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Place de la Contrescarpe

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Wo war Helen? Wo zum Teufel? Die Frage war Wild nicht fremd. Nein, nur zu gut bekannt.

Helen war Abwesenheitsweltmeisterin. Entweder war sie grad in Tokio oder auch nur in einem Seminar im Oberengadin, mehrmals im Jahr und spurlos darin verschwunden, mit der schwierigen Vereinigung von Körper und Geist befasst. Oder aber auch nur in der Stadt unterwegs, dies dafür erstaunlich ausgiebig. Es war hell gewesen und wurde wieder dunkel, aber Helen war noch immer nicht zurück. In früheren Jahren hatte Wild sich oft gefragt: Wen kennt sie nur, den ich nicht kennen darf?

Also entweder nicht da. Oder aber da und nicht da: in sich gekehrt. Schweigsam, eben zum Beispiel darüber, wen sie in der Stadt getroffen hatte. Unmitteilsam in einem Maß, das Wild auch nach Jahren immer noch verletzte. Freiwillig sagte sie nie, wo sie hinging. Wenn Wild sie fragte, sagte sie es eher mürrisch und im Was-geht-es-dich-eigentlich-an-Ton. Hatte er aber gefragt, kam er sich selber dumm vor, nicht eifersüchtig nach all den Jahren, nur dumm. Er hätte es nicht wissen müssen, es änderte nichts an der Tatsache ihrer Abwesenheit, wenn sie sagte, dass sie zum Zahnarzt ging.

Im übrigen habe sie ihm das schon zweimal gesagt, die Handtasche unterm Arm, die Haustür hinter sich zugezogen.

Mit ihrer Abwesenheit erzeugte sie eine Abwesenheitsanwesenheit, in der sie anwesender war, als wenn sie da gewesen wäre.

Sie konnte Hüte tragen, Helen. Wenn sie in der Menge auf dem Bahnsteig verschwand, drehte sich ihr Hut nicht nach Zurückgebliebenen um. Sie war schon fort, wenn sie noch da war.

Am schlimmsten war es, wenn sie nach einer ihrer größeren Abwesenheiten nach Hause kam, oder besser, nach Hause gekommen sein sollte. Wild war pünktlich da, sie noch nicht. Was war jetzt wieder los? Gereizt machte er ihr dann die Tür auf. Sie hatte nur noch eine Besorgung gemacht auf dem Weg; bereits war der Bitterstoff in ihrem Wiedersehen.

Sie musste doch so für sich selbst sein können, wie er das auch für sich verlangte.

Nur, es blieb so etwas wie ein Trauma, dass sie sich in ihren Abwesenheiten ganz auflöste und eine andere würde, in einem anderen Leben. Ohne ihn. Als ob es ihn gar nie gegeben habe.

Sie konnte ja nicht telefonieren, aus Sils Maria nicht und auch nicht in ihrem Tokioter Hotel; sie konnte überhaupt nicht telefonieren. Warum sollte sie ihn anrufen, fragte sie. Es war ja nichts passiert. Also hätte etwas passieren müssen, damit sie angerufen hätte. Aber es war nie etwas passiert.

Nur dass Wild, zu Hause, minutenlang auf den weißen Plastikkörper ihres Telefonapparats schaute, die Knöpfe abzählte und sich fragte, ob es doch, und zwar jetzt gerade, vielleicht klingeln würde.

Wenn es später klingelte, Wild erschrak, war es die Gesellschaft für Marktforschung, die eine Telefonumfrage über die Gewohnheiten der häuslichen Vorratshaltung machte.

Mein Name ist Sonja; ich wollte Sie fragen …

Wild hängte ein, nicht ohne einen Augenblick sich nach einer anwesenden Sonja zu sehnen. Bereits hatte ihm ihre Stimme eine hübsche, eine liebenswerte Frau hingemalt. Er stellte sich vor, wie er sie in ihrer Telefonzentrale aufsuchte, die Reihen der Telefonistinnen abschritt, bei ihr stehen blieb und sie sanft von ihrem Kopfhörer befreite –

Die mildeste Form von Helens Telephobie war später die Altersform. Sie rief an, ganz freiwillig, und erkundigte sich nach einer Kleinigkeit. Wild freute sich. War sie handzahm geworden?

Sofort sagte sie, als hätte sie Wilds Behagen gespürt: Aber warum rufe ich eigentlich an?

Sie schien dabei zu lächeln am andern Ende der Leitung, ratlos zu lächeln, oder auch nur fragend.

Dann sagte Wild, auch er milder geworden in so vielen Jahrzehnten: Weil du mich liebst. Weil ich dir fehle. Weil du mich fragen möchtest, wie es mir geht.

Ja.

Vielleicht war es auch nur: Helen war selbständig, Wild nicht. Au-to-no-mie! In diese Richtung jedenfalls wäre ihre Erklärung gegangen, das wusste Wild. Also fragte er sie gar nicht. War ja seinerseits viel unterwegs, und so wie sie, ohne den andern. Er nannte es seinen Beruf.

In Paris zum Beispiel, jetzt. Freilich ohne Borbakis, den er niemals mitgenommen hätte. Nikos! Stieg versuchsweise dem nach, was für den nur eine Idée fixe gewesen war.

«Fröhliche Weihnachten und Multi Grazie fürs Halstuch», hatte Ernest Hemingway in seinem Hotelzimmer an der Rue Jacob in amerikanisch-italienischem Kauderwelsch geschrieben.

Wild saß an der Place de la Contrescarpe, nach vielen Jahren wieder. Um die Ecke war Hemingways spätere Adresse: Rue Cardinal Lemoine.

Hemingway war damals 22, war verwundet, aber munter aus dem Krieg zurückgekommen und lebte nun zum ersten Mal in Paris. Er war verliebt und schrieb übermütige Briefe nach Amerika.

«Unser Zimmer schaut aus wie eine Distille – Rum, Asti Spumante und Vermouth Cinzano füllen ein ganzes Bord. Ich braue einen Rumpunsch, der Dich umwerfen würde. Das Leben ist spottbillig. Das Hotelzimmer kostet 12 Francs, und der Wechselkurs für den Dollar ist 12.61. Ein Essen für zwei kostet den Mann 12–14 Francs – ungefähr 50 Cents pro Kopf. Wein kostet 60 Centimes. Guter Tischwein. Rum kriege ich für 14 Francs die Flasche. Vive la France.»

Künstlerleben eines Journalisten, der ein Schriftsteller werden wollte. Wie schon so manchem, sollte Paris ihm dabei helfen.

Wild saß vor dem Café Delmas und blätterte in dem Band «Selected Letters», den er am Abend in seinem Antiquariat an der Rue Madame gefunden hatte. Es war noch früh am Morgen, die Sonne schien schräg durch die Rue Lacépède auf den Platz. Es war erst gegen neun, der Tag glänzte, der Asphalt war gefegt, die drei Tischreihen vor dem Café noch leer.

Lediglich im Innern, an einem der Fenster, die bis zum Boden gingen und offen standen, saß eine junge Frau an einem Laptop, die blond melierten Haare hochgesteckt, Mèches. Wild wandte sich wieder dem Platz zu, Contrescarpe. Es war nicht so, dass er nicht sofort den Mangel gespürt hätte. Er saß in der dritten Reihe, der hintersten, mit dem Rücken zum Café.

Der Kellner hatte wortlos das Perrier gebracht, das Wasser im Fläschchen, das er vor ihm geöffnet hatte, ein hohes Glas, ein Schnitz Zitrone, ein langstieliges Löffelchen, Eis im Glas, eine Papierunterlage auf dem Tablett. Das Mineralwasser würde nicht gerade billig sein.

Vive la France! Mit Perrier und ein wenig Hemingway-Feeling. Am unschuldigen Morgen –

Vor Wild lag der kleine, intime Platz. Er kannte ihn seit über fünfzig Jahren. Er hatte sich mit ihm verändert. Einst eine dunkle, schmutzige Insel, Dreck und Armut, war das unregelmäßige Viereck, dem ein Rund eingeschrieben war, ein Treffpunkt des Tourismus geworden. Die kleine Gartenanlage in der Mitte. Wo früher die Clochards auf ihren Fetzen gelegen hatten, standen stadtverschönernd vier großblättrige Judas-Bäume, ein Springbrunnen. Die Anlage umstellt und gesichert mit dicken schwarz lackierten Eisenpfosten, die durch schwere Ketten untereinander verbunden waren. Propere Menschen, keine Clochards mehr.

Drum herum nur noch Restaurants, Bars, Kneipen: Bonjour Vietnam, Pub Le Requin, Häagen-Dazs, Bistro Italien, Les Arts. Eine Boulangerie.

Die Contrescarpe war Teil des neuen Paris geworden, das unter Pompidou und Mitterrand begonnen hatte und das, unmerklich aber für immer, das alte Paris, das Paris der Nachkriegszeit abgelöst hatte. Ein modernes, durchlüftetes Paris, aus dem, wenigstens hier im Zentrum, nicht in den Vorstädten, der Geruch der Armut vertrieben worden war, die Fassaden erneuert, die Dächer leuchtend in ihrem unfassbaren Graublau.

Grünpflanzen, früher hier undenkbar, standen in Kübeln vor dem Café. Verblasste Aufschriften, undeutlich gewordene Reklamebilder an den wenigen nicht erneuerten Hauswänden erinnerten, fast unleserlich geworden, daran, dass es einmal eine andere Zeit gegeben haben musste. Den Vermouth, den sie einst angepriesen hatten, gab es nicht mehr.

Im Rinnstein lief noch immer das Wasser die Straßen hin­unter, von nassen Tuchlappen kanalisiert, lief quirlend und munter, auch wenn es im Straßengraben nicht mehr viel zu putzen und wegzutragen gab. Das Wasser lief und vergurgelte irgendwo in einem Kanal und erinnerte an das Wasser und wie es früher, damals und einst, geflossen war. Und wie es früher gewesen war.

Es war Juli, und Wild hinter seinem Perrier jubelte und beglückwünschte sich. Er war am Leben, er war in Paris. «Vigilance-Propreté» stand auf den Abfallsäcken, die wie Trauerfahnen aus ihren Gestellen hingen, vier Abfallsäcke, vier Bäume, aber Wild war einverstanden, sowohl mit der Wachsamkeit wie der Sauberkeit als auch mit dem Abfall. Er war überhaupt mit allem einverstanden, hier und jetzt, auf der Place de la Contrescarpe. Es gab in der ganzen Stadt im Augenblick nichts, mit dem er nicht einverstanden gewesen wäre.

«This side is the place for a man to live», hatte Hemingway an einen Kriegskameraden von der Piavefront geschrieben. «Hash and I are moving to an apartment at 74 Rue du Cardinal Lemoine. We’ve been having a priceless time and I’ve been working like hell.»

Wild blätterte in seinem Briefband.

«Wir kamen über Spanien und verpassten den großen Sturm um bloß einen Tag. Du müsstest die spanische Küste sehen. Große braune Berge glitten wie müde Dinosaurier ins Meer. Möwen, die hinter dem Schiff flogen, standen so beständig gegen den Wind, dass es aussah, als ob jene Holzvögel, die wir an den Häusern haben, an Drähten höher und tiefer gezogen worden seien. Ein Leuchtturm wie eine kleine Kerze steckte auf der Schulter eines Dinosauriers. Die Küste von Spanien ist lang und braun und sieht sehr alt aus.»

Wunderbar, dachte Wild.

Wild hatte immer nur ungern geschrieben. In seinen Abhandlungen verwandte er deshalb viel Zeit und Raum auf die Tabellen. Tabellen waren wie ein Programm, Häuschen, die man nur noch ausfüllen musste. Hatten alle Häuschen einen Inhalt, war die Arbeit getan.

Wild, dem übrigens die Bezeichnung Völkerkundler lieber gewesen wäre als sein Doktortitel, wusste ohnehin nicht genau, ob es nun wirklich das Interesse am Andern gewesen war, der ihn auf seine Wissenschaft gebracht hatte, oder nicht eher das Ungenügen an den eigenen Verhältnissen, der Familie des Herkommens, den beschränkten Möglichkeiten, die ihm in seiner Stadt zur Verfügung standen. Immer schon hatte er von einer Steppe geträumt, die am Horizont nicht aufhören sollte. Dass es auch darin Menschen geben musste, war ihm eigentlich nicht bewusst gewesen.

Es sollte sein Abenteuer sein, sein Leben.

«Dann kamen wir hoch über die Normandie», hatte Hemingway weiter geschrieben, «durch Dörfer mit dampfenden Misthaufen und langgestreckten Feldern und Wäldern mit den Blättern am Boden und Bäumen, die entlang den Stämmen und weit nach oben abgeästet waren, und gewellt wogendem Land und Türmen hinter der Kuppe. Dunklen Bahnhöfen und Tunnels und Drittklassabteilen, voll mit blutjungen Soldaten, und schließlich alle schlafend in deinem Abteil, der eine gegen den anderen gelehnt und mit den Köpfen wackelnd im schwankenden Zug.»

Vive la France!

Zu Frankreich hatte Wild eine Beziehung, die erinnerte ihn an etwas Früheres. An etwas, was vor seinem eigenen Leben zu liegen schien. In einem alten, lange unbewohnten und vernachlässigten Haus im Burgund war er einmal in eine Vergangenheit zurückgekommen, die er als schon einmal erlebt und doch als vor allem Gewussten und Erinnerbaren liegend empfand. Als wäre er schon einmal da gewesen als ein Anderer und fände sich nun wieder. Und das Haus erkannte er wieder bis in die Details, die heller und dunkler gefärbten grauen Türfüllungen, den hellblauen Wandanstrich mit seinem Ornament, die weißen Türknäufe aus Porzellan. Eine Art Nachhausekommen war das, ohne dass er zuvor da gewesen wäre. Die Zimmer mit den tiefgezogenen Fenstern, die in den ersten Stock hinaufführende Holztreppe mit ihren gebohnerten Stufen und dem schimmernden Handlauf auf Eisenstäben. Und vor dem Haus, drei Sandsteinstufen tiefer, der langgestreckte Garten oder Park. Und das Grundstück, von seinem hohen Eisenzaun umgeben, darin eingeschlossen der dunkle Boden, mit Laub bedeckt vom vergangenen Herbst, aus dem, weiß und unschuldig, die ersten Anemonen hervorgekommen waren. Er war schon einmal hier gewesen, in einem großen Traum, der undeutlich blieb, wie tief bestaubt. Und den er im hellen Licht des Tages gleich wieder vergaß.

Wild schaute auf den Platz hinaus. Die Bahnen von schwarzer Nässe, die ein Reinigungsfahrzeug der Communauté de Paris hinterlassen hatte, das den morgendlichen Platz in konzentrischen Kreisen umrundet hatte, trockneten von den Rändern her auf. Einzelne Pflastersteine standen schon hell und ab­gegrenzt gegen andere, die noch nass waren. Der Boden sah aus wie nie betreten.

Drei junge Mädchen hatten sich vor Wild durch die Reihen der Tische und Stühle gezwängt, drei Amerikanerinnen offenbar, die Haare aufgesteckt, munter, sauber, proper. Auch sie wirkten unberührt von der vergangenen Nacht. Waren wohl Studentinnen. Vielleicht gingen sie in die Alliance Française drüben am Boulevard Raspail.

Wild schaute über die Contrescarpe. Das Wort Platzhalter schien ihm passend für diesen Daseinsaugenblick. Er saß bedeutungsvoll, nämlich als Stellvertreter für Hemingway.

Wo links neben ihm das letzte Tischchen der langen Reihe, der letzte Stuhl standen, ging es um die Ecke in die Rue Cardinal Lemoine. Nur drei Häuser weiter, grad bevor die Straße sich abzusenken begann gegen die Rue Monge, den Boulevard Saint-Germain und die Seine, in der Nummer 74 hatte Hemingway ein paar kurze, pralle, dichte Jahre lang gewohnt, Ernest und die um ein paar Jahre ältere Hadley. «There never was another part of Paris that he loved like that», sagte er später, in «Schnee am Kilimandscharo».

Seine Wort-für-Wort-Prosa, einfach und kräftig wie Bauernbrot: «Nachts mussten wir die Fenster wegen des Regens schließen, und der kalte Wind blies die Blätter von den Bäumen der Place Contrescarpe.» Braucht es auch nur eine Silbe mehr, um die Trauer der Vergänglichkeit auszudrücken?

Wild blätterte. Die Mädchen saßen hinter aufgeschäumtem Kaffee und aßen Brioches, nach dem Cappuccino war nun Caffè macchiato in Mode.

Interessant war, dass in jenem Kilimandscharo Hemingways Held oder vielmehr Unheld an Paris zurückdenkt, im Wundfieber fantasierend und mit tiefstem Bedauern. «Nein, er hatte niemals über Paris geschrieben», heißt es da über Harry, «nicht über das Paris, an dem er hing.»

«Wir hätten in Paris bleiben sollen», erwidert die Memsahib, Harry’s Frau, die keinen Namen hat.

Wie gut konnte Wild das verstehen.

Aber Hemingway hatte sehr wohl über Paris geschrieben. Als er, alt geworden, im November 1956 nach Paris zurückkam, übergab man ihm im Hotel Ritz zwei kleine Schiffskoffer, die er im März 1928 dort deponiert hatte. Hinterlassen – und vergessen. Sie enthielten ein ansehnliches Bündel Manuskripte aus der Pariser Zeit, die Keimzelle zu jenem Buch, das sein letztes sein sollte und eines seiner schönsten werden würde: «Paris, ein Fest fürs Leben».

Die jungen Amerikanerinnen, wehende Strähnen über den Schläfen, waren weitergezogen. Wild sah über den Platz hinweg in seinem Morgenfrieden. Er hätte nur aufstehen und auf der anderen Seite des «Delmas» in die Rue Descartes einbiegen müssen, um schon nach wenigen Schritten vor der Nummer 39 zu stehen, dem Haus, in welchem Hemingway sich damals ein Arbeitszimmer gemietet hatte. Verlaine hatte hier gewohnt. Und jetzt stand Hemingway am Fenster und schaute hinaus auf die Dächer von Paris. Wie fängt man an? Verzweiflung des Beginnens.

«I would stand and look over the roofs of Paris and think, ‹Do not worry. You have always written before and you will write now. All you have to do is write one true sentence.› So finally I would write one true sentence and go on from there.»

Was alles entsteht in solcher Einsamkeit. In den Schachtelzimmern, wie es einer genannt hat, verborgene Zellen im Gewebe der Stadt. Einmannschreibstuben. Alberto Giacometti im Atelier wiederum, drüben in Montparnasse, der am Morgen vor einem Klumpen Ton stand, der am Abend ein Figürchen geworden war, das in einer Streichholzschachtel Platz fand.

Wild selbst hatte einmal ein kleines Buch in einem solchen Zimmerchen, einer Mansarde, vorwärts gebracht und zu Ende geschrieben. Der Winter hatte mit schrägem Wind dünnen Schnee auf die Dächer gelegt, auf die er durch seine Luke hinaussah.

Ein Tisch, ein Stuhl, eine Lampe.

Ein Expansionsgefäß brachte bollernd den lauwarmen Rest der zentralen Hausheizung in die Kammer. Dem Leib konnte man mit einem Pullover helfen, die Füße blieben kalt. Über den Flur gab es eine Toilette mit einem schmalen, halbrunden Lavabo aus Email und einer Kloschüssel, in der das immerfort rinnende Wasser über die Jahrzehnte gelbe Kalkschlieren hinterlassen hatte. Jemand hatte einen riesigen Vorrat an Toilettenpapier auf der Fensterluke deponiert. Das war das einzige Lebenszeichen aus der Welt der anderen, das Wild während der Wochen unter dem Dach bemerkte.

In seiner Kammer beugte er sich über die Blätter. Schrittweise, Wort auf Wort, ging die Arbeit voran. Wenn etwas geschafft war, zog er den Wintermantel über, schloss mit großem Schlüssel die Kammer hinter sich und stieg die Holztreppen das leere Treppenhaus hinunter, an den Stockwerken vorbei, hinter deren mit geätztem Glas versehenen Tür Unbekannte an ihrer Arbeit waren. Die Haustür fiel mit zustimmendem Klatschen hinter ihm ins Schloss.

Er sei nicht alt, hatte die Ärztin eindringlich zu Wild gesagt, als müsste sie ihn gegen eine andere Einsicht überzeugen. Er saß ihr an ihrem Ärzteschreibtisch gegenüber. Das buntfarbige Modell eines Herzens mit seinen verschlungenen Gefäßen stand neben seinem zur Blutdruckmessung aufgelegten Arm. Die eben durchgeführte Untersuchung, das Belastungs-EKG und die Werte seiner Blutanalyse schienen befriedigend.

Einen Blutdruck haben Sie wie ein Konfirmand!

Was ist alt?

Ist alt, wenn man sich am Morgen zerschlagen fühlt und sich daran erinnert, dass man früher einmal, wie lange ist das schon her?, mit Vergnügen aufgestanden ist? Oder auch umgekehrt: damals noch ausschlafen konnte?

Wann wird eben noch zu damals?

Später einmal auf einer Zugfahrt, als Wild lange genug aus dem Fenster gesehen hatte, nahm er einen Zettel und machte eine Liste. Er hatte immer gern Listen gemacht. «Alterszeichen» schrieb er, darunter «Ungefragte Antworten».

«Zum Arzt gehen und sich gegen besseres Wissen darüber freuen, gesundgeschrieben zu sein / Träume vom Zerfall / Sich im Traum nicht an ein Gesicht erinnern können und auch beim Aufwachen nicht dazu fähig sein / Immer müde / Nie mehr nach China wollen (resp. müssen; können schon) / Schlafmittel, Schlaflosigkeit / Desinteresse am Interesse / Schmerzen, wandernd am ganzen Körper, wie Zugvögel, die einen Winterplatz suchen / Briefe werden nicht mehr beantwortet / Freunde verschwinden, ohne zu sterben / Sexträume bei dauerhafter Sexabsenz / Autofahren aufgeben wollen und nicht aufgeben / Keine neuen Leute kennenlernen wollen / Lebens-Bilanzen (solche Listen) / Zunehmend Tote um sich / Eisenbahn: Wechsel in die Erste Klasse / Immer bessere Rotweine / Ärzte nun alle jünger als der Patient / Jüngere Freunde / Hautflecken, Hände und Gesicht; Warzen, Muttermale, Basalzellkarzinome, Plattenepithelkarzinome; Gesäßfalten; Nagelpilz / Die Frage ‹Was ist alt?› / Die Welt vorstellbar ohne mein Ich / Dankbar sein / Ordnung machen ohne Notwendigkeit / Häufiger Gebrauch des Worts «hinterlassen» / Nachts pinkeln müssen / Zärtlichkeit für Tiere / zunehmend Erinnerungen an die Eltern / Waldspaziergänge zunehmend / Angst.»

Wild war zehn Jahre älter, als Hemingway gewesen war, als er sich die Kugel in den Kopf geschossen hatte. Aber Wild wollte nicht aufhören. Es war nicht genug gewesen. Noch nicht, noch lange nicht.

He da, Contrescarpe, mir gehörst du jetzt! Die Bäume reckten die ausladenden Äste über die Sitzbänke.

Warum übernahm er nicht Borbakis’ Idee? Warum sollte nicht er sich für Hemingway interessieren? Warum nicht sich an Joyce erinnern? An Stein und Toklas? An Pound, Ford Madox Ford, an Anderson, Scott Fitzgerald. Und Hadley? Und Zelda? An eine andere Zeit denken?

Älter werden als Chance. Sogar Herausforderung. Wild sah auf die altmodische Normaluhr zu seiner Rechten, es war zwanzig nach zehn.

Als der Garçon vorbeikam, ein junger Typ in Cashmerepulli und Jeans, kein schwarzes Gilet und lange, weiße Schürze, bestellte er ein Bier. Un demi, une bière pression, s’il vous plaît. Vögel bewegten mit ihrem hastigen Hin und Her die violetten Blütenzweige mit den runden Blättern. Judasbaum, jetzt war Wild sicher. War das nun dasselbe wie Jacaranda?

In Zürich, in der «Jägerburg», hatte Wild sich kürzlich mit ­seinem alten Freund Diego getroffen. Wie Ziffel und Kalle in Brechts «Flüchtlingsgesprächen», zumindest kam es Wild so vor, sprachen sie hin und wieder über dies und das, über Beiläufiges und Essenzielles, Bücher, Philosophie, Sterben und Tod, auch darüber. Sie tranken ein paar Biere, während sie über Dinge sprachen, die niemand anderen etwas angingen und über die sie mit niemand anderem sprachen. Sie kannten sich seit Jahrzehnten, und viele Jahrzehnte hatten sie sich, ihre Wege verfolgend, nicht gesehen. Umstände und Alter hatten sie wieder zusammengeführt, älter geworden, nicht alt, beide seit Jahrzehnten mit der gleichen Frau verheiratet, und beide so, dass sie ihr Eigenes behalten hatten. Zum Beispiel an solchen Nachmittagen, beim Cardinal.

Über getrennte Wohnungen sprachen sie, jedenfalls eigene Schlafzimmer.

Muss sein! Da waren sie sich einig.

Zu mehr brauchte es, das gaben sie zu, eine besondere Gelegenheit, eine Alphütte, ein Luxushotel, eine andere Stadt.

Wild hatte Diego von Helen erzählt.

Warum schläfst du denn nicht in meinem Bett, bei mir, habe Helen ihn kürzlich gefragt. Und dazu gesagt: Eines Tages, wenn ich tot bin, wirst du meine Wärme vermissen.

Das habe ihn umgehauen. Ob man so etwas dem anderen überhaupt sagen dürfe?

Am andern Tag habe er Helen gestellt: Das darfst du nicht noch einmal zu mir sagen, habe er gesagt.

Und?

Helen habe nur mit den Schultern gezuckt, ihren immer noch schönen, festen, unter dem dünnen Pullover sommersprossigen Schultern: Das liege allein an ihm.

Als ob er, sagte Wild zu Diego, nicht schon die ganzen langen Jahre über, eigentlich, wenn er’s überlege, von Anfang an, den Augenblick herbeigefürchtet habe, an dem sie sterben könnte. Immer schon habe er vor ihr sterben wollen, und das sei etwas von dem wenigen, was sich nicht verändert habe.

Das war die Konstante, Diego: die Angst, Helen zu verlieren. Um dann mit der Schuld, oder wenn du willst: der Gewissheit zurückzubleiben, sie nicht genügend geliebt zu haben. Mit anderen Worten, sie immer nur enttäuscht zu haben. Als sei von ihm irgendwie zu wenig für sie da gewesen.

Das habe auch angehalten in den Zeiten, in denen sie getrennt waren, vielleicht am meisten in diesen.

Diego hatte genickt.

Ja, hatte er gesagt. Mir geht es nicht viel anders. Ich meine, was das Gefühl betrifft, ihr nicht gerecht geworden zu sein.

Hör bloß auf, sagte er, auch ich habe da viel zu büßen.

Sie. Die Eine, die einem anvertraut gewesen war, dachte Wild. Er dachte das merkwürdigerweise im Plusquamperfekt. Vielleicht meinte er einen Konjunktiv: anvertraut gewesen wäre. Und das «wäre» würde heißen: Lebensgeschenk nicht eingelöst, Chance vertan. Vertan ist mehr als verpasst, er könnte auch sagen verschleudert, veruntreut, verraten.

Nicht genügend lieben zu können, das fürchtete er doch schon, bevor er sich verliebte. Jedes Mal. Einmal nicht. Als er dann Helen kennenlernte. Was heißt kennenlernen?

Das gehörte zu der damaligen Verliebtheit, die er Liebe nennen durfte, dass er ihr zu genügen glaubte. Er hatte noch nie diese Sicherheit gehabt, dass es nun endlich, und für alle Zeiten, diese war.

Daran hielt er fest, als es schlecht ging, und davon ist er noch heute überzeugt.

Das heißt leider nicht, dass Wild das damals, dass er es überhaupt rechtzeitig begriffen hätte. Die drei großen G, die Ganz Großen Gefühle, schwanden auch wieder. Nicht, dass es verloren gegangen wäre. Aber es verbarg sich hinter so etwas wie zum Beispiel ihren zunehmenden Uneinigkeiten.

Beide hatten vor ihrer Beziehung selbständig gelebt. Keiner von beiden wollte von den Gewohnheiten etwas abgeben, jedenfalls nicht er, Wild.

Er war stolz auf sie und sagte es Helen. Das wollte sie nicht hören. Mit seinem Stolz konnte sie nichts anfangen. Was wollte sie denn? Ihn. Mit Haut und Haar?

Er konnte sich nicht bedingungslos einlassen auf sie. Das verdichtete sich später bei ihr in einen einzigen kurzen Satz: Du bist nicht bei mir! Und in dessen Variationen: Du bist nicht da, wenn du bei mir bist.

Er war also Helens Liebe nicht gewachsen, er hatte selbst nicht so viel davon, das wars.

Mit Diego besprach er solche Dinge, in der «Jägerburg», übrigens nur mit Diego.

So etwas führte sie immer gleich wieder zu Beckett.

Wild: Wo genau, Diego, steht bei Beckett dieser Satz: «Rittlings über dem Grab werden wir geboren, der Tag erglänzt ei­nen Augenblick …»?

Wollte Wild damit sagen, angesichts der Kürze und der Einmaligkeit des Lebens könne man sich eine solche Liebesverschwendung gar nicht leisten?

Diego, der den halben Eichendorff auswendig konnte, der der letzte war, der noch Hofmannsthal las, sonst nur bei Lacan zu Hause war und weiter oben in der Philosophie, wo Wild nicht mehr hinaufsah, Diego zitierte ohne weiteres: «Le jour brille un instant, puis c’est la nuit à nouveau.»

Trümmer, sagte Diego, es gibt nur Trümmer.

Er zitierte. «Stechpalmenbeerenpflücken, sagte sie. Die roten. Sei wieder auf dem Hügel, an einem Sonntagmorgen, im Nebel, mit der Hündin, bleib stehen und lausche den Glocken.»

Sei wieder auf dem Hügel, an einem Sonntagmorgen, im Nebel, wiederholte Wild, leise.

Zeit verging. Die Serviertochter hinter dem Tresen las in einer Zeitung.

Merkwürdig, sagte Diego. In der Trauer über den Verlust der geliebten Frau kann der Freund dem anderen Freund nicht helfen. Nur eine andere Frau.

Wild dachte darüber nach, und nickte.

Bemerkenswert, sagte Diego, und zugleich schwer zu verstehen.

Das Bier schmeckte frisch und kräftig in der «Jägerburg». Es wurde hier noch in den alten hohen Gläsern serviert.

Und die Angst vor dem Verlust verliert sich im Alter nicht, sagte Wild.

Vielleicht ist der Tod ein fassbarerer Verlust als das Weggehen, sagte Wild. Helens Weggehen hat mich immer tief verletzt. Na ja, sie konnte jederzeit so weggehen, dass es ungewiss war, ob sie je wieder zurückkommen würde.

Ich weiß das noch gut, wie das früher gewesen ist. Ich wartete auf sie, zu Hause, und wenn sie auch nur eine Stunde später kam als angekündigt, war ich schon völlig aus dem Häuschen, sauer nach der ersten Stunde, verzweifelt bald darauf.

Sie konnte Abwendung, darauf verstand sie sich; ich war einer, der Abwendung nicht ertrug, warum auch immer, die Psychologie dahinter interessiert mich nicht besonders.

Und ich glaube, das verliert sich nicht mit dem Abflauen einer Beziehung, fuhr er fort, der Beruhigung der Liebe auf eine flachere Sinuskurve mit der Gewöhnung, die eigentlich ein Geschenk sein könnte. Mit dem sogenannten Alltag. Im Gegenteil. Die Angst bleibt, vordergründig oder untergründiger.

Ja, sagte Diego. Sie schwiegen. Er war vielleicht bei seiner eigenen Geschichte. Ihre Geschichten verglichen sie mitunter, und beruhigten sich damit.

Und hat sie dich tatsächlich schon einmal verlassen, sagte Wild, dann trägst du die Erinnerung daran wie eine ruhende Infektion in dir, die jederzeit wieder ausbrechen kann.

Ich träume viel davon, wie sie mich abweist, mich stehen lässt, mir die kalte Schulter weist. Diese Träume verfolgen mich seit Jahrzehnten, und ich hatte sie wohl schon vor unserer langen Trennung. Die demonstrative Gleichgültigkeit, die sie so deutlich zeigt und gegen die ich in diesen Träumen vollständig wehrlos bin, das ist für mich das Schlimmste. Also nicht nur ihre Abwendung, sondern meine vollständige Wehrlosigkeit dabei. Ich bin dann nur Schmerz.

Samuel Beckett, dachte Wild, immer noch auf der Contrescarpe. Zwei Kinder waren auf Dreirädern mehrmals um das Rondell gekurvt, und er hatte ihnen dabei zugeschaut. Wären nicht möglich gewesen, damals, vor zwanzig, dreißig Jahren, diese Kinder.

Beckett, auch der hätte in Borbakis’ Inventar gehört. Beckett allerdings zehn Jahre später in Paris angekommen als jene Phalanx der Amerikaner. Hemingway hätte ihm noch begegnen können. Zwei Schriftsteller, die nichts miteinander zu tun haben, aber im Kopf eines Lesers dürfen sie zusammenkommen.

Borbakis hätte Netze darstellen können, literarisches Spinn­web, von dem das eine das andere durchwob. Fäden, die sich kreuzten, überschnitten, ergänzten, Muster bildeten. Ein unerhörter Reichtum.

Aber Borbakis war ein Schwätzer. Und Wild auf diesem Gebiet nicht einmal ein Amateur. An den «Selected Letters» hatte ihm das Buch gefallen, das Objekt, das er in Händen hielt, und die Beziehung zu Paris.

Warum Selected? Offenbar war auch diese Briefedition unvollständig. Wie alle Dinge, die man sammelt, dachte Wild: Trümmer, Stückwerk, Fetzen, Impromptus, Fragmente. Wie die Erinnerung. Diese Erfindung, die man Erinnerung nennt.

Wollte nun doch bald aufbrechen, Wild. Oder kam noch etwas?

Helen regte das auf, machte sie wütend: Sie saßen irgendwo in Gesellschaft, und Wild, der genug hatte, sagte zu ihr: Wollen wir gehen?

Gleich stand Helen in Hut und Mantel bereit. Aber da hatte Wild schon ein neues Gespräch angefangen.

Nur einen Augenblick, sagte er zu Helen, du wirst doch noch einen Augenblick warten können –

Erinnerung. Das Aufgeschriebene ist nie mehr das, was es noch im Augenblick davor gewesen ist: Das Züngeln einer lebendigen Flamme, und in der ganzen Geschichte des Universums hat eine Flamme nur ein einziges Mal so gezüngelt.

Wie die Zeilen sich aufs Papier niederlegen, enteilt am ­selben Faden der Augenblick. Aporie des Aufschreibens, Packen; und Verloren gehen. Der Fisch in der Hand zappelt einen Augenblick, du glaubst schon, ihn zu haben, und weg ist er.

«Als wäre jeder Tag ein eigenes kleines Dasein», so hat es ein anderer Amerikaner gesagt.

Man kann versuchen, die Zeit in kleine Zimmer zu sperren. Man wacht auf am Morgen, geht hinaus auf die Straße. Am Abend ist wieder ein Zimmer voll. Und dann?

Zimmer an Zimmer, jedes nur einen Tag bewohnt? Der Summe entrinnst du nicht, Wild, wenn du dich umdrehst und auf dein Hotel Leben zurückblickst … Die Summe heißt: Es ist jetzt so. So und nicht anders. So geworden, und bleibt so.

In dem Alter war er, Wild, dem Alter der Endgültigkeiten. Und einen Schritt weiter …

Wie ist tot sein?, hatte der Vater in seinen letzten Notizen gefragt. Und sich dann diese Antwort gegeben: Bald werde ich es wissen.

Hemingway. Hier um die Ecke, 22 Jahre alt, und in den Startlöchern. Hisste die Segel, ging in Boxerstellung, wollte Flagge zeigen. «Written a chunk of a novel», schrieb er, etwas unvorsichtig, wenn er denn wirklich erst «den Fetzen eines Romans» hatte, an einen Kumpel von der Piavefront.

Vierzig Jahre später, am Ende seines Schriftstellerlebens dann das Buch, das Wild über alles liebte, das Buch, mit dem der Sterbende hierher zurückkam, an die Lemoine, die Place de la Contrascarpe, das Paris seiner Jugend.

«Then there was the bad weather», so fing es an, Wild wusste das auswendig, konnte auch die nächsten paar Zeilen dieses wunderbaren Prosagedichts hersagen: «It would come in one day when the fall was over. You would have to shut the windows in the night against the rain and the cold wind would strip the leaves from the trees in the Place Contrescarpe. The leaves lay sodden in the rain and the wind drove the rain against the big green autobus at the terminal and the Café des Amateurs was crowded and the windows misted over from the heat and the smoke inside.»

«A Moveable Feast», glücklich übersetzt mit dem deutschen «Paris, ein Fest fürs Leben», das war eines der Bücher, die Wild immer wieder hätte lesen wollen. Der Aufbruch dar­in, die Heiterkeit; Kraft, Saft, der Hunger nach Leben. Dem Atem jedes neuen Morgens, die Durchsichtigkeit der Luft, das Blau über der weißlichen, mit ihren Dächern taubengrau abschließenden Straßenschlucht.

Was für ein Wunder, oder Geschenk, diese Geschichte der Wiederentdeckung der alten Manuskripte in einem Koffer, den Hemingway jahrzehntelang im Ritz hatte stehen lassen, und dieses Aufbäumen noch des gemütskranken alten Mannes, der das Buch noch so weit brachte, dass es nach seinem Tod, 1964, veröffentlicht werden konnte.

Die jungen Amerikanerinnen waren damals noch ein gutes Vierteljahrhundert von ihrer Geburt entfernt, so lange war das nun schon her. Das ganze Quartier war anders gewesen, eine Gegend für Clochards, ärmliche Leute und ein paar Künstler, die in den Gassen um die Contrescarpe in billigen Hotels und Zimmern hausten. Bohème, das Wort damals noch nicht abgegriffen und verzuckert, Bohème, das sich wie Armut aussprach und anfühlte, selbstgewählte, einem Ziel, einer Sendung dienend, die vielleicht den Künstlern selbst nicht deutlich vor Augen stand. Die Clochards tranken Algerier aus Literflaschen, die neben ihnen auf den Belüftungsgittern der Metro standen, auf denen sie ihre Tücher und Lumpen, dicke Mäntel, Foulards, allerhand Kram ausgebreitet hatten. Die Künstler tranken den günstigen Pinard, den schon Hemingway gerühmt hatte.

Und Wild wollte ihn wieder haben, wieder und wieder haben, den Anblick des Wassergesprudels, der hüpfenden Rinnsale, die die städtischen Angestellten jeden Morgen aus den im Boden versenkten Hydranten rauschen ließen, indem sie mit einem langen T-Eisen den Hahn im Boden aufdrehten und den Bach, mit Lumpen gelenkt und kanalisiert, durch die abschüssigen Straßen der Stadt plätschern ließen, wie zum Vergnügen und ohne dass man irgendwelchen Abfall auf dem Gequirl treiben sah, stundenlang, und manchmal lief das Wasser immer noch, wenn man am Nachmittag wieder vorbei kam.

Hemingway als sein Medium, sein Parisführer und Animator, warum nicht? Er wollte nun wirklich von seinem Stuhl aufstehen vor dem Café Delmas, wollte die Mouffetard unter die Füße nehmen, ihre Straße der Vergangenheit, den steilen Straßenschlauch hinunter, die Schicksalshalde.

Wild, im Berner Inselspital geboren, in der Elfenau in die Schule gegangen; Wild, als «Wild Bill Wild» Trompeter, später auch Flügelhorn bei den Marzili Ramblers, Wild, mit den zeitgerechten Bauhaus-Stirnfransen, eingeschlossen in diesem Bern und wie untergetaucht. Er hatte als Kind einen Kunststofftaucher an Schläuchen besessen, einer seiner gehüteten Schätze, den er an seinen dünnen Plastikröhrchen zu den Goldfischen im Aquarium hinab gelassen hatte, worauf von dort unten Bläschen aufstiegen. Von daher vielleicht seine lebenslange Erstickungsangst. Wild, angepflockt an einem Fluss, der diesen Namen nicht verdiente, da er nicht schiffbar war, die föhnvergrößerte Alpenkette auf der einen, den Faltenjura auf der andern Seite, hatte sich in Bern immer nur gefangen, mit tausend Fäden gefesselt gefühlt.

Sein bester Freund, Bert, war einmal durch die Burgunderpforte und Richtung Rhone abwärts entflohen; Wild konnte nicht mit, Schule. Das war in den Zeiten des «Big Butter and Egg Man» und von Sidney Bechets «Les Oignons». Berts Ziel war die Camargue, Flamingos und wilde Pferde, Tümpel, sogenannte Etangs, struppiges Gras, in dem Sumpfdurcheinander Gebüsch wie bei Werner Bischof, auch Bert wurde Fotograf, und die schwarz-weißen Fotos von Bischof, waren Maßstab geworden oder Ausgangspunkt für alles, was kommen sollte.

Bert reiste per Autostopp, einmal eine Strecke mit einem Fahrrad, das er unterwegs aufgegabelt hatte, wie er krakelig auf einer schwarz-weißen Ansichtskarte aus Marseille, Le Vieux Port, schrieb. Er hatte es geschafft, Bert. Er war in Saintes-Maries gewesen, er hatte Sumpfgrasbüschel im Gegenlicht fotografiert und die ersten Gauloises geraucht, hatte tausend Mücken totgeschlagen, die ihn in seinem Zelt auffressen wollten, und außerdem mit einem Vaquero Wildpferde gehütet. Wild, eingesperrt in der nachmittäglichen Geologiestunde, sah Bert, wie er dort unten in Frankreich stand, die Rolleiflex in der Hand, und wie er die gelbe Zunge des 6x6-Rollfilms sorgfältig in die Transportspule einfädelte.

Es gab im ganzen Land keinen meerferneren Ort als Bern, eine Stadt, die gleichsam die Negation von Ozean war, ein Steindampfer aus Steinhäusern, für alle Zeiten auf seinem Festlandsockel aufgelaufen und festgefahren. Als Wild auf dem Rhein später einen Lastkahn sah, der mit viel Wassergewirbel am Heck langsam flussaufwärts tackerte, und er den Namen am Bug ausmachte, «Bern», glaubte er an ein Versehen.

Das Meer. Als Wild im empfänglichsten Alter war, ein Kind, das sich nicht mehr als Kind fühlte, war Charles Trenets «La Mer» oft aus dem Lautsprecher des Grammophonmöbels gekommen und hatte ihn mit dem Geruch des Wortes «azur», einer Ahnung von «bleu marin» und der Silbenfolge «limpide» bis ins Gymnasiastenmark imprägniert. Dann kamen – Lektüre – Wörter wie «Brise», «Schaluppe», «Segel», «Leine», «Kliff», «Aquamarin», «Schaumkrone», «Brecher». Bei Charles Trenet wiederum der Begriff «le large» für das Riesenwasser, das sich vor deinem Auge dort draußen auf dem offenen Meer erstreckt.

Dann «Käpt’n Bontekoes Schiffsjungen», die Schiffsjungen, die nach dem Brand des Seglers «Nieuw-Hoorn», der sie hätte nach Java bringen sollen, auf Sumatra stranden und sich dort durch den Dschungel nach Bantam durchschlagen. Java-Sumatra-Bantam, und der Name der Schiffsgesellschaft, die Niederländische-Ostindien-Kompanie.

Dann genügte die Wortfolge «Hamburg-Amerika-Linie», und Wild sah Gischt und Nordsturm und schwere Taue im Kampf gegen die Wogen, schräge Riesenkamine, wie davon vier auf der «Titanic» standen.

War Wild zur Landratte verdammt? Hatte sich niemals eingeschifft. Ein Leben als Landratte; eine Süßwasserbiografie anstatt eines Abenteurerlebens. Niemals Malaria, kein Gelbfieber, niemals Kurs auf eine unbekannte Insel genommen. Nie war Wild eine Gangway am Schiffsrumpf steil in die Höhe gestapft, um an der Einstiegsluke sein Ticket abzugeben und in ein Inneres eingelassen zu werden, den Eisenkerl, der ihn in eine andere Welt führen würde.

Einmal fuhr Wild vom Peloponnes nach Athen, also nach Piräus. Konnte das ein Einschiffen genannt werden, dort in Neapolis, wo Wild an Bord ging?

Er verließ am frühesten Morgen, hatte kaum geschlafen, das bienenschwirrende Land, dem Ufersaum zu abwärts durch die kargen Hänge, auf denen alte Olivenbäume ihre schütteren Äste reckten, als würden sie um Wasser flehen, die Füße wie Märtyrer auf dem glühenden Boden, nackte Erde, kalkplattenübersät, mit Eidechsen und Schlangen wohl auch. Er ging über den Pier, eine Tasche über der Schulter, und über eine einfache Brücke geradewegs an Bord des eisernen Kahns, der bewegungslos auf seinem eingedickten Hafenwasser lag, ein Omnibus. Er ging einfach so an Bord, hereinspaziert, aufs Zwischendeck. Das war keine Gangway, das konnte man so nicht nennen.

Als das Schiff die weite, flache Bucht von Neapolis verlassen hatte, der nun dunkel und grün erscheinende Ufersaum zurückblieb, die aufragenden Kerzen der Zypressen, die Gärten, die sich bis an die Wasserlinie lagerten, als der Dampfer nun Abstand gewann und das Land langsam zurückblieb, viel langsamer als Wild sich das vorgestellt hatte, besah er Himmel und Meer, als müsste nun etwas geschehen. Aber er spürte keine besondere Bewegung. Er suchte sich zwischen einer Taurolle und einem Lüftungsturm einen Platz auf Deck.

Ganz vorn im Schiff, tief unter dem Bug, befand sich eine enge Bar oder Buvette, die, als Wild sie betrat, schon voll war von Männern, die offenbar an einer früheren Anlegestelle an Bord gekommen waren. Manche hockten einfach da, einige tranken Bier und Ouzo, Gewohnheitspassagiere, die hier ihre sechzehn Stunden Fahrzeit absaßen, Leute vom Peloponnes, die in Athen ihren Geschäften nachgingen oder in der Hauptstadt auch nur einkaufen wollten. Wild fühlte sich als Fremdkörper unter den Männern in dem engen Verschlag aus Stahl, unter den Lampen, die nur ein undeutliches Licht hergaben.

An Deck wurde das Vergnügen an dieser Seefahrt auch nicht größer. Als die Nacht hereingebrochen war und sich Wild daran machte, an seine Taurolle lehnend die Sterne des Himmels zu betrachten, eine Übung, die er auf einer solchen Fahrt als unerlässlich betrachtete, obwohl er die Sterne nicht kannte, ein paar wenige, den Großen Bären, den Orion und ein Vieleck, das wie ein Papierdrachen aussah. Er konnte sich an die Milchstraße halten, die wie ein erleuchteter Karrenweg über den Himmel verlief. Fahrtwind wehte ineins mit Dieselschwaden über das Oberdeck. Wild ging noch einmal zum Bug und stieg in das Eisenfach der Pinte hinunter, machte aber auf der Schwelle kehrt, als er die Männer so laut sah. Einheimische, da hatte er kein Zutrittsrecht.

Die Nacht unter dem Himmel war lang und unbequem. Das Liegen tat weh, Wild fror. So, wie man auf dem Festland nicht frieren kann. Beim ersten Schimmer des Morgengrauens war er auf den Beinen, unausgeschlafen, als er im schwachen Licht, das zwischen Meer und Himmel kaum einen Unterschied ausmachte, ein paar Delfine sah, das heißt mehr ahnte als sah, ihre flachen, pfeilschnellen Flitzer knapp über den Wasserspiegel erhaschte, bevor die Tiere sofort wieder in den tieferen Schichten des Wassers verschwanden; einem Raum, den Wild sich nicht vorstellen konnte oben an seiner Reling, auf diesem Bügeleisen aus Stahl, das die Wasseroberfläche nur auf der dünnen Schicht zu befahren schien, dem Wassertuch über den Tiefen, von denen einer wie Wild nichts wissen konnte. Am Heck zog das Schiff eine Schleppe hinter sich her, auf die ein paar Vögel, wohl Möwen, hie und da niederstießen. Das alles hatte er in den Büchern gelesen, nur viel banaler. Einmal hatte er es nun doch geschafft.

Aber Cook und die Sandwich-Inseln und Gauguin und Tahiti; die «Kon Tiki», Thor Heyerdahl, den Pazifik und die Schwarz-Weiß-Fotos der haushohen Wellen, über die das Balsafloß schieferte hinab in die Wellentäler, jählings hochgehoben vom nächsten Wellenkamm: Das alles gab es nur in den Büchern.

Joseph Conrad, zu seinem Glück und Vorteil las er ihn nicht zu früh. Als er bereit war für Ausfahrt, Flaute, Sturm und Untergang als Gleichnis des Lebens, doch auch für das Versprechen der Ankunft. Das Schiff nicht nur das Zeichen des Aufbruchs, des Raums, das es vor sich hat und erobert, sondern immer auch des Ankommens. Ankunft. Ufer. Der Pier, man legt nicht nur von ihm ab, man kommt an einem Pier an, an einem anderen, Zweck der Reise.

Niemand hatte das so zu sagen gewusst wie Conrad, und auch Joseph Conrad schaute schon zurück, als er zu schreiben begann, immer schon zurück, nicht nur auf seine Fahrten und seine See. Er kannte die Bitterkeit einer Ankunft an einem Ort, der nicht mehr der ist, der er einmal gewesen ist. Den scharfen Schmerz des Zu spät, das die des Nachkommen prägt, und sind wir nicht alle zu Nachkommen geworden? Sind wir nicht alle nur noch Spätere?

Mon Dieu, dachte Wild, das wäre noch mal eine andere Bibliothek als die Borbakis’sche: meine Schiffe und ihre Gewässer, Darwins «Endeavour», und Melvilles «Quequod», Conrads «Narcissus», die real existierende «Normandie» und all die Modelle von ihr bis zu Catherine Anne Porters «Ship of Fools», das keinen Namen hat; die schreckliche «Tirpitz» und das Balsafloß «Kon Tiki». Fellinis «Rex» und sein Dampfer in «E la nave va» – wie heißt er denn?

Die Schweizer im Anhang, «Rapperswil» und «Stadt Zürich»; die Blüte des vierwaldstättischen Dampferwesens, «Wilhelm Tell», «Gallia», «Rütli», «Winkelried» und «Stadt Luzern», wenn denn Süßwasserkähne überhaupt erlaubt wären, als Minima Helvetica wenigstens und wegen ihrer Bordrestaurants und Salons. Die «Medusa» samt ihrem Floß, ein Segelschiff, das scheiterte und sein Rettungsboot, das der Toten und gleichzeitig das der 68 Überlebenden, die an die afrikanische Küste kamen. Die «Argos», Medusas Vorläufer, die «Flying Dutchman», und die Gewinner, «Santa Maria» und die «Nieuw Hoorn». Mit einem Sonderdossier über die Arche, na klar, die namenlose Arche.

Die «Biblioteca Theodoriana», vielleicht auch einfach die «Neptuniana» genannt, der Eingang von einem Meeresanrainer, dem Barcelonesen Calatrava gestaltet, als Dampfer-Bug aus Metall und Glas. In ihrem Lesesaal mit der Aufsichtskanzel als Kommandobrücke – an der Wand als Großgemälde und Zentralmetapher Fellinis Filmbild von der vorüberziehenden «Rex», dem Dampfer und den Menschen in den Booten, die zu ihm hin­überwinken –, im Lesesaal würden die Bücher aufliegen, eine nautisch-mariniere Präsenzbibliothek, Auswahlprinzip Wilds Wünsche. «Moby Dick» selbstverständlich, in allen erreichbaren europäischen Ausgaben, auf dem Index aber alle amerikanischen, da die Amerikaner nicht fähig gewesen waren, das Buch bei seinem Erscheinen auch nur im Entferntesten zu würdigen, obwohl es doch die große Meeres-Saga einer nur bedingt seetüchtigen Nation darstellte. Alles von Joseph Conrad, Mirakuli wie Michael Ondaatjes «Katzentisch», und selbstverständlich auch Corréards und Savignys Bericht über Untergang der französischen Fregatte «Méduse» und das Schicksal ihres Floßes.

Schön das, dachte Wild, gut, dass er sein Perrier immer noch nicht bezahlt hatte. Hier, in diesem Lesesaal, in diesem dem großen Salon der «Normandie» nachgebildeten Art-Déco-Lesesaal würden einige der Werke geschrieben werden, die bis heute zu fehlen scheinen:

«Es wird Nacht in den Tropen. Kulturgeschichte eines Mythos.»

«Ablegen. Eine Phänomenologie des Abschiednehmens.»

«Die Ufer bei Joseph Conrad: Das Meer und seine hängenden Gärten & Promenaden.»

«Titanikisch Untergehen. Die Katastrophe als Sehnsucht und Sehnsuchtserfüllung.»

Es reicht wieder mal, Wild! Wild hatte Helens Stimme sofort im Ohr. Ihm wäre allerdings noch einiges in den Sinn gekommen.

In der Mitte dieses Lesesaals, erhöht und in einem Glaskasten, stünde das Boot der letzten Überfahrt. Jedenfalls nannte Wild es so.

Wild hatte es am Tag zuvor hier in Paris gesehen. Es stand in einer Vitrine in dem neuen, von Jean Nouvel direkt an die Seine gebauten Quai Branly, stand also an einem Weg zum Meer, stand in der Ozeanienabteilung des Musée des arts et civilisations d’Afrique, d’Asie, d’Océanie et des Amériques, einer hinreißenden Sammlung, die Wild jedem empfahl, von dem er hörte, er reise demnächst nach Paris.

Obwohl ich Anthropologe bin und ihr mir gerade deswegen misstrauen werdet – geht an den Quai Branly, um Gottes willen.

Das Boot war aus einem einzigen Baumstamm gehauen und an die zwei Meter lang. Die geschwungene Form des Nachens glich einem schmalen Halbmond, der auf dem Rücken lag, so wie bekanntlich in den Tropen auch die Sichel des Mondes als Barke über den Nachthimmel gleitet. In der Mitte des Bootskörpers war eine rechteckige Öffnung ausgespart; in dieser lag ein bleckender Schädel, die Augenhöhlen zum Bug hin gerichtet.

Südsee.

Der Nachen hatte der Überfahrt von diesem Leben in ein anderes gedient. Dieses Leben war nur ein vorübergehendes, auf der andern Seite der See aber warteten die Geister der Ahnen, die, wie diese Seele hier, unsterblich waren. Die Insulaner gaben der Barke mit der Asche des Verstorbenen einen Stoß. Sie trieb aufs Meer hinaus und verschwand, entkam für immer, denn sie fuhr mit ihrem Passagier in eine andere Zeit, in einen andern Raum.

Wild war sitzen geblieben. Es spürte die Eile nicht, die ihn sonst immer weitertrieb, mahnte, obwohl er keine Eile hatte. Das Perrier war ausgetrunken. Sollte er sich, an diesem historischen Ort der Trinker und Chômeurs, nicht ein Glas Weißwein bestellen?

Der Kellner stand mit dem Rücken zu ihm. Als er sich umdrehte, übersah er Wilds erhobene Hand. Dann drehte er sich wieder weg. Wild, ein Gaststättenduckmäuser, wagte nicht, zu rufen.

Monsieur!, das hätte genügt. Aber sein «Monsieur» hätte keine Ausrufezeichen gehabt. Er hätte das gar nicht fertig gebracht, diesen einfachen Ton, der einen französischen Kellner in Bewegung setzt.

Garçon, konnte der Franzmann neben ihm sagen, halblaut bloß, und sofort rief der weit entfernt einen Tisch wischende Kellner: J’arrive!, Monsieur. Wilds «Monsieur?» tönte wohl so ähnlich wie «Lieber Herr Kellner, würde es Ihnen wohl etwas ausmachen, einen Augenblick zu mir herüber zu kommen; ich möchte bloß zahlen, Sie müssen mir nicht noch einmal etwas bringen, bitte sehr, bitte die Störung zu entschuldigen, gewiss haben Sie, und grad in diesem Augenblick, Wichtigeres zu schaffen …»

Die Contrescarpe lag nun im vollen Licht des Juni. Ohne dass Wild weiter etwas gesagt hätte, kam der Kellner an seinen Tisch.

L’addition, Monsieur?

Es ging gegen Elf. Alle Dunkelheit von damals vertrieben, ausgelüftet, verweht. Der Wohlstand, also Geld. Das neue Europa.

Wild bestellte nun doch noch ein Glas Weißwein.

Paris war eine dunklere Stadt gewesen, nicht nur nachts, als es noch finstere Gegenden gab hier, im historischen Zentrum. Es schien auch tagsüber grau zu bleiben. Grau, wo es heute weiß war. Geweißelt.

Ende der Fünfzigerjahre. Nicht viel mehr als zehn Jahre war es her, dass die Deutschen, die Besatzer, die durch die Stadt dröhnende, marschierende, lungernde Wehrmacht abgezogen war. Die Fotos von damals zeigten einen Schmerz im Gewebe der Stadt.

Damals schon, als er zum ersten Mal nach Paris gekommen war, war es für Wild unvorstellbar gewesen, dass sie es überhaupt gewagt hatten, die Hauptstadt der Franzosen, die Ville Lumière, zu besetzen. Einen Ort, von dem sie in ihren ernsten Städten nirgendwo auch nur einen Abglanz hatten.

Keinen blassen Schimmer von Charme und Eleganz des Art Déco mit seinen femininen Rundungen, die Deutschen, die mit ihrem Bauhaus die Welt über Schnittkanten definierten und, viel schlimmer, das alte Rom vor Augen, mit dem hitlerischen Nürnberg ihre morose Weltanschauung, ein Wort, das im Französischen bezeichnenderweise nur als «la weltanschauung» existiert, in Sandstein umgesetzt hatten. Oder hatten umsetzen lassen.

Was war das bloß für ein Spuk gewesen, diese Soldaten und Offiziere in Paris, die Wehrmacht samt Gestapo, mit ihrer eng uniformierten, wassergescheitelten, stiefelbewehrten, waffenknarrenden Soldateska?

Bert hatte die Zeit genutzt, um weitere Reisen zu unternehmen. Auch für Bert war die Aare nicht Fluss genug.

Von Basel war er auf dem Rhein mit einem Lastkahn bis Antwerpen gefahren. Wild bekam eine Ansichtskarte des Hafens, die mit einer mäandernden Tintenkrakelei übermalt war.

Bert war Gestalter, Wild eher der Intellektuelle. In den Museen, den Ausstellungen lernte er viel von Bert, vor allem das Sehen. Bert profitierte allenfalls ein wenig von Wilds wachsendem Hintergrundwissen. Als eine einzige Person wären sie vollständig gewesen. Als zwei Freunde teilten sie jede freie Minute.

Bert war einer von vielen jungen Künstlern und Gestaltern, einer jener Fotografen und Grafiker, die Anfang der Sechzigerjahre nach Paris kamen. Bert arbeitete in einer Grafikbude als Sachfotograf, in Montmartre, in der Nähe von Pigalle, Orwell Publicité.

Bert, der große Einzelgänger, hatte nun eine Freundin, Helen. Wild war neugierig.

Aber Bert zeigte Helen nicht vor. Es schien immer einen Grund zu geben oder einen Vorwand, weswegen Helen nicht verfügbar war. Sie war gerade in Deutschland, oder sie arbeitete.

Als Wild nicht nachgab, fuhren sie mit Berts blauem Deux Chevaux an die Rue Eugène Carrière, um sie abzuholen und mit ihr in ein Bistro zu gehen. Berts Bruder hatte ihm das Auto überlassen.

Helen war noch nicht fertig, als sie die Treppen heraufgekommen waren. Sie hatte sich die Haare gewaschen und saß nun, um sie zu trocknen, auf dem Boden, mit dem Rücken zu einem Heizungskörper, ein blaues Tuch wie einen Turban um den Kopf.

Paris war damals voll von Schweizern, Deutschen, Amerikanern, die in den grafischen Berufen, in Werbeagenturen und bei den Zeitschriften arbeiteten. Paris war die Hauptstadt der Kunst. Und die Ausländer beherrschten die Szene der angewandten Künste.

Wild hatte einige von ihnen zusammen mit Bert in der Brasserie Coupole oben am Boulevard Montparnasse kennengelernt. Die Schweizer hatten die Geldscheine locker in der Tasche, die knisternden riesigen Francs-Noten. Bert zog sie lässig aus der Brusttasche seiner Jacke.

So war auch Helen nach Paris gekommen, mit einer Mappe mit Zeichnungen aus ihrer Kunstschule in Wuppertal auf der Suche nach Arbeit. Eine zarte deutsche Blondine, eher klein; die hohen Absätze ihrer ausgesuchten Stöckelschuhe machten sie nicht viel größer. Sie war verletzlich, fraulich und schön, mit einem Augenaufschlag, der ihre blau getönten Lider wie zwei Markisen langsam über den strahlend grünen Augen hochgehen ließ.

Ein Kriegskind ehedem. Im Nachkriegsdeutschland, aus dem sie kam, hatte sie wohl ihren Willen erworben; sie war aus dem Geschlecht derer, die niemals aufgeben. Zäh, mit einem jederzeit aktivierbaren Potenzial an Verzicht. Es ging bei ihr immer auch ohne, wenn es sein musste; ohne Geld und, wenn es sein musste, ohne den Andern.

Der väterliche Teil ihrer Familie war eine oder zwei Generationen vor ihrer Geburt aus dem slawischen Osten gekommen, der damals noch deutsches Reichsgebiet war. Eigentlich hätte das katzenhafte Elena gut zu ihr gepasst. Später in Rom, als sie die «Signora» geworden war, die sie immer schon gewesen war, wurde sie für die neuen römischen Freunde doch noch eine Elena. Lebenslang blieb ihr im Deutschen aber die Helene erspart.

Manchmal machte einer eine Anspielung auf Faust und die klassische Helena. Darauf wusste sie Entgegnung.

«Finden Sie nicht auch, dass Goethe unendlich überschätzt wird?»

Worauf am Tisch, nach einigem Staunen, sofort die Kon­troverse ausbrach.

In ihrer eigenen Familie sagten alle Lena zu ihr. Hatte Wild mit ihr später eine Auseinandersetzung, wollte sie weder Lena noch Helen hören, dann wollte sie eine vollständige Helena sein. Das musste sie nicht aussprechen, klar war das allemal.

Nach ihrer Scheidung von Wild nannte sie sich Helen, nahm aber ihren Mädchennamen nicht wieder an.

Helen war in Paris von Agentur zu Agentur gezogen mit ihrer Mappe. Kreuz und quer durch die Stadt, in der Metro, die riesige Mappe unter dem Arm. Der Untergrundbahn, in der sie angestarrt, angerempelt und angefasst wurde und bald ihr Gesicht mit einem Tuch verhüllte, sich wie eine polnische Magd verkleidete, wie sie sagte.

Sie klapperte die halbe Stadt ab, la sacrée allemande, und sie bekam ihre Stelle, in Montmartre, in einer der Straßen, die vom Pigalle zum Moulin de la Galette hinaufgingen, einer ehemaligen Guingette, einem Tanzlokal, in welchem immer schon Künstler verkehrt hatten, von Renoir und Pissarro zu Van Gogh und Picasso. Da fand Helen Arbeit in jener kleinen Agentur, an jener Rue Germain Pillon, um genau zu sein, für die auch Bert arbeitete, bei Orwell Publicité.

Der Firmeninhaber nannte sie bald «Mademoiselle Outre-Rhin», er mochte sie offensichtlich. Als sie nach eineinhalb Jahren die Agentur verließ, sagte er zu ihr: Elène, ma chère, vous pouvez toujours revenir.

Am Mittag ging man mitunter quer über die Straße in ein Lokal, in dem es einen günstigen Mittagstisch gab, und wo sich, ebenfalls schon am Mittag, eine Stripperin produzierte, der man einen Geldschein zwischen die Brüste oder sonst wohin steckte.

Wild, der Student aus Bern, war nie dabei gewesen –

Mit einer Italienerin, Ida, die von einem Jazzmusiker namens Gerry Mulligan unglücklich und allein in Paris zurückgelassen worden war, wohnte sie zusammen an der Rue Eugène Carrière, gleich hinter dem Cimetière Montmartre.

Es war kalt in Paris, Geld knapp. Helen und Ida steckten ihre Füße gemeinsam in den Gasbackofen, um sie zu wärmen. Ida kochte Spaghetti gegen ihre Einsamkeit, Spaghetti warms the soul, sagte sie. Sie kam aus dem italienischen Süden, aus Salerno.

Auf der Straße standen noch die Vespasiennes, die Pissotières, die Henry Miller so liebte. Und «Black Spring» stand, in der Ausgabe von Olympia Press, bei Ida und Helen, das verbotene Buch eines anderen Amerikaners, der Paris so geliebt und verstanden hatte, wie das nur Zugewanderte können.

Man ging an diesem Abend, als Wild Helen endlich begegnete, zu einem Chinesen.

Wild war noch nie bei einem Chinesen gewesen, er hatte überhaupt noch nie einen Chinesen gesehen.

Aber an diesem Abend war ohnehin alles zum ersten Mal.

Es war das erste Mal, dass er Helen sah. Er saß ihr gegenüber.

Zum ersten Mal der Geschmack von Soja.

Zum ersten Mal Reis aus einer Tasse.

Zum ersten Mal Bambus.

Glasnudeln.

Kreuzkümmel.

Litschis.

Und Helen, die nach einem unendlich langsamen Augenaufschlag, dem Geschmack der Frucht nachsinnend, sagte: Die Pforte zum Paradies.

Wild fands nicht kitschig.

Der Chinese, als er die Wasserkaraffe brachte, sagte grinsend: Eau de palapluie.

Alle lachten.

Die Zeit wurde sehr jung.

Helen beschwerte sich lachend über Bert, ein Langweiler, sagte sie, weil er nie mit ihr ins Theater gehe.

Bert ging ins Kino. Film, sagte er, ist Kino, Kino ist gemeinsam geteilte, gemeinsam akzeptierte Illusion. Im Theater aber tun sie immer so, als ob das, was sie sagen, wahr wäre. Dabei weiß jeder, dass er im Theater ist.

Da, wo Helen hergekommen war, einer deutschen Provinzstadt, in der Georg Büchner einst gelebt hatte, war Gustav Rudolf Sellner gerade daran, das deutsche Theater neu zu erfinden, mit Franzosen wie Sartre, Audiberti, Beckett und Ionesco.

Helen wollte ins Theater gehen.

Wild bot sich an. Er studiere das, sagte er. Möge Theater.

Aber es brauchte einige Anrufe, bevor sie zusagte. Er spürte, als er wiederholt ihre Nummer einstellte, dass er eine Grenze überschritt, er spürte es an seiner Nervosität.

Er traf Helena gleich vor dem Theater. Sie hatte die Haare am Hinterkopf zu einem Chignon zusammengebunden und mit einer schwarzen Schleife festgesteckt. Sie war sehr schlank, und sie betonte ihre schmale Taille mit einem knapp geschnittenen Mantel.

Wild hatte die Tickets in der Hand, schon seit dem Vortag.

Helen sah einschüchternd fraulich aus und sehr viel erwachsener, als Wild sich fühlte.

Das Théâtre Mouffetard war ein Ort der Avantgarde, ein Stück von Ugo Betti war auf dem Spielplan. Von Ugo Betti wusste er nicht mehr, als dass er ein moderner, vielleicht ein avantgardistischer italienischer Autor war. Im «Pariscope» hatte er gelesen, dass es in dem Stück «Corruption au Palais de la Justice» um einen Richter ging, der im Lauf einer Strafuntersuchung auf seine eigene Schuld stößt. «Pariscope» hatte Ugo Betti mit Kafka in Verbindung gebracht. Zu Kafka hätte Wild etwas sagen können.

Helen wunderte sich, dass der Zuschauerraum mit seinen schräg absteigenden Sitzreihen in einem grauen Halblicht lag. Wild war sofort Fachmann.

Arbeitslicht, sagte er.

Sie hatte sich zu ihm gewandt und ihn fragend angesehen. Es war das erste Mal, dass sie ihn richtig ansah.

Das Bühnenportal stand offen, in das gleiche graue Licht getaucht wie der Saal. Es war, so jedenfalls hat Wild sich immer erinnert, als hätte ein leichter Dunst oder Nebel im Raum gestanden. Ein langer Tisch stand quer zur Bühne, nach vorn an die Rampe gerückt, ein Stuhl war daran gestellt.

So ist das heute, sagte Wild.

Wild wusste das. Man hat heutzutage keine Theaterdekorationen mehr, sagte er, kein Bühnenbild und keinen Vorhang. Alles muss aussehen wie irgendwo. Irgendwo ist überall. Überall ist gemeint. Das ist, vermute ich, seit Becketts Godot so. Dort gibt es einen Baum, oder eher einen Strunk auf leerer Bühne, sonst gar nichts. Im ersten Teil hat der Baum ein Blatt, im zweiten auch dieses nicht mehr.

Es waren wenige Leute im Raum.

Wilds ewige Angst, zu spät zu kommen; sie waren viel zu früh. Die wenigen, die bisher gekommen waren, saßen verteilt über den ganzen Raum, einige einzeln, manche zu zweit, sprachen leise miteinander. Andere schienen zu schlafen.

Aber es kam niemand mehr.

Schlecht besucht, dieses Theäterchen, sagte Wild.

Die leere Bühne, der beinahe leere Zuschauerraum, es hätte tatsächlich ein Gerichtssaal sein können.

Auf der Bühne tat sich nichts. Wild versuchte, ihr zu erklären, dass auch dies durchaus dazugehören könne, ein Spiel mit der Geduld, mit der Aufmerksamkeit des Zuschauers.

Die Inszenierung zeigt zunächst einmal nur: das Vergehen von Zeit, sagte er.

Helen sah ihn an.

Aber es tat sich weiterhin nichts. Wild hatte schon mehrmals auf seine Uhr geschaut. Unpünktlichkeit gehörte offenbar dazu, zum Théâtre d’Essai, zum französischen.

Helena kicherte, wie es Wild schien, grundlos.

Inzwischen waren doch an die zwanzig Personen in dem Raum, der vielleicht an die achtzig Plätze hatte.

Dann betrat ein Mann endlich die Bühne.

Wild und Helen schauten gleichzeitig auf.

Der Herr trug einen Straßenanzug und eine Ledermappe, die er vor sich auf den Tisch gleiten ließ. Er setzte sich auf den bereitstehenden Stuhl, schaute in den Saal, setzte eine Brille auf, schaute wieder in den Saal. Dann legte er ein Bündel Papiere vor sich hin. Dann sagte er:

Chers parents. Liebe Eltern. Helena und Wild sahen sich an. Helen lachte zuerst. Zögernd, immer noch ungläubig erhoben sie sich aus dem Plüsch ihrer Fauteuils und schoben sich durch die Sitzreihe zum Ausgang.

Wild hatte sich im Datum geirrt.

Im Foyer kontrollierten sie den Spielplan. Ugo Betti wäre am nächsten Tag gewesen. An diesem Tag war spielfrei. Das Theater war für einen Elternabend reserviert.

Gehen wir was trinken?, fragte Helen. Wild trabte neben ihr her.

Sie schlugen den Weg Richtung Boulevard Saint-Germain ein, hinaus aus der dunklen Rue Mouffetard und über die Contrescarpe und die Rue Descartes hinunter, dorthin, zum belebten Boulevard, wo das Neonlicht blinkte, ein verwegen geschlungener Schriftzug lockte. Im Innern des Bistro liefen dünne, grellbunte Neonrohre in asymmetrischen Bögen über die ganze Decke, während ein Mosaik von Spiegelchen hinter den mit Flaschen beladenen Regalen das grelle Licht spiegelte.

Ein Flipperkasten scherbelte und klingelte in einer Ecke vor sich hin, mitunter gab er sehnsüchtige Lockrufe von sich.

Wild würde jene Bar, das Bistro, das vielleicht als «Brasserie» angeschrieben war, ein Lokal wie jedes andere, von denen es in Paris Tausende gibt, jederzeit wiederfinden, finden wollen, finden mögen, diese hell erleuchtete, spiegelchendurchblitzte, glänzend-glitzernde Höhle in der Großstadt, in dem er Helen zum ersten Mal ohne weiteren Grund und Vorwand gegenüberstand.

Wir bleiben doch an der Bar, hatte sie gleich gesagt.

Standen am Tresen, tranken ein Bier.

Wild hätte niemals zugeben mögen, dass er erleichtert war. Aber jetzt hatte er Helen für sich.

Sie lachte. Die schwarze Mèche, die sie an ihrem Chignon hatte, verdoppelte sich in dem Mosaikspiegel hinter der Bar. Ihr Rock, schmal, lag an den Oberschenkeln an und endete knapp über den Knien.

Ihr erster Abend. Ein Elternabend.

Wild sah sie später immer wieder so vor sich, in den schönen Zeiten, und in den schwierigen auch. Die aufgesteckten Haare, der schwarze Stoffschmetterling. Das helle, in der Hüfte taillierte Jackett, darüber der Mantel, der dunkle Rock.

Eine Art Netzstrümpfe und schmale Schuhe mit einem schmalen Ristriemchen und hohen Absätzen.

Wild hatte Helen damals nicht wiedergesehen. Er fuhr am nächsten Tag zurück in die Schweiz.

Helen war telefonisch nicht mehr erreichbar gewesen. Er hätte sich ja nur irgendwie bedanken wollen, dachte Wild. Er wusste, das stimmte nicht.

Sie verschwand aus Paris, und sie verschwand auch aus den Briefen, die Bert an Wild schrieb.

Bert hatte noch nie eine solche Freundin gehabt. Wie hatte er das bloß gemacht?

Der Freund kam wenige Monate später bei einem Unfall ums Leben. In Paris. Er hatte sich den Arm gebrochen, als er mit seinem Rennfahrrad gestürzt war. Der Bruch heilte schlecht und musste noch einmal operiert werden. Bert, 24-jährig, starb an einer Embolie, durch ärztlichen Fehler.

Manchmal hat Wild das Gefühl, er lebt mit der Zeit, die Bert ihm überlassen hat. Das meiste davon mit Helen, das sowieso.

Das ist er ihr schuldig. Das ist er ihm schuldig. Das steht ihm zu.

Nun endlich steht er auf, Wild. Erhebt er sich. Die Amerikanerinnen sind längst verschwunden.

Addition! Er zahlt sein Perrier mit Zitronenschnitz, Glas, Löffelchen, Tablett, Papierserviette, zahlt den Weißwein, rafft die Zeitung, überquert den Platz.

Juni. Die Place de la Contrescarpe, liegt im hellen Sonnenlicht. Es ist warm geworden, elf Uhr morgens, die beste Stunde an einem solchen Junitag. Die Blätter der Judasbäume wedeln wie mit tausend Händchen. Zwei junge Männer in Jeans lehnen an dem Geländer, das die kleine Grüninsel umgibt. Sie schauen nicht auf, als Wild an ihnen vorbeigeht. Auf der Bank in der Grüninsel sitzt ein junges Paar, ins Gespräch vertieft. Der junge Mann hat seine Hand auf dem Knie des Mädchens.

Auf den runden, mit einem Messingreif gefassten Tischchen in dem andern großen Straßencafé, gegenüber, liegen schon die Speisekarten, MENU, und je zwei blaue gefaltete Papierservietten, darauf Messer und Gabel.

Wild schwenkt in die Rue Mouffetard, die sich hier gegen Monge zu senken beginnt. Alles ist neu, links und rechts, Supermarché, L’Oulala, La Contrescarpe, Vidéo Club, Aux Fromages, V.O. Boutik, Diwali, Au Piano Muet, Mouffetard Folies, La Maison des Tartes, Bowling.

Die jungen Männer tragen ihre Hemden über den Hosen. Die Mädchen haben kleine Rucksäcke auf dem Rücken, als ob sie Äffchen trügen, kleine Kosetierchen, in denen sich nicht viel mehr als ein Lippenstift befinden kann.

Dann die Nummer 73, der Durchgang zum Theater. Théâtre Mouffetard. Es ist noch da, sieht aber ganz anders aus.

Ein Schaukasten. Mitteilung: Le théâtre a cessé sa programmation.

Las Wild.

Nous vous remercions pour ces années passées à nos côtés.

Die Jahre, die Sie mit uns verbracht haben.

Die Jahre mit uns.

Terminée.

Die Jahre ohne Wiederkehr.

Amitiés à tous.

Und hopp. Und ade.

Die Gärten der Medusa

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