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Jardin des Plantes

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Wild kehrte wieder, kam öfter nach Paris. Er kam zurück an einen Schauplatz, wollte es noch einmal betreten, das Theater der Vergangenheit. Als gäbe es etwas zu entdecken, was er damals übersehen hatte. Was er versäumt hatte. Was nicht mehr nachzuholen war –

Um allein dort zu sein, wo Es gewesen war, um Es zu suchen, und, selbstverständlich, nicht wiederzufinden.

Die Reisen der Vergeblichkeit. Die er nicht lassen konnte.

Gibt es einen würdigeren Gegner als die Vergeblichkeit?

Wenigstens noch einmal hinsehen.

Man konnte unter dem kahlen Baum ein gefallenes Blatt umdrehen, das trocken dalag. Schön, die Maserung, wunderbar, darunter war keine Botschaft.

Man konnte in ein Schaufenster sehen, und die Dinge lagen, schön, als hätten sie mit nichts anderem zu tun als mit sich selber.

Man konnte vor einem geschlossenen Theater stehen, die alten Spielpläne lesen, und keine Neugier wurde geweckt. Strindberg, Tschechow, Ionesco, große Namen, verwehte Laute. Noch entließen sie einen schwachen Hauch, es war der von «vorbei». Man sah unter den Namen das stumme Papier, das Gilben.

Amitiés à tous.

Küsse, verweht, Umarmungen … Eine Ahnung noch vom Geruch einer Schulter, dieser Schulter. Die Schulter mit den Sommersprossen. Die Wärme von honigfarbener Haut, das Gedächtnis der eigenen Hand. Die Sommersprossen. Alles da, alles wieder einholbar im Netz des Erinnerns. Aber wo ist die Liebe? Sie selbst. In welchen Teil des Weltraums entwichen? Oder in welchem Weltinnenraum?

Es geht nichts verloren, heißt es. Und die Liebe? Riech vielleicht an einem alten, an den Falten angegilbten Linnen. Wenn du es aus dem Schrank nimmst und aufschlägst und daran riechst, wer weiß?

Wild war das kurze Stück zu Fuß gegangen, die Rue Cardinal Lemoine hinunter und hinüber zur Gare d’Austerlitz. Er hatte auf die Stahlbogen der Brücke geschaut, auf der die Metro, Linie 5, als Hochbahn über die Seine herüberkam, hatte zu der luftigen Haltestelle an der Gare d’Austerlitz hinauf gesehen, einer Station, wie Wild sie liebte. Man kam auf der andern Seite des Flusses irgendwo aus dem Boden, fuhr dann auf Augenhöhe mit den Fenstern der Menschenwohnungen durch einen Straßenzug, um unvermittelt über dem Fluss zu sein, Schnattern der Räder, Rasseln, Kreischen in der folgenden Kurve und sekundenkurze Aussicht auf den Fluss und die Stadt, das Blaugrau im Graublau, ein Glaubrau. Die hingebreitete, in die Tiefe gestaffelte Stadt, die Flussufer entlang Richtung Île Saint Louis und Notre-Dame, zwischen Quai de la Rapée und dem neuen Ufer.

Es gab eine Parissehnsucht, die Sehnsucht blieb, obwohl man doch schon da war.

Über den Boulevard de l’Hôpital nun die paar Schritte hin­über zum zaunbewehrten Eingang. Hohe Eisenstaketen mit vergoldeten Spitzen, zwischen zwei Pfeilern und an zwei plaudernden Beamten vorbei in den Jardin des Plantes, der sich wie eine höfisch-herrschaftliche Einladung vor Wild weitete. Das Portal durchschritt er das erste Mal.

Die beiden Platanenalleen links und rechts, das große Feld in der Mitte, mit Rechtecken gestaltet und sich in die Tiefe ziehend, wo der Blick auf das ferne, das riesige Rechteck abschließende Palais stieß, die plumpe, über die Jahrhunderte immer wieder umgebaute «Galerie de l’Évolution», ehemals «Cabinet du Roi», als der Jardin noch zu den königlichen Gärten gehörte.

Bevor Wild langsam und immer nur ein paar Schritte vorrückend die ganze Anlage in den Blick nehmen konnte, oder das, was er von dieser Stelle als ganze Anlage überhaupt erkennen konnte, fand er die großen Gewächshäuser ganz hinten auf der rechten Seite, das lang gestreckte Gebäude zur Linken, welches, wie Wild auf seinem Plan nachprüfen konnte, die Zoologie beherbergte, Skelette, mit denen man die Tierwelt in Klassen ordnete, und sah mit Behagen, wenn auch fröstelnd, über die in die Tiefe gestaffelten bepflanzten Beete, winterlich dürr und kahl, mit Sträuchern ohne Blätter, die mit kahlen Ästen hilflos in die Höhe fingerten. Dagegen die Akzente dunkler Zapfen von hohen, schmalen Taxusbäumen. Und dann wieder das sich flach, geometrisch, französisch oder ganz und gar unenglisch ordnende zentrale Wiesenfeld, blassgrün und in regelmäßigem Muster mit Blumenrabatten gerastert. Wunderbar, großzügig, streng; der große Atem im Körper der großen Stadt.

Unübersehbar nun unmittelbar im Vordergrund auf seinem Steinsockel der Bronzekerl, übergroß, LAMARCK, am Sockel in Majuskeln angeschrieben, Jean-Baptiste Pierre Antoine de Monet, Chevalier de Lamarck, Fondateur de la Doctrine de l’Évolution, 1744–1829, und damit die französisch-nationale Behauptung, einen Darwin vor Darwin gehabt zu haben – mehr als fünfzig Jahre früher.

Interessant, dachte Wild, wie so ein Denkmal einen ganzen großen Raum strukturiert, wie ein Leuchtturm mit seinem drehenden Lichtbündel die umgebende Landschaft in Segmente teilt und gliedert. Und so war schon von hier aus, ganz am Ende der Plaine des Perspectives, die andere, die mit Lamarck über den weiten Raum korrespondierende Zwillingsskulptur zu erkennen, Buffon, wie sich noch herausstellen würde.

Ein paar Schritte an Lamarck vorbei, und Wild erkannte nun zur Rechten die Reihe der instruktiven Lehrbeete bis hin zum Jardin Alpin, wie sich dann herausstellte in dieser Jahreszeit geschlossen, und dahinter die Niere-in-Niere angelegte Ménagerie, die Wild sich für den Schluss aufheben wollte, erst am Ende zurück zu den Tieren – jetzt aber auf in die Pflanzenwelt.

Der botanische Garten schwieg. Aber die einzelnen Pflanzen, oder was von ihnen geblieben war in dem kalten Dezember, kahle Ästchen, feuchte Blätter, dürre Halme, vertrocknetes Laub, waren angeschrieben. Immer lateinisch, und teilweise französisch. Die Herkunft war Wild verständlich, die meisten Pflanzen erriet er aus der Erinnerung. Unwichtig. Schön war der kleine Mohn – Papaver alpinum –, der offenbar erst jetzt zu blühen begann, zartfarben bunt, der blühte gegen jede jahreszeitliche Erwartung.

Der Garten war kurz nach der Revolution angelegt worden, mit aufklärerischem Auftrag, insgesamt wie ein Lehrbuch mit seinen der Klassifizierung der Pflanzen folgenden Anordnung, in seiner Gesamtgeometrie und den einzelnen Teilen die Überzeugung, dass die Natur erst zu sich selbst komme, wenn sie geordnet und für jeden, der die Mühe auf sich nimmt, einsehbar ist. Es schien Wild weise, dass im Hauptteil des Gartens keine Exoten wuchsen, nur das, was Europa schon immer hervorgebracht hatte zusammen mit dem vielen, das, vor allem aus dem Osten, dem Orient und Asien, eingewandert oder eingewandert worden war.

Manchmal waren ihm Orte wichtiger als Menschen. Er wolle keine neuen Menschen mehr kennenlernen, hatte er einmal gesagt; auf Orte blieb er neugierig. Der Jardin des Plantes war ein besonderer Ort, einer, an dem für ihn keine Erinnerung hing, er war noch nie hier gewesen. Das gab dem Garten etwas berührend Unberührtes.

Meist waren die Orte mit Erinnerung verbunden, und er ging an einen Ort, um sich zu erinnern. Solche Orte brachten ihm Menschen zurück, in der Erinnerung liebte er sie. Die Orte, die verlassen waren, gaben ihm für die Menschen, die er dort gekannt hatte, eine Zärtlichkeit. Mehr Zärtlichkeit, als er damals aufgebracht hatte, vielleicht. Dieselbe Zärtlichkeit spürte er dann für den Ort. Eine Zärtlichkeits-Dankbarkeit. Schauplätze, leer nun, an denen das Ereignis vergangen war. Nicht die Erinnerung: Hier habe ich einmal mit Norma ein paar Tage glücklich gewohnt, in diesem Haus Inge kennengelernt, hier mit Emilio im Kino gewesen. Norma und Inge und Emilio waren ihm wieder nahe. Vielleicht näher als damals. Dadurch, dass er nun mit ihnen allein war, sie in der Erinnerung besaß. Damals war nur Gegenwart gewesen, also alles unmittelbar vergänglich. Jetzt blieb die Erinnerung stehen, ein Andachtsbild.

Die Liebe kam zurück mit dieser Zärtlichkeit: die Liebe, das Fest des Lebens, das Vertrauen in den Augenblick.

An einem solchen Ort spürte er alles wieder, der Ort gab ihm den Augenblick als gelebtes Leben und Vermächtnis zurück. Er hatte geliebt, gelebt; verraten, vergessen; jetzt war es wieder da, und er musste nur stehen bleiben, an dem Ort.

Der neue, der unbetretene Ort aber wurde zu einem neuen Theater seines Lebens, unverbraucht, nur leere Bühne. Blieb Wild stehen, irgendwo, etwa vor diesem vertrockneten Flieder, Syringa vulgaris, atmete er, sog er die Luft ein, dann war es ihm, als wünschte er sich nun, auch diesen neuen Ort mit einem Lebensmenschen, mit ihr, die nun doch fehlte, zu teilen. Das waren auch immer die Helen-Momente.

Die Gegenwart verging, die Orte blieben. Wild, zerstreut, stand vor einer Hinweistafel, die auf einen früheren Mitarbeiter und seine besonderen Verdienste um den Garten aufmerksam machte.

Ein Joseph Decaisne, 1807–1882, hatte hier offenbar sein ganzes Leben verbracht. «Entré à 17 ans comme garçon jardinier au Jardin des Plantes, son zèle et son intelligence furent remarqués: Il fit une belle et longue carrière au jardin où il termina sa vie. Aide naturaliste à la chair de botanique en 1833; professeur à la chair de culture; directeur adjoint.»

Aber was hieß denn dies: «Il s’intéressait plus aux méthodes horticoles et à la structure des plantes qu’à leur classification»? Er habe sich mehr für die Pflege der Pflanzen und ihre Eigenschaften als für ihre Klassifikation interessiert? Also mehr für die Pflanzen selbst als für ihre wissenschaftliche Beschreibung, in welcher die Franzosen als Land der Aufklärung besonders tüchtig waren?

Ganz so wie unser Vittorio in Rom, dachte Wild, unser Gärtner im Park der Contessa. In den ummauerten Gartenpark an der Via Ludovisi gekommen als halbes Kind, und dort geblieben ein langes Leben lang. Nicht besonders an Theorie interessiert, an abstrakter Botanik, umso mehr an der praktischen Arbeit mit seinen Pflanzen. Ein sogenannt einfacher Mann, der seine Gartenweisheit nicht aus den Büchern, sondern direkt aus dem Boden bezog, sozusagen. Bloß bist du, Vittorio, liebster aller Römer, im Unterschied zu deinem Pariser Kollegen Joseph nicht Vize-Direktor geworden. Das hattest du nicht nötig, warst du doch ohnedies der geheime Chef.

Verkehrslärm von der Straße her, von der Rue Cuvier. Dort draußen verkehrte der Autobus und der ganze übrige Parisverkehr, als wüsste man dort nichts von dieser Insel hinter den hohen Gittern, dem Jardin und seinem Arboretum, den Gewächshäusern, Wintergärten, Beeten, Rabatten, dem Labyrinth, dem Amphithéâtre, den Kiesflächen, Alleen, der Gloriette, dem Museum, den Baumveteranen, den spezialisierten Bibliotheken; und nichts von den Skeletten in der Galerie für vergleichende Anatomie und gar nichts von den von einem leisen Wind bewegten Stengeln des Wintermohns, weiß, gelb und rot.

Die großen Gewächshäuser, die Serre de l’histoire des plantes, die Serre de Nouvelle Calédonie und die der Forêts tropi­cales humides, erst kürzlich restauriert, die Pflanzungen neu hergerichtet, interessierten Wild nicht besonders. Das Äußere, die Stahl-Glas-Konstruktionen enorm; dann bezahlte man seinen Eintritt nur, um sich unbehaglich zu fühlen zwischen den hohen bleichgrünen Tropengewächsen. Ja, Triste Tropiques, das kam einem da in den Sinn.

Er ging rasch und unaufmerksam durch die badezimmerwarmen Feuchtgebiete und künstlichen Savannen, den schweigenden Blätterwald, nur um im dritten Gebäude, er war hier der einzige Besucher, auf einen jungen Gardien zu stoßen, der auf Arabisch auf sein Handy einredete, der laut und vulgär die Stille des Raums zerstörte. Wieder einmal ein ungeniert parlierender Wächter, die Pest aller Museen der Welt.

Wozu braucht es in solchen Instituten überhaupt einen Direktor, wütete Wild, wenn dieser nicht einmal in der Lage ist, das Personal in die Schranken zu weisen.

Braucht es nicht eher einen Oberaufseher als den Direktor? Einen Wächterswächter, Sittenhüter, der diesen Typen bei der ersten Verlautung aufs Maul haut? Sind wir denn nicht hier, wir alle, mit Bedacht allein hergekommen, «Figures in a Landscape», ausser den Belles-Mères natürlich mit ihren quengelnden Enkeln, um dem Gerede dort draußen zu entgehen, dem ewigen Geschwätz, vor dem mit der Erfindung des Handys die letzte Schranke fiel?

Unrettbar, diese Menschheit.

Die farbigen Bilder von Leopard, Papagei, Orang Utan und Wasserbüffel lockten Wild schließlich in die Ménagerie. Und das Schweigen der Tiere. Und natürlich auch: die Mitteilung, der Tiergarten im Jardin des Plantes sei der zweitälteste der Welt, 1794 begründet.

Ein Produkt der Revolution offenbar. Und die Kehrseite ihrer Grausamkeit. Der Tiergarten verdankte seine Existenz nämlich der Weichherzigkeit der damaligen Verantwortlichen des Jardin, der als Jardin royal des plantes médicinales schon seit 1635 bestanden hatte.

Und nun, 18. und 19. Jahrhundert in Frankreich; die Luft schwirrte von Neugier und Erkenntnissen; mit Daubenton und Thouet war Frankreich führend in Zoologie und Botanik, mit den Forschungsreisen von Tournefort, Adanson, Bougainville, La Pérouse, Entrecasteaux und der Bonapartischen Expedition nach Ägypten kamen neue Bilder aus der Welt hinter dem europäischen Horizont. Aufklärung, im weitesten Sinn. War es ihr, einem neuen Verständnis für die belebte Welt um den Menschen zu verdanken, dass die Tiere hier in dieser frühen Ménagerie überlebt hatten? Dass man sie lieber lebendig als tot sah?

Die zur Schlachtung oder Ausstopfung bestimmten Tiere, die aus Beständen privater Schausteller kamen und von den Revolutionswächtern den Wissenschaftlern zur Erforschung überstellt worden waren? Später, las Wild, seien auch die Tiere aus der ehemaligen königlichen Menagerie in Versailles in den demokratisierten Tiergarten gekommen, und noch später schließlich viele Tiere aus den Kolonien als Geschenke von Forschungsreisenden, Kolonialbeamten und Privatleuten.

Vorübergehend machte die Ménagerie mit einer Giraffe von sich reden. Zarafa ihr Name, sie war am 30. Juni 1827 in den Zoo gekommen und hatte noch achtzehn Jahre lang dort gelebt.

«Begründet im Jahr 1794, beherbergte die Menagerie einst Tiere aller Größen», sagte das schmale Büchlein in Wilds Hand, sein Itinéraire, «Elefanten, Giraffen, Bären, Löwen in den Gebäuden, die heute als historische Bauten geschützt sind. Besorgt um das Wohlergehen ihrer Schützlinge, behütet der Tierpark heute vor allem kleinere Tiere und solche, die vom Aussterben bedroht sind.»

Tatsächlich konnte von Elefanten und Bären, von Giraffen und anderem Großwild keine Rede mehr sein. In den vielleicht historischen, gewiss aber heruntergekommenen Käfigen, Gehegen, Pavillons, Volieren standen, verloren und als ob sie frieren würden, vor allem Ziegen, Schafe, Steinböcke, die Schraubenziege, das Blauschaf, das Steppenwildschaf, der westkaukasische Steinbock. Ein riesiger alter Esel kaute an einer Futterkrippe, da standen Wildschweine exotischer Art. Dik-Dik, Känguru und Emu, Nandu und Lama, Gazellen und das Gau, eine große Büffelart, kleinere Büffel und jede Menge Vögel, eingesperrte und frei fliegende, Enten, Kraniche, zwischen denen man im Käfig spazieren konnte, manche Nachtvögel wie Eule und Uhu, von denen nicht eine Feder zu sehen war, und in einer dunklen Voliere die unvermeidlichen Wellensittiche, deren grelles Zwitschern die Leblosigkeit dieses zweitältesten Tiergartens der Welt akzentuierte. Abandonné, dem Verfall überlassen, dem Hinsinken. Du schaust in das Auge des Bisons, und dein Blick fällt in einen Abgrund.

Alle Tierparks, die Wild kannte, hatten ihre eigene Trauer. In dieser Ménagerie war von der Trauer nur die Trostlosigkeit übrig geblieben. Das Büchlein in Wilds Hand nannte den Grund, eher beiläufig: der Schwerpunkt des Zoos war längst umgezogen, déménagé, verlegt worden nach Vincennes, wo die Tiere in einem großzügigeren Umfeld leben dürfen. Das Tier ist nun kein Spektakel mehr, das man ausstellt, es ist nun Ambassadeur de la biodiversité. Und es lebt «in einer natürlichen Umwelt, in der sein Wohlergehen an erster Stelle steht». «Ainsi», schrieb Wilds Guide, «le zoo s’inscrit dans un dispositif de sensibilisation à la conservation de la nature.»

Endlich fand er zu den Toiletten, gleich hinter dem Käfig mit den Sittichen, untergebracht in einem kleinen, am Giebel eingebrochenen Gebäude. Die Frauenseite war mit einem Verschlag versperrt. Wild, es eilte langsam, traf in den Pissoirs der Männerabteilung eine Mutter mit zwei kleinen Mädchen an, die sich vor den Urinoirs, die viel zu hoch waren, mit den Kindern mühte.

Wild zog sich zurück, schlug den Mantelkragen höher, drehte eine Runde, kam wieder, als die Mutter mit ihrem Kinderwagen hinter Buchsbaum verschwand.

Auf einem der nierenförmig geschwungenen Wege kam er zum Raubtierhaus oder vielmehr zu den leeren Käfigen an dessen Außenseite. In einem der Käfige, Eisenbalustrade, Metallstäbe, zusätzliches Drahtgitter, lag hoch auf seinen grünmoosigen Kunstfelsen ein Schneeleopard. Fast hätte Wild ihn übersehen, während der mit einem Auge bewegungslos auf ihn herunterschaute.

Der Eingang zum Raubtierhaus befand sich auf der Rückseite des Gebäudes aus den Dreißigerjahren, der Architekt war auf einer Tafel verewigt, «René Berger, 1935–1937», wie an vielen Häusern der Name des Architekten an der Fassade steht, signierte Architektur. Ein paar Stufen führten ins Innere. Eine gelb erleuchtete Arena tat sich auf, ein großer Raum. Auf einer ausladenden Bank in der Mitte fütterte vor den Käfigen eine Mutter ihr Kind.

Es gab keine Besucher vor den zweigeschossigen Boxen, in denen Stroh lag, die Käfige, bis auf einen einzigen, waren leer. In dem Abteil, das bewohnt war, lag ein Jaguar über einen Baumstrunk ausgestreckt. Sein langer Schwanz hing leblos herab, und auf der Flanke zeigte er eine große kahle Stelle. Er sei jüngst operiert worden, stand auf einem Schild, vielleicht schlief das Tier immer noch eine gewaltige Narkose aus.

Es war warm und ruhig in dem großen, leeren Raum. Wild staunte in die leeren Käfige. Die Wärme, der schöne Raum, seine Großzügigkeit, das gäbe einen schönen Ort zum Wohnen ab, Alterswohnungen vielleicht? Der einsame Jaguar hätte gewiss nichts einzuwenden gegen ein wenig Gesellschaft, und wenn diese netten französischen Familien mit ihren kleinen verwöhnten Kindern ihm am Sonntag einen Besuch abstatteten, konnte es nichts schaden, wenn sie sich dabei auch ein wenig die Alten besahen.

Vor dem Kassenhäuschen der Ménagerie heulten die Turbobläser der Gärtner, die ein bisschen Laub unter den Platanen zusammentrieben, und das Schreien der Sägen, mit denen sie daran waren, die Platanen der Allee, dieser zu einer Armee angetretenen Baumreihe, zu trimmen und ihnen einen militärischen Schnitt zu geben. Schnurgerade folgte der Blick der Baumreihe bis zu ihrem Ende, nach den geometrischen Rabatten und symmetrisch aufragenden Taxus-Türmen ein weiteres Exempel der klassischen französischen Gartenkunst – und merkwürdig unpassend in einem Botanischen Garten, in dem einer das Wuchern freier Natur erwarten durfte. Die Zone, in der das Schneiden und Trimmen tobte, war durch rot-weiße Bänder abgesperrt. Ein Traktor mit aufgepflanztem Arm, gerecktem Ausleger, an dessen Ende fünf Sägeblätter rotierten, schob sich langsam an der Baumreihe entlang und fräste in den Kronen die Ästchen ab, mehrere Turbobläser wehten mit Gedröhn ein paar Reste zusammen, riesiger Aufwand, wenig Effekt.

Wo sind die Gärtner geblieben, fragte sich Wild, die Gärtner in der grünen Schürze oder dem blauen Overall mit dem Rechen in der Hand, wo sind sie, all die Straßenfeger und Hauswarte mit dem Reisbesen, wo bleibt das wunderbare Geräusch eines in der Stille Laub rechenden Menschen? Wo das Hin und Her einer langsam durch einen Ast dringenden Handsäge, wo das Schnappen der großen Heckenschere und wo das Bild jener an die Bäume gelehnten Leitern, auf denen geschickte Arbeiter hoch oben in den Kronen die Bäume fachmännisch beschneiden? «Achtung!» der Ruf, und der große Ast fällt krachend hernieder … Die Würde gut gemachter Arbeit hatte sich in Lärm aufgelöst, in das robotermäßige Hantieren gelb vermummter Männer, ineffizient, grob und unangemessen.

Pelouse interdite.

Pas de flash.

Fermé au public.

Eau non potable.

Stationnement réservé au directeur.

Chantier interdit au public.

Amphithéâtre fermé.

A titre provisoire le jardin des plantes vous ouvre cette pelouse.

Sortie.

Wild hatte den Mantelkragen gerafft, als er durch die Doppeltür hinaus in den Wind getreten war. Hinter den vor kurzem renovierten mächtigen Gewächshäusern aus den Dreißigerjahren begann eine Zone mit älteren Verwaltungs- und Servicegebäuden, die offensichtlich am Zerfallen waren. Das Restaurant «La Baleine» wirkte vernachlässigt und vernutzt, die älteren Gebäude dahinter aber zerfielen schon sichtlich; Putz blätterte, Läden hingen schief in den Angeln. Einige schienen nicht mehr benutzt.

Wild wunderte sich über so viel Verwahrlosung. Den Niedergang dieser schönen Gebäude in einem öffentlichen Park in einer der reichsten Städte der Welt. Verschwendung von so viel bewohnbarem Raum in bester Lage. Hinter dem rückseitigen Parkausgang des Jardin des Plantes kam gleich das Cinquième, das belebte Stadtviertel mit dem Panthéon als Zentrum. Hier hätte er wohnen mögen, dachte Wild. Die Seine war ja auch nur ein paar Schritte entfernt.

Borbakis fiel ihm ein, die Zürcher Gespräche. Des Schwätzers Plan, eine Art Bibliothèque Complète de la Présence Littéraire d’Immigration à Paris einzurichten. Eine der vielen Ideen, die im Nichts verlaufen waren, wie die Menschheitsgeschichte überhaupt nicht in erster Linie die Summe ihrer Erfindungen, sondern vielmehr ihrer aufgegebenen, verratenen, vernachlässigten, gescheiterten Projekte ist. Wäre nicht hier, genau hier, in diesen aus einer anderen Zeit herübergrüßenden alten Häusern Platz für ein solches Institut gewesen, für eine solche Bibliothek?

Wild setzte sich auf die kreisförmige Ummauerung, die einen uralten Baum umgab. Es war die Platane, die Buffon 1785 gepflanzt hatte, vier Jahre vor der Revolution. Comte Georges Louis Marie Leclerc de Buffon, von 1739 bis zu seinem Tod im Jahr 1788 hier Directeur, 49 Jahre lang, während derer er den Jardin Royale des Plantes prägte und ausbaute, mit Gebäuden für Lehre und Forschung versah, die Fläche des Gartens verdoppelte und bis an die Seine erweiterte, neue Gewächshäuser errichten ließ.

Riesig stieg die Platane hinter Wild in die Höhe, mächtig, kahl. Einen Solitaire nannte man ein solches einzelnes Exemplar von Baum wohl. Und welchen Ahnungen spürte er nach, Wild, ein Anthropologe, der die Menschheit floh? Was, wenn er zu den Gärten strebt, den Parks, den Reservaten, die man mit Hilfe künstlicher Natur aus dem Gewöhnlichen schneidet und damit dem Lärm, der Vulgarität des Lebenskampfs entreißt?

Hinter dem flachen Grundstück, auf dem die alten Häuser standen, erhob sich ein Hügel, an dessen Seite ein bequemer Weg in die Höhe führte, an einer gewaltigen Libanonzeder vorbei, einem Monument, für welches das Wort Pflanze nicht mehr zu genügen schien, an deren Fuß ein Mädchen auf einer Bank saß, während ein junger Japaner, offenbar ihr Freund, ihr merkwürdige Tanzschritte vorführte, so etwas wie den Moonwalk von Michael Jackson. Von Wild nahmen sie keine Notiz.

Ganz offenbar war hier eine Art «englischer» Garten gegen die Geometrie des zentralen Parks gesetzt worden, ein eher rührendes Unterfangen, war doch der Platz für eine nach englischem Muster großzügig gestaltete Natur-in-der-Natur viel zu beengt. Immerhin standen hier außer jener Zeder, die Jussieu 1734 gepflanzt hatte, die Buffon-Platane und, höher am aufsteigenden Hügel, der älteste Baum der Anlage, der kretische Ahorn, Acer sempervirens, den Tournefort 1702 gesetzt hatte.

Von unten sah man einen kleinen, schlanken Pavillon auf der Kuppel des Hügels, der wurde natürlich sogleich Wilds Ziel. Um dorthin zu kommen, musste man die aufwärts führende Spirale benutzen und den Tumulus mehrfach umrunden, einen stumpfen Kegel, der vollständig und dicht mit einer Taxushecke bepflanzt war. Ein Labyrinth sollte das sein, in Wirklichkeit eine Schnecke, die sich, enger werdend, zu dem Pavillon hinaufzog. Der Weg führte zwischen den Hecken mählich in die Höhe, zu langsam offenbar für jene, die quer zum Hang und unter den untersten Ästen des Gestrüpps hindurch sich eine Art Tunnel und Schlupflöcher geschaffen hatten, durch die sie die Kuppe auf direkterem Weg, wenn auch gebückt oder halb kriechend erreichten. Wild hätte eine solche Abkürzung niemals benutzt, auch nicht in jüngeren Jahren. Dass man aufrecht gehen sollte, war einmal mehr als eine gesundheitliche Anweisung gewesen. Und hatte nicht gerade jene französische Revolution, auf die dieser Park zurückging, den Bückling überwunden?

Zum Pavillon ging es noch ein paar Steintritte hinauf. Dann stand Wild in einem kleinen Rund, die Aussicht bescheiden: die Dächer der nächsten Straße, Bäume, er war nun auf der Höhe der Krone der riesigen Schirmpinie; das Palais des Jardin; die großen Gewächshäuser und ein Teil der Plaine des perspectives. Offenbar ging es hier nicht um Aussicht. Der Pavillon, «Gloriette» genannt und damit in guter Gesellschaft ähnlicher Konstruktionen, in Schönbrunn, Eisenstadt, in Muskau, auf der Wilhelmshöhe oder in Karlsbad, markierte zwar den hohen, den erhabenen Punkt, diente aber mindest so sehr der Einsicht wie der Aussicht, und diese Einsicht war die gleiche wie überall: Ich stehe oben. Glorietten dienten ursprünglich auch nicht dem Spaziergänger, sondern der Verherrlichung ihres Erbauers, Denkmäler der Landschaftsarchitektur.

Der Pavillon filigran, Grazie aus Eisen. Acht schlanke, gegliederte Eisensäulchen trugen den runden Reif aus Eisen, der in seinem Durchmesser dem Rund des Innenraums und des Geländers entsprach; darüber schwang sich als rhombisches Netzwerk aus Eisen ein pagodenartig geschwungener zylind­rischer Strumpf hinauf und wurde zur Stütze einer im Durchmesser reduzierten Laterne, deren wiederum acht Eisensäulchen den Hut trugen – darauf, sich noch einmal aufschwingend, ein Türmchen und darauf wiederum zwei in sich schräg versetzte Reifen, wohl den Umlaufbahnen von Sonne und Mond entsprechend, darauf eine Wetterfahne, die mit einem Pfeil die Herkunft des Windes angab.

Das Interesse der Revolution am Jardin des Plantes war ein populär-wissenschaftliches gewesen, Aufklärung für alle. Aber dieses Lusttempelchen? Es ging auf viel frühere Zeiten zurück. Der Gartenführer gab Auskunft. Bereits im vierzehnten Jahrhundert war an diesem Ort der Bauschutt der eben entstehenden Faubourgs aufgehäuft worden. Der künstliche Hügel wurde im sechzehnten Jahrhundert unter Colbert mit Reben bepflanzt, die im achtzehnten wieder entfernt wurden. Damals nämlich errichtete der Architekt Edmé Verniquet in den immer noch königlichen Gärten das «Labyrinth» und auf seiner Kuppe das Tempelchen, den Kiosk zu Ehren von Buffon. Ganz abgesehen davon, dass schon das Wort Kiosk ein Import aus dem Arabischen war und an den Orientalismus der Zeit erinnerte, war dies, so zart er wirkte, ein kühner Bau. Sechzig Jahre vor Baltard und seinen Eisenstickereien, über ein Jahrhundert vor Eiffel entwarf Verniquet die Gloriette, eine der ältesten Metallkonstruktionen der Welt.

Ausgeführt in schwerer Bronze, mit Bronzeapplikationen und Dekorationen aus Blei, Kupfer und Gold, trug der Pavillon damals auf seiner Spitze einen Gong statt der Wetterfahne, ein Gong, der jeweils am Mittag schlug – sein Klöppel wurde ausgelöst durch das Durchbrennen eines Fadens, der unter einer Lupe barst. Ein Spielzeug der Aufklärung. Doch die Zeit schmolz mit den Jahrzehnten und Jahrhunderten Verniquets polymetallische Konstruktion zu einer Legierung, die der Elektrolyse, dem Wasser und dem Wetter nicht mehr widerstand. Die Erneuerung in den Achtzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts stellte die Konstruktion des Kiosks wieder her, verzichtete aber auf den Gong.

Wild sah in die Runde wie von einer Kanzel. Die Gloriette stand am Ende des spiralförmigen Wegs, der zu ihr hinaufführte, an dem Punkt, an dem die Spirale ihr Zentrum hatte. Von hier oben, ganz am Rand des Jardin des Plantes, war deutlich zu sehen, wie dieser Park – anders als die klassischen Lustgärten, in denen ein Labyrinth das Geheimnis der Mitte birgt oder ein Hortus conclusus einen geheimen Schwerpunkt bildet, wie dieser Garten ohne Zentrum war. Merkwürdig spannungslos. Groß und ausgebreitet, doch ohne die Balance zwischen Kultur und Wucherung, zwischen Ordnung und Entropie, jenes fragile Gleichgewicht, das den Gartengestalter beflügelt und dem Flaneur die Ruhe gibt, die Gelassenheit, die er an einem solchen Ort sucht.

Warum sonst hätte er herkommen sollen?

Klar, dass Wild sich jetzt an jenen Text erinnerte, den er sich vor einiger Zeit aus dem Englischen übersetzt hatte. Die Exzerpte aus dem Buch eines amerikanischen Philosophen, geboren in Izmir, Lehrstuhlinhaber in Stanford für italienische und französische Literatur, Moderator der Radiosendung «Entitled Opinions» des uni-eigenen Senders, Gitarrist der Rockband Glass Wave, offenbar ein Tausendsassa. Der hatte über Epikur ein paar bemerkenswerte Seiten geschrieben; Wild hatte einiges abgetippt, obwohl er damals keine Verwendung dafür sah. Es ging um Epikurs Garten, gleichzeitig seine Akademie vor den Toren Athens.

«Um zu verstehen, wie der Garten den Kern von Epikurs Philosophie spiegelt oder sogar verkörpert», hatte Robert Pogue Harrison geschrieben, «muss man sich vergegenwärtigen, dass es sich bei diesem Garten zuallererst um einen Pflanzgarten handelte, der von den Schülern gepflegt wurde, welche sich von Früchten und Gemüse nährten, das sie zogen. Und doch war es nicht wegen des Gemüses und der Früchte allein, dass sie den Boden so eifrig bearbeiteten. Ihre Gartenarbeit war zugleich eine Art Erziehung in den Dingen der Natur, den Zyklen des Wachsens und Vergehens, ihrem allgemeinen Gleichmut, dem ausgewogenen Zusammenspiel von Erde, Wasser, Luft und Sonnenlicht. Hier, in der Konvergenz der natürlichen Kräfte im Mikrokosmos des Gartens offenbarte der Kosmos seine großen Harmonien, hier konnte die menschliche Seele ihre essenzielle Verbindung zur Materie wiederentdecken, hier zeigten lebendige Dinge wie dankbar sie antworten auf die Sorgfalt und die Umsicht des um sie besorgten Gärtners. Die wichtigste Lektion jedoch, die der epikureische Garten denen erteilte, die ihn beackerten, war, dass Leben – in all seinen Formen – unausweichlich vergeht und dass die menschliche Seele das Schicksal teilt von allem, was auf der Erde wächst und wieder verschwindet. Damit bestärkte der Garten den fundamentalen epikureischen Glauben daran, dass der Mensch zugänglich ist für moralische, geistige und intellektuelle Zucht, dass er kultiviert werden kann wie ein Garten.»

Wild hatte es gefallen, wie Epikur den abgenutzten Begriff von «Glück» ganz praktisch auffasste und mit der Arbeit im Garten verband.

«Epikur verstand Glück als einen geistigen Zustand und glaubte, er bestehe in erster Linie in der ‹Ataraxia›, was wir als ‹Seelenfrieden› oder als ‹Gemütsruhe› übersetzen könnten (…) Insofern wäre Ataraxia ein in hohem Grad erworbener Geisteszustand.» Ataraxia sei von der gleichen Spannung getragen wie die Heiterkeit des selbst angelegten Gartens, besonders der Spannung zwischen Ordnung und Entropie. Die Epikuräer, die im Hortulus arbeiteten, hätten gewusst, dass unablässige Wachsamkeit und Arbeit nötig war, um die wilden Kräfte der Natur im Zaum zu halten. Ataraxia habe die gleiche Wachsamkeit verlangt, um tief wurzelnden Beunruhigungen wie der Todesfurcht oder der Furcht vor den Göttern die Stirn zu bieten. Mit anderen Worten: Die Furcht sei durch das Leben in der Philosophie nicht überwältigt als vielmehr verwandelt worden, gleich wie Gärten – seien sie nur richtig angelegt – die Natur verwandeln und nicht vergewaltigen.

Für Epikur sei es notwendig gewesen, dass jeder selbst für sein persönliches Glück sorgte. Wie der Garten verlange persönliches Glück nach der eigenen Pflege, der culture de soi, wie Michel Foucault es genannt habe. «Epikurs Rückzug aus der Öffentlichkeit war kein Rückzug ins Private», hatte Harrison geschrieben. «Der Garten war privater Besitz, gewiss, und dieser Privatbesitz war wesentliche Voraussetzung für die Freiheit am Rand der behördlichen Autoritäten. Das intensive gemeinschaftliche Leben innerhalb der Gartenschule straft die Absonderung, die man diesem Rückzug nachsagte, Lügen.»

Es war nicht nur der kalte Tag gewesen, der Wild den Mantelkragen hatte hochschlagen lassen. Hier war alles auf Belehrung ausgerichtet, die Pflanzgärten, die Ausstellungen, die Sammlungen und die Gewächshäuser. Selbst die Beete im Bereich der großen Allee wussten nur von Ordnung und nichts von Hinfälligkeit und Sterben. Immer noch die alte, die königliche Behauptung. Immer noch der Rasterplan von Versailles.

Repräsentanz bedingt Ordnung. Hier hatten die Blumenbeete wie Soldaten anzutreten.

Erst die Gloriette, dachte Wild, als er langsam den Hügel hinunterging, erst dieser sozusagen ungerade Ort, dieses hortensische Seitenkabinett mit Erinnerungsbäumen, Tempelchen und dieser Spirale, diese von ihrem Kern her abgewickelte Wegschnecke, haben nun etwas bei mir bewegt. Mich auch nicht zufällig an meinen Pückler erinnert und Branitz mir vors Auge gerufen.

Vor dem Hauptgebäude, einem ehemals fürstlichen Gebäude, das nun nach zahlreichen Umbauten die Grande Galerie de l’Evolution beherbergte, standen in Kübeln eine Reihe von Weihnachtsbäumen, weiß gespritzt und gepudert wie die barocken Perücken der ehemaligen Bewohner des Palais, eine merkwürdige Entstellung von Pflanzen ausgerechnet in einem Botanischen Garten.

Da stand auch das Denkmal, hier am Ende der großen Fläche, dieses botanischen Aufmarschfeldes, Champ de Mars, das Denkmal, das dem ersten dort unten an der Seine, beim Eingang, entsprach. Dort Lamarck, hier aber Buffon, der große Zoologe. Eine überlebensgroße Bronze mit bronzener Perücke. In der Rechten ein Buch, in der Linken einen Vogel mit ausgebreiteten Flügeln, saß Buffon auf einem bronzenen Sessel. Dieser wiederum stand, wie merkwürdig, auf einem bronzenen Löwenfell. Der Schädel des Tiers ragte auf der einen Seite unter dem Fauteuil hervor, auf der andern sah Wild die Hinterläufe, hing der Schwanz, bronzen, herunter. Der Tierforscher auf dem Löwenfell, das musste eine Zeit gewesen sein, da die Zoologen sich noch mit der Entstehung der Arten beschäftigten und nicht mit ihrem Aussterben.

Wild, ça suffit!

Einen Garten sucht man auf, um ihn wieder verlassen zu können. Wild wollte zurück in die Ruppigkeit der Stadt, ins Gedränge, den Lärm, ins Heftige. Ein Seitenausgang führte in die Rue Buffon.

Knapp vor dem Gittertor, auf den letzten Metern, zog ein Gartenrechteck Wilds Aufmerksamkeit auf sich. Quadratische Beete, Rosentreppen und eine helle Steinfigur im Hintergrund. Betreten war hier nicht verboten. Wild trat über einen feuchten, leicht sumpfigen Eingangsbereich in den kleinen Garten. Winterruhe. Eine einzelne Rose blühte, die Pflanze hatte nur noch wenige, feuchte Blätter. Der früh gefallene und inzwischen wieder geschmolzene Schnee hatte das Blattgrün zerkocht und faulig zurückgelassen, braun wie welken Salat.

Le jardin des iris et des vivaces. Ein Ort für die verschiedensten Iris, über zweihundertsechzig Arten davon soll es geben, daneben Rosen, auch Rosmarin, Salbei. Päonie, las Wild, Begonie, Lilie, Clematis, Veronica, Dahlia, Geranium und Fuchsia. Narcissus poeticus. Aber nichts davon, außer Kraut, war zu sehen.

Eine nackte Steinfrau hielt einen Wasserkrug vor ihrer Scham. Sie neigte ihren marmornen Lockenkopf sanft zur Seite und sah, ihre nach unten gewendete Amphore so nachlässig in der Hand, als würde sie sie gleich fallen lassen, auf die kahlen Beete. Die Andeutung eines Lächelns stand in ihrem Gesicht, aber nur eine Andeutung. In die Lockenfrisur waren Blüten und Pflanzenblätter geflochten. Ein feines Tuch aus Stein bedeckte ihre linke Brust, die rechte war frei. Warum? Das dünne, auf der Brust wie Hauch aufliegende Tuch hatte den Bildhauer gewiss mehr Arbeit gekostet als die andere, die bloße Brust; warum hatte er sie bedeckt? Ja, das Halbverhüllte, dachte Wild, das Vorgezeigte und doch Verborgene, die Gleichzeitigkeit des Verweigerns und des Versprechens, es gehört eben zum Eros.

Eine Nymphe.

Die Skulptur war von einem Isidore Hippolyte Brion, anscheinend aus dem Jahr 1837. Bewegte Pariser Zeit. Wieder hergestellte Monarchie, Unterdrückung und der Weg zu 1848. Louis Philippe, der Lustmolch, und die Prinzessin Belgiojoso, die Freiheitskämpferin aus Italien. Sie hatte ihren Mann verlassen und dem Risorgimento angehört, vor Metternichs Schergen war sie aus dem habsburgisch besetzten Norditalien nach Marseille geflüchtet und aus Südfrankreich 1831 nach Paris gekommen.

Cristina verfasste kämpferische Pamphlete, war Botin geheimer Nachrichten und Passfälscherin. In der Zeit, in der Isidore Hippolyte Brion die Nymphe mit dem Krug modellierte, hatte die Belgiojoso, die ihr gleicht auf den Bildern, welche Francesco Hayez und Henri Lehmann von ihr gemalt haben, einen literarischen Salon in Paris, in dem Balzac, Chopin, Liszt und Musset verkehrten. Mit Heinrich Heine war sie befreundet.

Hatte sie dem Bildhauer Modell gestanden?

Jedenfalls schien es Wild, die nackten Damen, die in den Parks herumstehen, seien unter Umständen nicht so harmlos, wie das spätere Auge sie sieht. Noch jede dieser stummen Damen hat ein lebendes Vorbild, ein Modell, und sie drücken etwas aus, was über ihre Nacktheit, oder über ihre Rolle als Nymphe weit hinausgeht. Diese hier, wenn es denn wirklich die Belgiojoso war, hätte nebenbei einen vierbändigen Essay über die Entstehung des katholischen Dogmas geschrieben.

Hundertfünfzig Jahre später, an diesem klammen Wintertag hatte sie eine andere Botschaft. Wollte die Steinfrau Wild nicht sagen, wie unendlich langsam in ihrem Garten die Zeit vergeht? Und besonders, wenn man, zu Stein geworden, ein Jahrhundert über ihn wacht. Das einfach Daseiende, das Ruhende ist schwer auszuhalten, dachte er. Dabei sind solche Orte, die scheinbar ohne Attraktion sind, immer mehr die attraktivsten. Man muss nur einen Schritt über sie hinaus tun, und man sieht, dass der Rest der Welt inzwischen vernichtet worden ist.

Helen als Baigneuse, sie hatte das Tuch immer über beiden Brüsten verknotet, wenn sie aus dem Badezimmer kam, eine Grenze von blauem Frottee, die ihre helle Haut begrenzte. Man sollte nicht zu viel von ihr sehen. Und doch, einiges schon. Das Frottee reichte, vielleicht grade deshalb, weil es oben so viel decken musste, manchmal nur knapp über die Scham.

Einen Krug brauchte Helen nicht. Ein Krug im täglichen Leben wäre lächerlich. Das ist das Schöne an der Kunst, dachte Wild, dass dieser Krug, der im täglichen Leben lächerlich wäre, hier unbedingt sein muss. Der Wasserkrug der Nymphe; das Zeichen dafür, dass sie Quellgöttin sein darf.

Worunter wir uns nicht mehr vorstellen müssen, dachte Wild, als ein junges Mädchen, das halbverhüllt in einem Hain steht, ein Mädchen aus Fleisch und Blut, eines, das dich lieben könnte. Edouard Manet hat genau dies knapp dreißig Jahre später gemalt mit seinem «Déjeuner sur l’herbe», dies und nichts anderes.

Ein paar Schritte vor dem Ausgang auf die Rue Buffon, knapp vor dem Eisenzaun, stand ein weiß-rosa blühender Baum. Prunus subhirtella – Cerisier d’hiver. Aus der Familie der Rosaceae, Pflaume, Kirsche und Rose zugleich. Schüchtern tastendes Blühen an diesem Wintertag, in der Balance zwischen Abschied und Verheißung.

Die Gärten der Medusa

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