingewandert, porentief verschweizert und doch fremd bleiben wollend, eine strategische Position, ein Mühle-Spiel, bei dem er abwechselnd auf den Einheimischen und auf den Fremden setzen konnte, grad so, wie er’s brauchte.

Borbakis machte Wild ungesäumt mit seinem letzten Projekt bekannt. Schwafelte, schwärmte, quasselte etwas von Paris. Wild fragte sich, warum die Leute einem immer alles anhängen wollen, was ihnen gerade durch den Kopf geht. Da stehen sie und reden. Man steht, festgepflockt an einer solchen Straßenecke, hört zu und hört nicht zu, während man auf den dunklen Fleck an der Hausecke starrt und sich fragt, warum jeder Hund des Quartiers hier Halt macht und sein Bein hebt. Warum gerade an dieser Ecke und nicht an der gegenüber? Ein Hund zieht den nächsten an, gewiss, aber warum zieht es sie alle an diese, genau an diese Ecke? Die andern Ecken sehen doch gleich aus.

Aber das Wort Paris hatte Wild gleich am Wickel. Unvermittelt hatte er selbst wieder Sehnsucht nach anderswo. Schon nur die Fahrt. Die leeren Landschaften der Franche-Comté! Dabei war es hier nicht schlecht. Man lebte auf engem Raum mit anderen, die man nicht zu kennen brauchte.

Wild hatte zugehört, wie ein untersetzter Mann, ein Italiener, im Sommer von seinem Balkon herunter mit einem Bekannten auf der Straße sprach, ungehemmt der eine von unten nach oben und der andere, im ärmellosen Unterleibchen, von oben nach unten. Wie viel der dort oben für seine Zweizimmerwohnung bezahle, darum ging es. Achthundertfünfzig, sagte der. Der unten fand das preiswert. Na, sagte der oben, magari, il bagno è sul pianerottolo, das Klo im Treppenhaus. Er wollte wohl andeuten, dass seine Achthundertfünfzig auch nicht geschenkt seien. Die große Stadt war hier wieder zum Dorf geworden.

Es war wie ein winziges New York hier. Na ja, jedenfalls viel Verschiedenes auf kleinstem Raum, freiwillige Nachbarschaft, die kleine urbane Zelle geteilt mit anderen. Auch in Wilds Eckwohnung war es, als sei drinnen draußen. Oder das Draußen drinnen. Ein kleiner Balkon gehörte zugleich zu seinen zwei Zimmern und zur Straße.

Eines Morgens, die tapfere Sonne war gerade daran, sich gegen den Stadtnebel durchzusetzen, war Wild in der Bäckeran­lage stehen geblieben, dem kleinen, buchsbaumgefassten Quartier-Park mit Grünflächen, riesigen alten Bäumen, drei Bronzepferden im Kunstgeschmack der Vierzigerjahre, einem großen Wasserbecken und einem überaus einladenden Pavillon mit Holztischen und -bänken, auf Kies und unter Bäumen, wie es sich früher für eine anständige Gartenwirtschaft gehörte. Er schaute dem Gartentraktor zu, der das Gras kurz schnitt, zum Schimmern brachte. Die Flächen glänzten im zaghaften Sonnenschein wie grüne Seide. Der Gartentraktor fuhr auf beiden Seiten gekämmte Schnittflügel aus, eine Heuschrecke.

Was die Stadt für ihre Bürger alles tut, hatte er gedacht, fast glücklich. War stehen geblieben, als ihn ein Mann seines Alters ansprach: Bello, no?

Ein Tessiner. Teilte er sofort mit. Auch er begann sofort zu erzählen. Dies war ganz offenbar ein redseliges Quartier. Ob Wild das Tessin kenne?

Die Täler, ein wenig, sagte der.

Und so kam der Mann sofort auf das Malcantone. Aus Curio sei er ursprünglich, Wild wohlbekannt, und gleich waren sie sich einig, wie schön das Malcantone sei. Und immer noch relativ wenig bekannt!

Und dann: Wie schön die Sorgfalt, welche die Stadt diesem unserem Park angedeihen lasse.

Auch in Lugano gebe es einen schönen Park, den der Villa Ciani, sagte der Tessiner, aber dort sehe man nur Touristen, oder Italiener, nicht die sympathischsten, nämlich die Milanesen, welche grade ihr Geld in einer Schweizer Bank in Sicherheit gebracht hätten und sich nun noch einen Blick auf den See gönnten. Während hier diese Anlage nur für die Stadtbürger ge­macht sei.

Man müsste das der Stadt, auf die man so viel schimpft, auch einmal mitteilen, dachte Wild.

Arrivederci. Er gehe jetzt essen, drüben im «Grottino 77» sagte der Tessiner. Und auf Wilds völlig überflüssige Bemerkung, es sei dort zwar ordentlich, wenn auch einigermaßen teuer, sagte er: Geld kann man nicht essen. Aber der Magen fordert sein Recht.

Borbakis also.

Nicht abzuschütteln. Eine halbe Stunde später, es ging gegen Mittag, saß Wild mit ihm im «Eichhörnli.»

Nikos schaute aus seiner Carlo-Marx-Maske, ein traniger Blick aus den Glastrichtern, die er vor den Augen hatte.

Wie geht es dir?, fragte er.

Unglaublich!

Gibt es einen einzigen Augenblick im Leben, eine Lebenssekunde, in der man diese Frage beantworten könnte?

Na ja, sagte Wild.

Borbakis sinnierte. Er stierte auf das Brotkörbchen. Er grummelte, und schon ging’s weiter.

Sei grad in Krise, sagte er.

Was sollte Wild darauf sagen?

Immer viele Pläne, sagte Borbakis, und dann? Und dann? Ein leiser Zweifel genügt, und alles geht in die Hose, verschwindet in meiner Lethargie. Einer Art Universal-Katatonie, wie ich es nenne.

Ach so?

Was für ein Schaumschläger, dachte Wild.

Ein Zustand, in dem ich kaum noch einen Finger bewegen kann. Alles wird schwer an mir –

– was heißt bei dem schwer?, dachte Wild – und ich möchte eigentlich nur noch liegen.

Er nestelte an seinem Kittel, zog ein Stück Papier aus der Rocktasche, faltete es umständlich auf, las vor; der Dialekt, aus dem sein Hochdeutsch kam, war unüberhörbar: «Der Zorn, der ihm Kraft verlieh, um anzufangen, war verflogen, bevor er halb fertig war. Wenige Worte verbrauchten ihn. So war es immer gewesen, nicht nur mit dem Zorn, nicht nur mit den Worten.»

Borbakis starrte triumphierend aus Chamäleonsaugen, als ob die hätten Blitze schleudern können, und bohrte sich mit seinem zwangsfokussierten Glaskörper in Wilds Blick. Dann faltete er, bedeutungsvoll wie nach einer Abdankung, das Blatt wieder zusammen. Murphy, sagt er, Murphy. Und Wild staunte: der und Beckett?

Pascal, der Wirt, stand beim Tresen und schaute zu den beiden herüber. Er grinste Wild zu. Wild wusste, Pascal grinste gern. Diesmal sagte das Grinsen: Schwätzer.

Kannte er Borbakis? Hatte Wild, indem er Borbakis herbrachte, das Lokal beschmutzt?

Eine Leere, sagte der, er hatte Pascals Grinsen nicht bemerkt, die übliche Leere, die würde in ihm sofort zum schwarzen Loch. Das fülle ihn bis in die Gliedmaßen aus, er würde wie ein großer, weicher Stein, zu nichts mehr fähig. Fühle seinen Körper, wie wenn Claes Oldenburg den geformt hätte.

Wild sah ihn an; das war gar nicht schlecht. Ziemlich aufgepampt und wohlgenährt war der Elvetikos auf jeden Fall.

Das Gegenstück zu jedem Triumphgefühl, sagte er weiter. Schwieg dann in sich hinein. «Et altera pars», murmelte er dann undeutlich, Wild nahm an, er meine «und so weiter», wahrscheinlich war Nikos im Latein nicht trittsicher.

Wild schaute ihn an. Pascal hatte sich der Kasse zugewandt. Wild konnte nicht sehen, ob er immer noch grinste.

Vielleicht lebe er nicht richtig, oder nur so wie ein Davongekommener, meinte Borbakis. Plötzlicher Kindstod käme ihm dabei in den Sinn, das Kind verweigert das Leben und geht wieder zurück dahin, wo es hergekommen ist. Wie in einem Experimental-Film, sagte er, in dem die Kacke sich aus dem Topf auf den Rückweg macht, um langsam im Hintern des Kackers zu verschwinden.

Plötzlicher Kindstod, murmelte er. Nach wenigen Wochen, Monaten gehen sie wieder, diese Kinder. Sie haben genug gesehen. Sie haben etwas gesehen, diese Kinder, was ihnen nicht zusagt, brummelte Borbakis. Ein Suppenrest verlieh seinem Marx-Bart ein unfreiwilliges Glanzlicht. Fettauge auf grau meliertem Griechenbart.

Wir, die sogenannten Normalen, die weiterleben, länger und immer länger, wir, die wir immer älter werden, älter und älter, haben damals vielleicht nicht richtig hingeschaut. Weißt du, bevor wir den ersten, den entscheidenden Schrei getan haben. Unerklärlich, sagt man, wenn die sofort wieder gehen, keine Ahnung, sagen die Ärzte und zucken entschuldigend mit den Achseln.

Borbakis regte sich auf. Die Ärzte, die nichts anderes als die Physiologie kennen. Das Kind war doch gesund!, sagen sie. Heilige Einfalt! So ein Scheißdreck!

Er käme sich selber vor wie einer, der damals, als es noch Zeit gewesen wäre, den Absprung verpasst habe.

Was für ein Gewäsch.

In der Regel denke er nicht daran. Sei dann wie jeder andere.

Wieder nicht schlecht: wie jeder andere.

Daran, dass er lieber rede als zuhöre, spüre er, dass er jetzt wieder in so einen Zustand komme. Er trinke es weg. Am nächsten Tag, hinter dem Kater hervor komme sie dann, diese Lethargie. Eine Art Katatonie. Die Mattigkeit, ums mal deutsch zu sagen. Die könne auch anhalten, über Tage. Gehe er unter die Menschen, werde er gleich wieder gesprächig, erreiche diese ekelhafte Selbstentäußerung, die sie für geistreich hielten.

Die sie für geistreich hielten?

In Indien, vor Jahren, habe er einmal mehrere Tage im Hotel verbracht, einem pompösen ehemaligen Maharadschapalast. Sei nicht ausgegangen, habe nichts unternommen, nicht einmal gelesen. Nur den ganzen Tag auf dem Bett gelegen, den Fernseher an, in dem unverständliche, wohl in Korea gedrehte Gangsterfilme liefen, alles in Hindi, und so auch einmal der Kommissar aus Deutschland, der Alte mit seinem Assistenten, Horst Tappert und dieser ewige Zweite namens Wepper, die er hier als Eindringlinge empfunden habe. Marsianer, diese Deutschen, hier im rajasthanischen Maharadschapalast.

Das Zimmer roch danach plötzlich nach Männerschweiß, sagte Borbakis, nach Wehrmachtssocken.

In einem Flügel habe noch der Fürst gewohnt. Der habe seine Gäste tagsüber mit dem Jeep auf Wüstensafari gefahren, ein in die Vulgarität des Tourismus abgestürzter indischer Maharadscha. Weißt du, dass das «Großer Herr» heißt? «Mahab» heißt «groß». Ein abgefuckter Grande im khakifarbenen Hemingwaydress. Salzringe unter den Achseln, weißt du, so.

Er versuchte, mit der Patschhand an seinem fetten Arm einen Halbkreis anzudeuten.

Abends aber ganz in Weiß. Hose und hoch geschlossene Jacke, auf Taille geschnitten. Das Gesprächsthema war, Gläser in der Hand, Tschernobyl. Man unterhielt sich darüber, wie schnell die nukleare Wolke mit der Höhenströmung über Indien sein würde.

Er sei sonst nicht so, sagte Borbakis. Aber bei diesem Aufenthalt habe er nur kurze Ausfälle hinunter in die nahe Ameisenstadt gemacht.

Er sagte Ameisenstadt.

Er habe sich in den Menschen-, Auto- und Tierverkehr gemischt, dann, ziellos gehend, einen Park besucht, in dem in einem Pavillon grellbunt bemalte Götterstatuen gestanden hätten. In einer Reihe merkwürdigerweise, wie Schießbudenfiguren.

Er habe dort einer Passantin mit einem Kind, Großmutter und Enkel vielleicht, zugelächelt. Um nur gleich wieder auf seinen Hügel zurückzukehren. In die Maharadscha-Burg. Warum bloß hatte er diese zusätzliche Woche gebucht?

Borbakis verlangte die Rechnung, er rief das Wort in den Raum, ohne sich umzusehen. Als Pascal ihm das gefaltete Papier hinlegte, schob er es zu Wild herüber.

Machen wir doch halbe-halbe, sagte er.

Er hatte die Sellerierahmsuppe mit Kerbel, das Kalbssteak mit Rösti und einen gemischten Salat gehabt, Wild eine halbe Portion Pasta und grünen Salat. Den Wein hatte Borbakis bestellt, obwohl Wild ihn ins «Eichhörnli» gebracht hatte.

Die Dicken essen immer auf Kosten der Dünneren. Die Dicken fliegen zum gleichen Preis wie die Dünnen. Auch für die Krankenkasse, die die Dicken dann brauchen, zahlen die Dünnen, die sie nicht in Anspruch nehmen. Wild legte einen Fünfziger hin, Borbakis legte mit bedeutender Gebärde dreißig dazu.

Das «Eichhörnli» machte zu. Pascal kann es jeweils nicht erwarten, bis der letzte Gast gegangen ist. Er führt sein Quartierlokal wie eines dieser Sterne-Etablissements, in denen man sich nach dem letzten Bissen den Mund abwischt, aufsteht, sich vor dem Wirt verbeugt, dem Koch gratuliert und geht.

Es war kaum halb drei, eigentlich Viertel nach zwei. Sie gingen durch die Scheitergasse über die Magnusstraße zur Helmutstraße und die paar Schritte zum Park. Saßen in der Grünanlage. Es war ihre. Sie waren Quartierbewohner, und Schweizer, na ja, Borbakis ein bisschen weniger.

Die drei Bronzepferde hoben ihre Vorderhufe. Sie saßen in dem Park, in dem die Stadt das Restaurant mit Tischen und Bänken im Freien eingerichtet hatte, ein Akt der Stadtsanierung, nachdem es im alten Pavillon jede Nacht gebrannt hatte. Junkies, Drogenhändler, Alkoholiker jede Menge. Wild erinnerte sich an ein rauchgeschwärztes Gusseisengerippe aus der Gründerzeit, ein Monument sinnloser Auflehnung. Oder Auflehnung gegen die Sinnlosigkeit?

Nun war alles proper, benutzerfreundlich. Vorbei die Zeit der Platzkonzerte.

Nachts sah man jetzt junge Menschen in der erleuchteten Helle des nüchternen Pavillons zusammensitzen, sah sie und hörte nichts, wie auf den Bildern von Edward Hopper. Der Lärm war wegsaniert.

Inzwischen waren alle jung geworden. Solche Leute wie sie beide, dachte Wild, wurden rücksichtslos an den Rand gealtert.

Der Park und seine Anlagen waren nun clean, wie man hier sagte. Nur am Rand und auch nur tagsüber lagerten auf den Bänken noch ein paar letzte Säufer vor dem hundeverpissten Lebhag, Buchsbaum, der aussah, als wäre er tausend Jahre alt. Letzte Raucher mit ihren ewigen Plastiktüten, ihren Bierbüchsen.

Die jungen Frauen schoben ihren Kinderwagen an ihnen vorbei, als säßen die schon nicht mehr da.

Borbakis Gesicht, zugewachsen hinter seinem Bart. Wir gehören zur Generation, die hinüber ist, dachte Wild, die jungen Männer vor Augen, ihre Kuriertasche schräg umgehängt, die Kuriertasche der fliegenden Boten, die sie auch beim Bier nicht ablegten. Ein Firmenname stand darauf, bei allen der gleiche: Freitag.

Ich glaube, sagte Wild, sie trauen sich ohne ihren Computer nicht mehr ins Freie.

Auf dem Fahrrad wehte die Tasche hinter ihnen her.

Alles Freitage, sagte er, clean, proper, tüchtig. Ein bisschen Hasch, aber nicht zu viel. Viel Zeit für die Kinder. Mäßig im Alkohol. Schlafen auf flachen Matratzen am Boden. Foutonglück. Fluchen nicht.

Ich wäre lieber Robinson gewesen.

Die einsame Insel ist natürlich Kitsch, sagte Wild, aber so einen Saum um sich herum, ein bisschen Meer, das den einen von den andern trennt, dürfte man schon verlangen.

Wild hatte an Einsamkeit gedacht, Borbakis sah sich auf einer solchen Insel gleich mit einer Schönen.

Esther, sagte er, die Esther. Sie sei seine Zahnärztin gewesen, etwa gleich alt wie er. Von ihr sei, wenn sie sich mit dem Bohrer über ihn beugte, eine Wärme ausgegangen, so etwas wie eine Strahlung, unglaublich. Er habe nur noch angebohrt werden wollen von ihr. Sei trällernd in ihre Praxis gegangen, habe alles an den Zähnen machen lassen, was möglich war.

Er meckerte.

Ich hatte immer eine Begabung zum Musterpatienten, sagte Borbakis, als sei das ein Verdienst. Er wollte in allem etwas Besonderes sein, trug sein Gran des Fremden wie eine Monstranz vor sich her.

Wir trafen uns nach der Behandlung bei einem Asiaten, sagte er, um die Ecke, im Shanghai. Bier her!, die Losung. Erst ein schäumendes Tsingtao gegen die langsam nachlassende Anästhesie, dann das scharfe Essen und die klein geschnittene Ware, das habe sich ideal mit der Rückkehr zum gewohnten Biss ergänzt. Am Ende des Essens sei er zugleich gesättigt und wieder auf dem Damm gewesen.

Übrigens sollte man endlich eine Pille erfinden, sagte Bor­bakis, die einem das Gefühl des ersten Schlucks Bier an einem Tag vermittelt, den ersten Schluck und immer wieder nur den.

Einmal gingen wir abends aus …

Borbakis schaute Wild zweifelnd an, als ob er es sich überlegen würde, ob der solcher Mitteilungen überhaupt würdig sei. Als er sich entschloss, weiterzufahren, war das gewiss nur deshalb, weil er im Augenblick keinen besseren Zuhörer hatte.

Borbakis schaute zum Fenster hin, auf die halbhohen Spitzenvorhänge, die davorhingen.

Ich durfte bei ihr schlafen, sagte er, als ob er es sich nur gewünscht hatte; sie ließ mich in ihr Bett, und ich lag eng an ihrem Rücken, und ich spürte diese wahnsinnige Wärme.

Einmal tanzten wir in einem kleinen Lokal, wie ineinander verwachsen, zwei Bäume, die zusammen in die Ewigkeit wollen. Sie war Esther, und sie wollte, dass ich sie verführte.

Es war eine kurze Zeit. Ich war nicht wirklich verfügbar. Und nur ein Abenteuer sein, das wollte sie nicht. An dem Abend, bevor wir uns trennten, sagte sie: Du bist ein Arschloch. Mit uns wäre es gegangen. Sie konnte sehr klar sein, sehr trocken.

Es sei merkwürdigerweise diese Hitze gewesen, die von ihrem Rücken ausging wie von einer Wärmelampe, an die er sich später am deutlichsten erinnert habe.

Da saßen sie nun. Es war ihr Park. Ihre Grünfläche. Ihre Bronzepferde. Sie waren großzügig, kleine Kinder durften auf ihrem Rasen spielen.

Drüben am Lebhag noch die paar Restalkoholiker.

Die Liebe, ach ja. Wild erzählte nie von solchen Dingen. Da schwieg er ganz hörbar. Zu zart, zu schwierig.

Ihm waren die Männer zuwider, die ihn mitnehmen wollten in ihre Intimitäten, zwischen ihre Geschlechtsteile und die ihrer Opfer. Habe die aber wohl immer schon angezogen, dachte Wild.

Er sah im Borbakis-Mondgesicht jedes Barthaar gesondert von dem anderen; schon wieder war ihm das alles zu nahe.

Sie nehmen es wohl für Liebe, sind geschlechtsreif geworden, immer erregt, ohne dass ihnen ihr Gemüt dabei folgen könnte. Vielleicht brauchen sie keines.

Niemand weiß, was Liebe ist. Was hatten der heilige Franz und seine Clara miteinander? Wen geht es etwas an?

Wild hatte im Rundfunk eine Textilarchäologin gehört, die von der Restauration der letzten Kutte des Franziskus erzählt hatte. Es sei in der katholischen Kirche Gesetz, dass eine Reliquie nach ihrer Weihung nicht mehr verändert werden dürfe, man könne also davon ausgehen, dass das, was man später finde, den Originalzustand bei der Einsargung wiedergebe.

Nun, sie habe die Kutte des heiligen Franz kürzlich untersucht, berichtete die Archäologin, und dabei Flicken am zerlöcherten Saum festgestellt, Stoffflecken, die aus einem anderen Gewebe gestammt hätten. Und offenbar kurz vor der Grablegung aufgenäht worden seien.

Die Flicken stammten, das habe sie dann nachprüfen können, aus der Kutte der Clara – dort habe das entsprechende Stück Stoff gefehlt. Kein Zweifel, stellte die Archäologin fest: Clara hatte die Kutte des Toten noch einmal in die Hand genommen, ein letzter Liebesdienst. Franziskus sollte nicht mit einem zerlöcherten Gewand in die Ewigkeit eingehen. Clara hatte mit dem Stoff aus ihrem Rock die Löcher in seiner Kutte verdeckt.

Wenn es auch das letzte Hemd war, ganz sollte es wenigstens sein. Das gab sie ihm mit auf die Reise.

Borbakis und seine Esther, nun gut.

War Wild neidisch? Auf solche Kerle wie diesen Nikos? Wild hatte seine Träume, eigentlich immer denselben Traum. In diesem war er mit einem Mädchen, immer demselben, oder waren es mehrere untereinander ähnliche? Mit dem Mädchen hatte er eine Zärtlichkeit gemeinsam, etwas Vertrautes, das erwidert wurde; Berührung, Umarmung. Aber vor allem Berührung. Wenn er erwachte, wusste er für kurze Zeit, dass er eigentlich noch liebesfähig gewesen wäre.

Das andere, das Borbakische fehlte ihm. Der Überwältiger. Das wollte er nicht. Aber das vermisste er dann doch, dieses Gefühl, vom Weibe zu kommen. Herauskrabbeln aus dem Begrabensein, das man nicht einmal mehr gespürt hat, so sehr war es das Normale geworden und alltäglich. Fern aller Berührung, die Abenteuer gewesen wäre.

Wild erinnerte sich, oh ja, wie er einst, am frühen Morgen, aus einem Hotelzimmer kommend, die Treppe herunterkam ins Frühlicht. Oben schlief die Frau noch.

Auf der Treppe war er voller Hochgefühl gewesen, erlöst, und grüßte wie höhnend den Portier, der missmutig salutierte. Herrenbesuch war nicht vorgesehen im Einzelzimmer, und Wild hätte gern einen Federhut geschwenkt gegen den Missmutigen, ein Barett geschwungen, so dankbar war er für diese Nacht, die keineswegs schäbig, sondern einfach und bei Gelegenheit dem Glück abgestohlen, vielleicht sogar ein bisschen ertrogen gewesen war, stellte man den vorangegangenen Abend in der Weinstube in Rechnung.

Aber sie war nicht willenlos gewesen, nicht Opfer, gar nicht, nur eben angesäuselt, hatte ihn mitgeschleppt, an der Hand die Treppe hoch, wenn er sich richtig erinnerte, und er war ihr Liebhaber. So ist das, Herr Portier!

Wild hatte den Kragen des Regenmantels hochgestellt, übermütig. Prall mit neuem Atem, mit Elixier, grader geworden, ein Mann. Federnd ging er die Straße entlang, in einen Tag, wie schon lange keiner mehr, so schien es ihm, gewesen war.

Lange her.

Im Grunde unterscheidet uns wenig von den Männern dort auf den Bänken, sagte er zu Borbakis. Ein bisschen Seife am Morgen. Wir wechseln die Kleider vielleicht öfter. Aber wir sitzen mit ihnen auf derselben Bank, im selben Warteraum. Wir haben vielleicht Hemmungen, die sie nicht mehr haben. Die trinken schon am Morgen, während wir uns gegenseitig versichern, dass wir erst am Abend damit anfangen. Um dann doch schon um drei in der Schweizer Weinstube zu sitzen. Uns sieht man unsere geheizten Wohnungen an und unsere Behauptung, wir hätten noch etwas Wichtiges zu tun. Hast du es gehört, Borbakis, das noch?

Borbakis sah in sich hinein.

In dem noch ist die letzte Grenze auch schon eingezeichnet, nicht wahr? Die dort gehen ehrlicher damit um. Sie sitzen, die Bierbüchse in der Hand, vor ihrem Ende und schauen ihm ins Auge.

Der hörte nicht zu. Borbakis mit seiner kubanischen Zigarre, nach proletarischem Muster ein Vorschuss auf das Glück der klassenlosen Gesellschaft, war schon wieder bei den letzten Fragen, oder denen, die er dafür hielt. Ob man unter Umständen, die später gesellschaftlich ausgeglichen würden, nicht sofort das Recht habe auf seine Neurosen? Und sonst noch auf dies oder jenes?

Was sollte Wild sagen? Pascals Wein, ein südfranzösischer Syrah, hatte ihn zunächst aufgestellt, dann aber träge gemacht.

Hast du dir schon überlegt, wie du begraben sein willst?

Wild schaute Nikos an.

Oder wo? Oder ob überhaupt?

Ein Flugzeug flog über ihnen vorbei, so unangenehm bedeutungsvoll wie in einem Film von Ingmar Bergman. Westabflug in Kloten. Sie schauten nicht auf.

Er nämlich, Borbakis, bitte darum, seine sterblichen Überreste, er sagte «sterbliche Überreste», nach Torcello zu bringen. Torcello, wiederholte er etwas lauter, du weißt schon, dort bei Venedig, die Insel mit der Kathedrale, Santa Maria Assunta. Du kennst doch das Mosaik, Madonna Theotokos?

Was für ein Angeber war das.

30000 Einwohner nach der Besiedlung durch die Veneter im fünften Jahrhundert, heute vielleicht noch fünfzig. Verlandet, versumpft, halb versunken das moorige Inselchen, schon am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts. Und gerade deshalb ein traumhafter Ort, reine, märchenhafte Schönheit nur dreißig Vaporettominuten von dem Gewimmel Venedigs. Ein Ort, an dem die Zeit schon vergangen ist.

Dorthin mit meiner Asche, sagte Borbakis, fein gemahlen, in die Locanda Cipriani; ich war dort einmal für einen Augenblick lang glücklich.

Ich verfüge, es ist mein letzter Wille: Mein pulverisierter Astralleib ist in die dortigen Salzstreuer umzufüllen, auf dass ich post mortem den guten, wenn auch nicht exzellenten Gerichten der Locanda zu mehr Geschmack verhelfen möge und ich auf diese Weise, im Darmverlies der über Burano auf die Fondamenta Nuova zurückkehrenden Ausflügler, und, bei ihrer Abreise – in Venedig bleibt ja keiner länger als ein, zwei Nächte – über die Lagune hinaus in alle Himmelsrichtungen reisen werde, wo, wenn dann immer noch etwas von mir da ist, und die Theorie weiß ja, dass nichts auf Erden je verloren geht, ich mit den entsprechenden Wassern den Weg schon selber weiter finden werde, weiter und weiter.

Der Meienberg, der Paris-Fan, erinnerst du dich?, der hat sich in die Seine einstreuseln lassen. Das war ähnlich, wenn auch kürzer gedacht.

Ja, Paris, sagte Borbakis jetzt. Nur noch vier Stunden entfernt, vier Stunden und drei Minuten.

Wild sagte nicht, was ihm auf der Zunge lag. Viel zu nahe für seine Sehnsucht.

Paris, Paradis. Für mich so etwas wie der Siebente Himmel, sagte Borbakis.

Wild sah gleich das Kreuz auf Sacré Cœur und die Blitzableiter auf der Tour Eiffel und die Seine, wie sie über die Spitze des Île de la Cité herunterkommt, und den Fahnenmast auf dem Arc de Triomphe und die Himmelszeiger seines persönlichen Walhalla, die Fernsehantennen auf den Dächern rund um sein Hotel im Quartier Latin, an der Kreuzung Rue de Fleurus und Rue d’Assas, in dem er, im Herzen der graublauen Großstadt, das oberste Stockwerk, das sechste, das Mansardengeschoss, blechgedeckt, zu beziehen gewohnt war, Aussicht in das geliebte Taubengrau der Dächer.

Und was willst du dort, mein Lieber?

Da kam es auch schon. Er sei seit einiger Zeit mental beschäftigt mit dem Auf-, Ausbau einer Bibliothek jener besonderen Geister, der erlauchten Caféterrassenbewohner und Boulevardflaneure, der literarischen Parisbewohner.

Lauter fantastische Typen.

Er sagte «fantastische Typen», Wild schauderte, verträgt diese Art von Annäherung nicht gut, das Ranschmeißerische, hasste es auch, wenn einer Berühmtheiten beim Vornamen nannte, Fritz sagte, statt Dürrenmatt.

Um das «Fest des Lebens» gehe es, sagte Borbakis, wie Hemingway geschrieben habe. Paris damals, und vor allem für die Amerikaner, die Essenz des Lebens, die Bouillon, der Brodo. Er stockte; das griechische Wort dafür fiel ihm nicht ein.

Alles gute Freunde, diese Fremden, diese Zuzüger, diese Vorbeistationierer, wie es einer von ihnen genannt habe, meinte er, alle versammelt in der, nun ja, Bibliothèque Borbakis.

Wild baff.

Er setze sich noch einmal, spät im Leben, ein Lebensprojekt, sagte er großspurig.

Borbakis hob die Stimme und sprach in Majuskeln: Mit ungewissem Ausgang! Nur weg von hier! Sammler, Erforscher, Kenner, Koryphäe wolle er werden auf dem Gebiet der literarischen Immigration nach Paris, und zwar in den Jahren 1930 bis 1960, den fruchtbarsten Jahren.

Er fuchtelte mit Ausrufezeichen.

Borbakis war einer von denen, die ständig lauter werden, wenn sie unterstreichen wollen, wie wichtig das ist, was sie sagen.

Sein zukünftiger Stadtplan, das heiße der Plan, den er mit Paris vorhabe, mit dem er Paris überziehen werde, sein Plan Borbakis, er wolle die Wege und Wohnungen der Exilanten in Paris erforschen und dokumentieren, eine in die Literaturgeschichte vertiefte Landkarte der Heimatlosen in ihrer Wahlfremde. Die Engländer, die Iren, die Rumänen, die Amerikaner, Hemingway, Stein, Fitzgerald, Miller. Das ist Musik, was!, sagte er begeistert. Was findest du, he? Von Cioran zu Beckett, von Joyce zu Simenon.

Warum kannte dieser Borbakis den Namen Cioran? Wild war verblüfft; Nikos’ Havanna und jener eisige Philosoph, wie passte das zusammen?

Triumph sprach aus dem Elvetikos, Triumph über diese Entdeckung eines Spezialgebiets, das das reine Vergnügen versprach. Das alles aus diesem Bartgesicht, dieser verhaarten Bedeutungsmaskerade, er sah wohl auch schon den dazugehörenden Lehrstuhl zu seiner Bibliothek, als Komparatist an einer Pariser Uni; unter der Sorbonne würde der es nicht machen wollen.

Und niemand, der ihm das Fachgebiet streitig machen würde. Wirklich niemand?, fragte sich Wild. Inzwischen brütete im übervölkerten Wissenschaftsbetrieb doch über jedem Furz schon ein spezialisierter Hintern.

Nur, an seinem Thema schien etwas dran zu sein. Eine Bibliothek, ein Literaturausschnitt, eine größere Lektüre mit einem inneren Zusammenhalt, den es zu beschreiben gelten würde, ein literarisches Feld, das auch nicht zufälliger wäre als ein anderes, Spätromantik oder Frühmittelalter …

Der Park war wirklich sehr schön geworden. Es begann zu dunkeln. Die alten Bäume mit ihrem hoch oben raschelnden Laub. Die Wiese, auf der noch ein paar junge Leute lagerten, Ball spielten; der Pavillon, vor dem man in Ruhe ein Bier trinken konnte. Ein Ort ohne Gedächtnis. Einer, den Wild mit keiner Geschichte, und also auch keinem Makel verband.

Ob er die Angst kenne?

Welche Angst?

Wild war wieder mal nicht auf dem Quivive und stellte auf Borbakis’ Einwurf hin automatisch die Gegenfrage. Und verwünschte sich deswegen im gleichen Augenblick.

Angst als Begleiter, dein Schatten, sagte Borbakis philosophisch. Unsere Furchtsamkeit, und deine persönliche Angst. Oder die Ängste. Wenn ich sie analysiere, sagte er, finde ich nicht nur die Angst vor dem Unnennbaren, das vor mir liegt, also Sterben, Totsein, sondern, und noch viel mehr, eine Art Angestautes. Ja. Langsam wächst es, langsam wird’s sichtbar: die Schuld gegenüber den anderen.

Die Leichen, die in deinem Schrank sind, sagte Wild wütend, sie beginnen also zu stinken. Und sich zu bewegen, während du zerfällst. Und du hast nur Angst, dass deine Sauereien dich überleben.

Der Schmerz, den du anderen zugefügt hast, sagte Borbakis, überraschend mild. Dies, und tiefer noch das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben. Angst vor der Wahrheit, gegenüber dir selbst versagt zu haben. Dich vielleicht sogar verpasst zu haben. Wie man allein im wildfremden Land von der Angst überfallen wird, wenn man die Augen aufschlägt: Was mache ich da? Die anderen, die dich nicht kennen, sehen dich nicht, und du bist nichts.

Wir sind gegen unser persönliches Unheil, unser Ungenügen nicht versichert, Borbakis, dachte Wild. Schwieg aber.

Es wurde Abend. Das Licht, das vom Pavillon her über die Tische kam, hätte den beiden genug sein müssen für ein kleines Glück.

Nikos sann, ein Kloß, ein Koloss, den eine unsichtbare Kraft zum Innehalten gebracht hatte. Abwesend. Er war so stumm, dass es schien, dass er seine Einsicht verschluckt habe an einen Ort in seinem riesigen Körper, an dem er sie nie wieder finden würde. Er hatte aufgegeben zu sagen, was er sagen wollte. Oder auch nur den Faden verloren.

Wild, ohne weiteren Zusammenhang, dachte, dass es kein Recht für uns gebe, sich zu beschweren. Wo sollten wir das Recht herhaben?

Eine Straßenbahn, ein innen erleuchtetes Bügeleisen, zog leer um die Kurve am Rand ihres Gesichtsfelds. Hinter der Führerkabine lehnte ein Mann am heruntergelassenen Fenster; er reckte den Kopf in den Führerstand und sprach mit dem Fahrer. Die Straßenbahnen, nachts, fuhren wie in einem anderen Aggregatzustand. Sie wollten mit Beförderung nichts mehr zu tun haben, sie fuhren nun für sich selbst. Zum Vergnügen der Tramführer, die nun die Schienen für sich hatten.

Hunger, bald werden wir beide Hunger haben, dachte Wild, plötzlich entsetzt. Und der da wird ein Abendessen vorschlagen, nur um noch ein weiteres Lokal aufzusuchen. Dieser Sack. Fresssack.

Es ist schwer, den andern von sich fernzuhalten, wenn man mittelschwer betrunken ist. Wie in diesen Boxkämpfen. Man kommt einfach nicht mehr auseinander.

Weiche von mir! Aber so einfach ist das nicht, wenn man stundenlang vorgegeben hat, ein Freund oder wenigstens ein Zuhörer zu sein. Wild wollte gern ein Fuchs sein, der einsam dahinschnürt.

Irgendwie schaffte er es. Saß, es war spät geworden, allein an einer Kreuzung, an der alle vier Ecken von je einer Kneipe erleuchtet waren. Das Licht traf sich in der Mitte der Kreuzung. Die im Zentrum hängende Straßenlaterne schnitt darüber einen Kegel aus der Dunkelheit heraus. Es war einer der schönsten Salons, die Wild je gesehen hatte. Nutten stöckelten vorbei, Lateinamerikanerinnen mit ihren Brüsten in der Rockauslage, ihren Auberginen, tiefschwarze Frauen, zu alt für den Beruf, dick und schwer. Stöckelten anscheinend erfolglos. Wer mochte ihre Kundschaft sein, wer die Liebhaber dieser schwarzen Damen, die bereits am Morgen früh vor ihrem Salon standen, dem Schaufenster mit der Jalousie, hinter der ein Fernseher stand, ein Stuhl knapp sichtbar war? Begehrte man sie, oder hatte man sie einfach nur nötig gegen die Einsamkeit?

Eine trug eine Lehrerinnenbrille und einen Mittelscheitel in ihrem ölig schwarzen Haar und, wenn es kühl war, eine Jacke bis über die Knie. Sie machte keine Anstalten, sich anzubieten. Sie stand da, an die Hausmauer gelehnt, stumm in ihrer tiefen Schwärze, wie verirrt.

Nicht wie jene grellblonde Schweizer Kollegin, die Wilds Hund angemacht hatte, als er mit ihm an der Leine an ihr vorbeikam. Sie hatte den Rock gehoben und, immer zum Hund, gesagt: Na, willst du ficken? Natürlich zog Wild den Hund von ihr weg.

Trinker mit tiefen Furchen im Gesicht kamen vorbei vor dem kleinen runden Blechtisch. Wild musste immer ein wenig den Kopf heben, er hatte die Rolleiflex-Perspektive, den Blick auf die Welt vom Bauchnabel aus. Ausgemergelte Männer, abgerissene, wo hatten sie das Geld zum Trinken her? Allen hier, den Jungen, den Alten, den Neugierigen, den Gewohnheitstrinkern, schien das Geld fürs Bier niemals auszugehen.

Vier Kneipen übereck, jede einer andern gegenüber. Alle warfen sie ihr Licht auf die Straße, einen hellen Teppich. Wie das gelbe Licht vor van Goghs Café in Arles, dachte Wild, eines seiner Lieblingsbilder. Das ist doch die Welt, dachte er verblüfft, sie kommt zu dir, du musst nur sitzen bleiben.

Es war ein großer Friede in dieser Zeitweil, die sich wie ein aus dem Mund gezogener Kaugummi in die Länge zog. Ein Mann mit einer Handharmonika hatte vor der Bar gegenüber zu spielen begonnen. Er saß vorn auf der Stuhlkante und zog und drückte den Balg. Musette, was sonst. Einer neben ihm hatte zwei Holzlöffel zwischen die Finger genommen und schlug einen wirbelnden Takt abwechselnd in seine Hand und auf den Tisch. Und dann tanzten zwei junge Leute, zwischen Nutten und Trinkern aus dem Innern der Bar aufgetaucht, tanzten zum Musettewälzerchen eng und leicht. Es kümmerte sich keiner um sie, sie tanzten in dem gelben Licht und schoben dann ineinander verwoben zum Dunkel hin, dorthin, wo die Hinterhöfe sich auftaten, dorthin, wo der Schein aus den Wirtschaften verdämmerte, wohin der Klang der Handorgel hinter ihnen herlief wie ein Hund.

Am Morgen war diese Straße ohne Erinnerung. Früh war eine Reinigungsmaschine durchgefahren, zuerst auf der Straße, indem sie einen engen Bogen um jedes geparkte Auto beschrieb und einen kompliziert gewundenen Nassstreifen auf dem Asphalt hinterließ. Danach fuhr die städtische Arbeitsbiene mit wichtigtuerischem Gelärm auf dem Trottoir auf und ab. Papierfetzen, zerknautschte Büchsen, die üblichen Zigarettenstummel, den ganzen Vergnügungsmüll wischte sie mit gegeneinander drehenden Bürsten in ihr aufgeworfenes Hinterteil. Die eisernen Läden vor den Kneipeneingängen waren heruntergelassen.

Wochen später stellte sich heraus: Borbakis war unfähig gewesen, auch nur einen Fuß nach Paris zu setzen. Wild traf ihn auf dem Markt am Helvetiaplatz, wo er, der erfahrene Genießer, ihn, den Neuling, auf den Verkaufswagen eines Metzgers aufmerksam machte. Nur allerbeste, ausgewählte Ware, sagte er, da, schau, Lammgigot aus Sisteron!

Er war nicht nur nicht in Paris gewesen, es war vielmehr, als wolle er von seinem Projekt nichts mehr wissen. Nur noch der Metzger schien ihn zu interessieren, der Käsehändler, der Stand des Bäckers.

Gut, so weit.

Die Gärten der Medusa

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