Читать книгу Sandras Rache - Dieter Landgraf - Страница 4
Kolumbien Februar 2015
ОглавлениеDas Flugzeug landet pünktlich. Über den Bordlautsprecher ertönt die angenehme Stimme des Flugkapitäns. „Bienvenidos a Bogotá, capital de Colombia“, begrüßt er die Reisenden in Bogota, der Hauptstadt von Kolumbien. Cornelia Nicolai holt ihr Handgepäck aus dem über ihren Kopf befindlichen Fach und stellt sich in den Gang. Vor Aufregung schlägt ihr das Herz bis zum Hals. Nach einer für sie gefühlten Ewigkeit öffnet die Stewardess die Tür. Der Gang bis zur Gepäckhalle scheint ihr unendlich lang zu sein. Um das Laufband für Reisegepäck haben sich schon etliche Personen gruppiert und warten auf ihre Koffer. Sie führt nur eine Reisetasche als Handgepäck mit sich. Darin haben alle ihre Habseligkeiten aus dem Spind der Haftanstalt Platz gefunden. Mehr besitzt sie nicht. Cornelia Nicolai durchquert mit schnellen Schritten die Halle. Die Zollabfertigung erfolgt zügig und dann steht sie in der Empfangshalle des Flugplatzes. Hunderte Menschen erwarten ihre Angehörigen und Gäste, die mit ihr im Flieger gesessen haben. Sie ist die Erste, die durch die schmale Tür des Abfertigungsraumes heraustritt. Voll innerer Anspannung sucht Cornelia Nicolai in der Menschenmenge nach der männlichen Person, die sie hier am Flughafen in Empfang nehmen soll. Gesehen haben sich Beide noch nicht, nur im Internet gechattet. Nach kurzer Zeit erspäht sie ein Schild mit der Aufschrift „Cornelia & Alejandro“. Das ist das vereinbarte Erkennungszeichen, das muss er sein – sind ihre kurzen Überlegungen - und geht erleichtert auf den Mann mit dem Schild zu. Bevor sie über die Form der Begrüßung nachdenken kann, hat er die soeben Angekommene herzlich in die Arme genommen und fest an sich gedrückt. „Willkommen in meiner Heimat, die hoffentlich recht schnell auch deine werden wird … hattest du einen angenehmen Flug?“, begrüßt sie Alejandro.
„Danke ja, ich konnte sogar ein wenig schlafen … von der Zeitumstellung verspüre ich im Moment gar nichts.“
„Ja, ja … weil du der Sonne entgegengeflogen bist … wenn ich in Europa war, hatte ich auf dem Rückflug auch keine Probleme.“
„Ein wenig Bange war mir schon, ob du mich am Flugplatz auch wirklich erwartest?“
Etwas irritiert fragt Alejandro: „Verstehe ich nicht … das haben wir doch so vereinbart.“
„Mag sein, aber euch Kolumbianern eilt der Ruf voraus, dass ihr es mit der Pünktlichkeit nicht so genau nehmen würdet.“
Laut lachend entgegnet er: „So Unrecht hast du gar nicht … bei uns sagt man, das Einzige in Kolumbien, was pünktlich kommt und geht ist die Sonne … die geht täglich sechs Uhr auf und achtzehn Uhr wieder unter.“
Jetzt muss auch Cornelia Nicolai lachen: „Dann habe ich ja schon eine erste große Aufgabe, damit du so zuverlässig bleibst, wie heute … die Pünktlichkeit werde ich dir ganz schnell beibringen.“
Genau so freundlich erwidert Alejandro: „Oder es wird umgekehrt und du gewöhnst dich an unsere nicht so ganz exakten Zeitabläufe.“
Auf dem Weg zum Parkplatz fragt er vorsichtig: „Als ich dich zur Begrüßung in die Arme geschlossen habe … sag mal … war dir das unangenehm … ich hatte das Gefühl, dass du dich ein wenig dagegen gesträubt hast.“
„Nein, es war mir wirklich nicht unangenehm … nur etwas unerwartet … dein südamerikanisches Temperament ist nur ein klein wenig ungewohnt für mich.“
„Toll, dann habe ich auch schon eine großartige Mission … aber eine viel angenehmere als du mit der Pünktlichkeit … ich werde dich in unsere ungezwungene südländische Lebensart einführen … da können wir beide eine Menge Spaß haben“, fügt er scherzend hinzu.
„Was meinst du damit?“, fragt sie, wohl wissend wie die Antwort lautet.
„Ganz einfach … du sollst die Lebendigkeit und Vitalität von mir als Kolumbianer kennenlernen.“
Auf dem Weg zum Parkplatz nennt er ihr seinen vollständigen Namen und sie erfährt, dass alle Kolumbianer zwei Vornamen und zwei Familiennamen haben.
„Dann muss ich dich also mit Alejandro Juan Sanchez Rodriguez ansprechen?“
„Um Gottes Willen, nein … wenn du mich Alejandro nennst, reicht das vollkommen aus … so kompliziert sind wir nun auch wieder nicht.“
Vor einem kleinen Jeep bleibt er stehen. Etwas ungläubig schaut sie ihn an.
„Ist das dein Auto?“, fragt sie vorsichtig.
„Ja, richtig … das ist ein Willy … nicht besonders komfortabel … aber zuverlässig … und man kann eine ganze Menge auch selbst reparieren … stammt noch aus den fünfziger Jahren.“
„Und damit wollen wir die weite Strecke bis Medellin schaffen?“, fragt sie besorgt.
„Keine Angst … es sind doch nur ungefähr vierhundert Kilometer … das schafft mein Willy in sieben Stunden … und du kannst dir dabei die wilde Schönheit meines Landes ganz in Ruhe anschauen.“
Leicht fröstelnd bemerkt sie: „Von den Temperaturen habe ich mir Kolumbien viel wärmer vorgestellt … meine Jacke ist in der Reisetasche … die werde ich mir jetzt anziehen.“
„Da hast du nur zum Teil recht … jetzt in den Morgenstunden ist es noch kühl … Bogota liegt zweitausendsechshundert Meter über dem Meeresspiegel … dafür ist es doch trotzdem relativ warm … natürlich nicht zu vergleichen mit den Temperaturen in Medellin.“
„Wie hoch liegt denn deine Heimatstadt?“
„Im Vergleich zu Bogota bei Weitem nicht so hoch … es sind nur eintausendfünfhundert Meter.“
„Und dann ist es dort sicher auch viel wärmer.“
Alejandro gerät fast ins Schwärmen: „Weißt du … wir nennen Medellin auch die Stadt des Ewigen Frühlings … es herrschen das ganze Jahr über Temperaturen so um die dreißig Grad. Ich freue mich schon riesig, dir meine immer grüne und blühende Stadt zu zeigen … im Botanischen Garten kannst du dann als Erstes die Flora und Fauna von Kolumbien bestaunen … deine Jacke kannst du dann auch getrost zu Hause lassen“, fügt er lächelnd hinzu.
Ausgesprochen zurückhaltend fragt sie: „Im Internet habe ich gelesen, dass Medellin auch die gefährlichste Metropole der Welt sei … stimmt denn diese Behauptung?“
„Das ist Geschichte … vor über dreißig Jahren war die Aussage schon zutreffend … aber heute sind die Zeiten des Kokain-Königs Pablo Escobar glücklicher Weise vorbei … heute bestimmt nicht mehr Gewalt und Korruption das alltägliche Leben … die Normalität, wie du das Leben aus Europa kennst, hat auch hier längst Einzug gehalten.“
„Ist denn aus dieser Zeit nichts zurückgeblieben … sind sich alle Menschen wirklich sicher?“, fragt sie wiederum ganz behutsam, um Alejandro in seinen Gefühlen für seine Heimatstadt nicht zu verletzen.
„Auf jeden Fall gibt es noch Hinterlassenschaften aus dieser unrühmlichen Phase von Medellin … das wird sicher auch noch einige Jahre dauern, bis alles beseitigt ist.“
„Was sind das denn für Relikte … was muss ich mir darunter vorstellen?“
Um nur zwei Beispiele zu nennen: „Wohnhäuser oder auch Wohnungen sind generell bewacht und haben oft auch Alarmanlagen … und die Motorradfahrer tragen das Kennzeichen ihres Krades auf Warnwesten.“
„Das mit der Sicherung der Wohnungen verstehe ich … aber warum das Motorradkennzeichen auf einer Weste?“
In Zeiten der Herrschaft der Maffiabosse wurden oftmals unbequeme Personen von vorbeifahrenden Motorradfahrern erschossen … die konnten dann unerkannt davonfahren … dem will man heute vorbeugen.“
Cornelia Nicolai hört aufmerksam zu. Ihr erschließt sich durch die Ausführungen von Alejandro eine bisher unbekannte Welt. Sie könnte am liebsten noch tausend Fragen stellen, doch wegen des dichten Verkehrs und dem ständigen Hupen der Autofahrer hinter und neben ihnen, will sie Alejandro nicht vom Fahren ablenken. An einer Ampelkreuzung, an der sie wegen Rot halten müssen sagt sie: „Solch einen dichten Verkehr hatte ich mir nicht vorgestellt … das erinnert mich an einen Urlaub in Italien … als wir durch Neapel gefahren sind, hat mein damaliger Ehemann die Äußerung gemacht: Wer in Neapel Auto fahren kann, der bringt es auch auf der ganzen Welt.“
Alejandro schaut sie fragend an und äußert: „Du warst schon einmal verheiratet … warum hast du dich denn von deinen Partner getrennt?“
„Ach, weißt du, dass ist nun schon über zwanzig Jahre her … er war unerträglich eifersüchtig, obwohl ich ihm nie Grund dafür gegeben habe … aber das sind alte Geschichten … damit sollten wir uns nicht belasten.“
„Doch, doch … wenn wir uns ein gemeinsames Leben aufbauen wollen, dann können wir unsere Vergangenheit nicht einfach über Bord werfen … und bei deinem Aussehen ist wohl die Reaktion deines damaligen Partners nicht verwunderlich.“
Cornelia Nicolai fühlt sich wegen des Komplimentes geschmeichelt. Trotzdem beschleicht bei diesen Worten ein eigenartiges Gefühl. Sie hat ein dunkles Geheimnis, was sie auf keinen Fall preisgeben möchte. Sie ist doch deshalb aus ihrer Heimat ausgewandert, damit sie unbelastet ein neues Leben beginnen kann. Doch viel Zeit, diesen Gedanken nachzuhängen, bleibt nicht. Schon erzählt Alejandro munter weiter: „Wenn ich es so richtig bedenke … wir wissen eigentlich recht wenig voneinander … aber das wird sich in den nächsten Tagen ändern … ich habe mir extra ein paar Tage von der Arbeit frei genommen … ich stehe dir also ab sofort voll zur Verfügung.“
Weitere Bemerkungen muss er sich im Moment verkneifen, denn die Ampel schaltet auf Grün und Alejandro widmet sich wieder ganz dem zäh dahinfließenden Straßenverkehr. Der Sitz im Auto ist bequemer, als es Cornelia Nicolai bei der ersten in Augenscheinnahme des kleinen „Willy“ vermutet hat. Die Reisestrapazen und die Zeitumstellung fordern jetzt ihren Tribut. Langsam schließen sich ihre Augen. Schon im Dahindämmern vernimmt sie Alejandros Stimme: „Schau, das ist der Monserrate … er ist über dreitausend Meter hoch.“
Dann übermannt sie der Schlaf. Ein lautes Stimmengeschwirr und ebenso laute Musik wecken sie unsanft aus ihren Träumen. Ihr ist unsäglich heiß. Alejandro hält vor einem Bistro, um etwas zu Trinken und zu Essen zu besorgen. Als er bemerkt, dass Cornelia Nicolai die Augen öffnet, sagt er heiter: „Entschuldige bitte den Lärm … aber das ist normal in meinem Land … das ist südamerikanisches Leben“, und mit Blick auf die Tanzenden bemerkt er weiter, „Salsaklänge hörst du bei uns zu jeder Tages- und Nachtzeit … wir haben den Rhythmus mit der Muttermilch aufgesogen … und getanzt wird überall, am liebsten wie hier im Freien.“
Nur langsam kommt sie zu sich und es kommt ihr vor, als würde sie sich in einer anderen Welt befinden.
„Oh, ich bin wohl ein ganz klein wenig eingeschlafen“, bringt sie mühsam hervor.
„Ein klein wenig ist leicht untertrieben … wir sind schon vier Stunden gefahren und haben etwa die Hälfte der Strecke hinter uns“, antwortet er immer noch vergnügt.
„Da habe ich wohl viel verpasst … puh, ist das warm geworden“, sagt sie und zieht sich die Jacke aus.
„Nicht nur warm … hier ist es richtig heiß … wir befinden uns am Ufer des Rio Magdalena, es ist unser größter Fluss … und der liegt nur zweihundert Meter über dem Meeresspiegel.“
„Dann sind wir schon über zweitausend Meter nach unten gefahren“, überlegt Cornelia Nicolai laut, „dann müssen wir bis Medellin ja genauso viele Meter wieder hoch fahren.“
„Nicht ganz … aber so in etwa hast du recht … wenn wir das Flussufer hinter uns haben kommen die Serpentinen … da macht das Autofahren richtig Spaß.“
Weil Alejandro ihr viel über sein Land erzählt, vergeht die Zeit wie im Fluge. Als sie durch Dorandal fahren, erfährt sie, dass Pablo Escobar – der Drogenkönig – hier wie ein Volksheld verehrt wird. Er hatte Häuser für die Armen bauen lassen, damit diese wenigstens ein Dach über dem Kopf haben. Diesen Widerspruch begreift Cornelia Nicolai nicht so richtig. Doch sie möchte Alejandro in seinem Erzählen nicht unterbrechen und hebt sich die Frage für später auf. Und dann beginnen die Serpentinen.
Alejandro bemerkt: „Wenn wir oben auf dem Gipfel ankommen, dann sind es nur noch zwanzig Kilometer bis Medellin … wie sagt ihr doch gleich in deiner Heimat … nur noch ein Katzensprung … oder so ähnlich.“
„Ich bin schon mächtig aufgeregt … schließlich soll es doch meine neue Heimat werden.“
„Kann ich voll und ganz verstehen … aber keine Bange … ich kenne keinen einzigen Menschen, dem Medellin nicht gefallen hat.“
Cornelia Nicolai kommt aus dem Staunen nicht heraus, als sie die mächtigen Hochhäuser von Medellin wahrnimmt.
„Das sieht doch genau so aus, wie bei uns zu Hause … ich meine damit natürlich die Großstädte“, äußert sie begeistert, „ich kann überhaupt keinen Unterschied erkennen.“
„Es wird ja auch behauptet, dass Medellin die europäischste Stadt Südamerikas sein soll.“
„Und was bedeutet Exito … habe ich jetzt ein paar Mal gelesen.“
„Das ist eine Supermarktkette … wie bei dir zu Hause … nur hier hat sie eben einen anderen Namen … da gehen
wir morgen gemeinsam einkaufen.“
„Und wer ist Juan Valdez … steht auch überall auf den Werbetafeln.“
„Das ist wiederum eine Cafehaus-Kette … auch diese besuchen wir in den nächsten Tagen … dort bekommst du den besten Kaffee auf der ganzen Welt … er wird aus der Arabica Kaffeebohne gewonnen.“
„Und warum soll das der beste Kaffee sein?“, fragt sie neugierig.
„Das Besondere ist, dass die Kaffeekirschen nur mit der Hand geerntet werden … damit ist garantiert, dass man nur die schon reifen Früchte pflückt … übrigens … bei uns gibt es ungefähr eine halbe Million Familien, die im Hochland Kaffee anbauen.“
Irgendwann biegt Alejandro von der dreispurigen Autostraße ab und sie durchfahren ein Wohngebiet.
„Hier sind die Häuser doch gar nicht umzäunt, wie du es mir in Bogota geschildert hast?“
„Nein, hier nicht … die Miete für Wohnungen mit Bewachung können sich nicht alle leisten … es ist nicht anders als in deiner Heimat … dort wohnen doch auch nicht alle in Villen oder Einfamilienhäusern.“
Die Steigung der Straße nimmt beängstigend zu. Alejandro sieht, wie sich seine Beifahrerin krampfhaft am Türgriff festklammert und sagt beruhigend: „Ja, Medellin liegt im Tal … und die Anden sind nun einmal kein kleiner Hügel … meine Wohnung liegt etwas höher … aber dafür hast du von meinem Balkon einen einzigartigen Ausblick auf Medellin … wir sind auch gleich angekommen.“
Das Auto hält vor einem riesigen Gittertor. Alejandro weist sich aus und sie fahren in die Wohnanlage. Etwas erhöht nimmt sie einen Swimmingpool wahr.
„Das finde ich ja ganz komfortabel … eine Wohnung mit Freibad … und das kann jeder nutzen?“
„Nein, das Freibad steht nur den Bewohner der Anlage zur Verfügung … man nennt die Wohnanlagen bei uns Gated Communities … die gibt es übrigens überall auf der Welt … vielleicht bei uns häufiger … das hat etwas mit der Geschichte zu tun, als hier noch der Drogenkrieg herrschte … die Angst vor kriminellen Straftaten kann man nicht in ein paar Jahren ausmerzen … das dauert bestimmt noch mehrere Generationen … aber wie ich schon mehrmals erwähnt habe … mein Land befindet sich dazu auf einem guten Weg.“
„Einmal eine ganz andere Frage … du hast mir doch erzählt, dass achtzehn Uhr die Sonne untergeht … und es ist gleich so weit … ich finde aber, dass im Moment noch nicht einmal die Dämmerung eingesetzt hat.“
„Das wird wohl die nächste Überraschung … der Übergang vom Tag in die Nacht dauert bei uns nur ganz kurze Zeit … dann ist es mit einem Male dunkel … wirst du gleich erleben … schließlich befinden wir uns nahe am Äquator.“
Der Fahrstuhl hält in der elften Etage.
„Höher geht es nicht. Ich wohne ganz oben … in der letzten Etage“, bemerkt Alejandro, bevor er die Wohnungstür aufschließt.
Cornelia Nicolai ist wie so oft an diesem Tage fast sprachlos. Sie erblickt ein Wohnzimmer, geschätzt fünfzig Quadratmeter groß mit einer sechs Meter breiten Glastür zum Balkon. Rechts von ihr befindet sich eine offene Küche, die durch einen Tresen vom Wohnraum getrennt ist. Alejandro bemerkt ihr Zögern und fordert sie zum Eintreten auf.
„Willkommen in deinem neuen Heim … oder sollte ich besser sagen … in unserem zu Hause.“
„Danke … ich bin nur überrascht … das habe ich mir so nicht vorgestellt.“
Er zeigt ihr die drei Zimmer und zwei Bäder. Bei einem weiteren kleineren Raum bemerkt Alejandro: „Das ist das Zimmer für unsere Putzfrau … deshalb auch die Duschkabine … sie kommt zweimal in der Woche … ein ganz fleißiges Mädchen.“
„Nun brauchst du sie aber nicht mehr … jetzt hast du doch mich … ich bin Hausarbeit gewöhnt.“
„Du meinst es bestimmt gut … aber sie verdient damit das Geld für ihre Familie … und das kann sie nicht entbehren … eine andere Arbeit zu finden ist schwer … sie ist seit dem Tod von meiner Frau schon hier … ich würde es nicht über das Herz bringen, sie zu entlassen.“
„Das wusste ich nicht … entschuldige bitte … ich habe dabei auch an unser Geld gedacht.“
Als er ihr das Gehalt für die Putzfrau nennt, ist sie über die Geringfügigkeit verwundert und sagt: „Das ist aber wenig für die vier großen Zimmer, die Bäder … und dann noch für acht Tage im Monat.“
„Für unsere Verhältnisse geht das schon in Ordnung … du darfst nicht ständig alles in die Währung deines Landes umrechnen … dafür sind die Preise und Einkommen zu unterschiedlich … aber das wird dir in den nächsten Tagen sicher noch öfter passieren … wenn du deine ersten Peso selbst verdient hast, dann hört das Umrechnen von ganz allein auf.“
Vor den großen Einbauschränken im Schlafzimmer bleibt sie stehen und fragt: „Das hat bestimmt eine Menge Geld gekostet … was machst du denn damit,
wenn du eines Tages hier ausziehen solltest?“
„Das ist kein Problem … die gehören zur Wohnung und sind im Mietpreis enthalten.“
„Jetzt fange ich langsam an, zu verstehen, was du mit den Preisen und dem Gehalt meintest … wenn ich überlege, was eine solche Wohnung bei uns zu Hause kosten würde … aber keine Angst, ich fange jetzt nicht gleich wieder mit dem Vergleichen an … ich bin ganz still.“
Dann blickt sie sich um, als würde sie etwas suchen.
Alejandro bemerkt es und fragt belustigt: „Ist dir etwas abhanden gekommen?“
Cornelia Nicolai lacht laut auf und bemerkt amüsiert: „Das nicht … aber ich habe gerade die Heizkörper gesucht … ist das nicht komisch?“
Auch Alejandro muss lachen und sagt: „Hier brauchen wir eher eine Klimaanlage und keine Heizgeräte.“
„Ich bin noch nicht einmal einen ganzen Tag in Kolumbien … und so viele neue Eindrücke … die muss ich erst einmal verarbeiten“, sagt sie, immer noch mit einem Lächeln im Gesicht.
„Jetzt zeige ich dir aber endlich das Schönste von der ganzen Wohnung … die Ansicht von Medellin am Abend“, bemerkt Alejandro und nimmt sie an die Hand.
Unbemerkt von Cornelia Nicolai wurde es inzwischen stockdunkel. Beide treten auf den Balkon und völlig verzückt von dem Anblick auf die Stadt flüstert sie: „Das ist ja ein einziges Lichtermeer … so etwas habe ich noch nie in meinem Leben gesehen.“
Alejandro legt sanft den Arm um ihre Schultern und versichert ihr: „Es wird nicht der letzte Abend sein, an dem wir auf die Stadt herunterschauen … ich will hoffen, dass es noch viele, viele Jahre so sein wird.“
Zum ersten Mal folgt auf die Worte ein langer und inniger Kuss. Auf die Bitte von ihr schlafen sie in dieser Nacht in getrennten Zimmern. Cornelia Nicolai empfindet für Alejandro mehr als nur Sympathie. Sie ist sich nur noch nicht sicher, ob es auch die große Liebe ist. Obwohl sie müde und kaputt ist, findet sie lange Zeit nicht in den Schlaf. Ihr ist bewusst, dass sie das neue Leben mit einer Lüge aufbaut. Doch wie würde Alejandro darauf reagieren, wenn sie sich als eine Mörderin zu erkennen gibt. Sie weiß es nicht. Im Gefängnis waren die Überlegungen über einen Neuanfang viel leichter, als hier im wirklichen Leben. Ihr weibliches Gespür sagt ihr, dass dieser Mann sie sehr gern hat. Auch deshalb fällt es ihr schwer, ihm die Wahrheit über ihre dunkle Vergangenheit zu sagen. Schließlich beseitigt sie alle ihre Zweifel mit der Überlegung, dass sie in diesem Land eine völlig Unbekannte ist und niemand ein Recht darauf hat, etwas über ihre Vergangenheit zu wissen. Sie hat aus ihrer schweren Verfehlung gelernt und würde nie wieder solch eine schlimme Tat begehen. Mit diesen Gedanken schläft sie dann irgendwann in den frühen Morgenstunden ein.
Beim Frühstück fragt sie: „Du hast mir versprochen, mich in den ersten Wochen immer zu begleiten … bekommst du so einfach frei … nur weil ich jetzt hier bin?“
„Ich habe ausreichend vorgearbeitet … als Projektleiter der
Messegesellschaft Plaza Mayor bin ich für die Mode- und Textilmesse verantwortlich … und die findet erst in einem halben Jahr statt … so habe ich problemlos den Urlaub genehmigt bekommen.“
Die nächsten Tage sind ausgefüllt mit ausgedehnten Einkaufstouren. Cornelia Nicolai braucht so gut wie Alles. Was sie in der Reisetasche mitgeführt hat, wandert in den Müll. Es sind alles Kleidungsstücke, die für das Klima in Medellin nicht geeignet sind. Sie lernt auf diese Weise die Stadt kennen und verliebt sich nicht nur in diese, sondern auch in Alejandro. Schon in der dritten Nacht haben sie ein gemeinsames Bett und Cornelia Nicolai lernt das südamerikanische Temperament von Alejandro ausgiebig kennen. Es sind wunderschöne glückliche Tage für beide. Alejandro zeigt ihr die Seilbahn, die die höher gelegenen Wohnviertel – für die Einheimischen sind es die Favelas – mit dem Zentrum im Tal verbindet. Auch die wohl längste Rolltreppe der Welt mit ungefähr vierhundert Metern fasziniert Cornelia Nicolai. In den Gebieten, wo in früheren Jahren tiefste Armut herrschte, sind heute Bibliotheken eingerichtet und die Bewohner sind nicht mehr abgeschnitten vom pulsierenden Leben der Metropole. So langsam begreift sie, warum Alejandro von Medellin als der innovativsten Stadt der Welt spricht. Das eindruckvollste Erlebnis steht ihr noch bevor. Geheimnisvoll sagt Alejandro eines Morgens: „Heute fahren wir ins Zentrum … der Willy bleibt hier … die U-Bahn ist bequemer und wir vergeuden keine Zeit mit dem ewigen Suchen nach einem Parkplatz … es wird für dich ein ganz besonderes Erlebnis werden … alles andere sollte mich wundern.“
„Ins Zentrum … aber ich habe doch bereits alles neu, Kleidung, Schuhe, Kosmetik … was wollen wir denn dort?“, fragt sie leicht irritiert, weil sie sich unter dem Begriff Zentrum eine Einkaufsmeile vorstellt.
„Nein, nein, einkaufen gehen wir heute nicht … ich möchte dir gerne unseren schönsten Platz zeigen, den Plaza de las Esculturas … wir sagen der Einfachheit halber nur Plaza Botero.“
„Bisher waren deine Ideen stets ein Volltreffer … wie soll es da heute anders sein“, sagt sie lächelnd.
Mit der vollgestopften U-Bahn sind sie in kurzer Zeit im Zentrum angelangt.
„Hier ist ja ein Lärm … dagegen geht es in unserer Wohngegend richtig geräuschlos zu … und ich dachte bisher, dass es schon bei uns wahnsinnig laut wäre.“
„Das hat etwas mit unserer Lebenslust und Lebensfreude zu tun … vielleicht ist die Sonne und der immer währende Frühling schuld“, bemerkt er belustigt über ihre Wahrnehmung.
„Schau einmal … dort sind ja riesige Skulpturen“, ruft sie aus, als sie aus der Unterführung der U-Bahn am Eingang des Platzes stehen.
„Das sind Kunstwerke von Fernando Botero … er ist hier in Medellin geboren und hat sie der Stadt geschenkt … nicht jeder Künstler ist so spendierfreudig … deshalb heißt der Platz auch Plaza Botero … übrigens … seine Werke stehen auch in Mailand, Berlin und vielen anderen Städten dieser Welt.“
„Bei ihm sehen die Frauen aber ganz schön proper aus“, bemerkt sie, als sie vor einer solchen Bronzestatue stehen.
„Ja, so ist das Leben … er verbindet großartig die Üppigkeit zur Sinnlichkeit … das ist eben seine Kunst, das wirkliche Leben darzustellen.“
Als sie sich wegen dieser Bemerkung die Frauen um sich herum anschaut, muss sie ihm Recht geben. Da versucht keine, ihre kleinen Pölsterchen zu verstecken. Im Gegenteil, viele der opulenten Kolumbianerinnen haben enge T- Shirts an, so als wollten sie damit absichtlich auf ihre Formen aufmerksam machen.
„Wie wäre es denn mit einem Eisbecher … auf der anderen Seite des Platzes befindet sich ein schönes Cafe … dort sitzen wir etwas erhöht und können dem Treiben auf dem Platz in Ruhe zusehen … und das Juan Valdez Cafe wolltest du doch schon bei unserer Fahrt von Bogota nach Medellin kennenlernen.“
Freudig willigt sie in das Angebot ein. Vom vielen Laufen schmerzen ihr die Füße und unter der gleißenden Sonne mitten auf dem Platz ist es inzwischen ziemlich warm geworden. Zum Glück liegt die Terrasse des Cafes im Schatten.
Die Eiskarte ist umfangreich. Ein wenig ratlos blättert sie und kann sich nicht entscheiden. Es sieht alles einfach verführerisch aus. Alejandro bemerkt ihre Unentschlossenheit und fragt: „Soll ich dir eine Empfehlung geben … probiere doch einmal den Tropical Eisbecher … da sind alle Früchte enthalten, die es bei uns gibt … zum Beispiel Curuba und Cherimoya, die vielleicht in Europa nicht so bekannt sind … auf alle Fälle kannst du damit nichts falsch machen.“
Als der Eisbecher vor ihr steht bemerkt sie lachend: „Das reicht doch für eine ganze Woche“, und nach den ersten Kostproben fährt sie fort, „du hast Recht … es schmeckt einfach köstlich.“
Beide schauen auf das Geschehen vor ihnen auf dem Platz. Jede der dreiundzwanzig Skulpturen ist von einer Menschenmenge förmlich umlagert und es werden fleißig Erinnerungsfotos gemacht. Mit einem Male äußert sich Cornelia Nicolai: „Jetzt habe ich aber genug gefaulenzt … wir sollten mein kleines Cafe und das Hotel in Angriff nehmen … vor allem, bevor ich mein ganzes Geld verjubelt habe.“
Mit ernster Mine antwortet Alejandro: „Ganz so einfach geht das nicht … dein Visum für Kolumbien läuft in zwei Monaten ab … du musst dich entscheiden … entweder für immer hier zu bleiben oder wieder zurück in deine Heimat zu fahren … wenn du bleiben möchtest, dann ist eine Heirat unausbleiblich.“
„Ich weiß doch gar nicht, ob du mich auch heiraten willst … gesagt hast du es mir noch nicht, seitdem ich hier bin.“
Urplötzlich kniet er neben ihr und macht wohl einen der außergewöhnlichsten Heiratsanträge, die man in dieser Form recht selten in der Öffentlichkeit sieht.
„Willst du meine Frau werden … ich möchte so gerne mit dir bis an mein Lebensende zusammen sein … ich liebe dich für alle Zeiten“, sagt er laut und mit fester Stimme.
Sie spürt, dass alle Blicke der Gäste auf der Terrasse auf sie gerichtet sind. Vor Freude und vor Rührung kommen ihr die Tränen.
„Aber natürlich will ich deine Frau werden … etwas Schöneres kann ich mir nicht vorstellen … ich liebe dich und könnte mit dir bis ans Ende der Welt gehen.“
Behutsam nimmt sie seinen Kopf in beide Hände und gibt ihm einen leidenschaftlichen Kuss. Alle Gäste im Cafe applaudieren und rufen laut: „Bien hecho … bien hecho … buena suerte … buena suerte.“
Bravo, bravo, viel Glück, viel Glück klingt wie Musik in ihren Ohren. Auch die in der Nähe der Terrasse Vorbeigehenden schauen zu ihnen hoch. Nachdem Alejandro wieder auf seinem Stuhl Platz genommen hat, schaut sie ihn ein wenig verlegen an. Er nimmt ihre Hände und drückt sie ganz fest.
„Es braucht dir nicht peinlich zu sein … wir Kolumbianer zeigen gerne unsere Gefühle … und wer so viele Glückwünsche bei seinem Heiratsantrag bekommt … dem braucht es um die Zukunft nicht bange zu sein.“
Nach einer Weile ist das Augenmerk der Gäste schon längst nicht mehr auf Cornelia und Alejandro gerichtet. Sie lehnt sich zurück und schaut ihren Bräutigam verliebt an. All das, was sie vor ihrer Abreise im Internet über das Machogehabe der kolumbianischen Männer gelesen hat, trifft auf ihn absolut nicht zu. Er ist temperamentvoll und trotzdem in seinen Handlungen besonnen. Zudem sieht er mit seinen schwarzen Haaren und dem etwas dunklen Teint verdammt gut aus. Wie einfach es doch ist, richtig glücklich zu sein – überlegt sie im Stillen und bemerkt: „Wenn du einverstanden bist, dann gehe ich gleich morgen zum deutschen Honorarkonsulat und erledige die notwendigen Formalitäten.“
„Ich fahre dich dahin … vielleicht brauchst du meine Hilfe.“
Wie ein Blitz durchfährt es Cornelia Nicolai, als sie diese Worte vernimmt. Sie überlegt – wenn Alejandro mitkommt und die Beamten stellen ihr Fragen zu ihrer Vergangenheit – dann könnte alles aus sein, bevor es richtig angefangen hat. Sie bekommt plötzlich ein beklemmendes Gefühl. Ganz schnell antwortet sie: „Das wird nicht nötig sein … ich komme schon allein damit klar … außerdem verstehst du sowieso kein deutsch … ich bin doch kein kleines Mädchen, welches man an der Hand führen muss.“
Er gibt sich ohne Widerspruch damit zufrieden. Von der Ursache, weshalb sie seine Begleitung nicht wünscht, kann er ja nichts wissen, geschweige denn ahnen. Scherzend fragt er: „Aber die Hochzeitsreise … die machen wir doch gemeinsam?“
Cornelia Nicolai ist froh, dass sie diese kleine Klippe ohne Schwierigkeiten überwunden hat. Voller Neugier und Zuversicht fragt sie: „Wohin will mich denn mein Bräutigam entführen?“
„Da gibt es verschiedene Möglichkeiten … Kolumbien ist groß und hat viele Sehenswürdigkeiten … mir wäre die Karibik am liebsten … Cartagena zum Beispiel ist die schönste Kolonialstadt Südamerikas.“
„Ach Alejandro, weißt du … bei dir ist in Kolumbien alles das Schönste und Beste auf der Welt … übertreibst du nicht ein manches Mal ganz gewaltig?“
„Mag sein, dass ich ab und zu ein klein wenig übertreibe … aber bei Cartagena bestimmt nicht … die Stadt wurde zum UNESCO Welterbe ernannt … und daran habe ich mit einhundert Prozent Sicherheit keinen Anteil“, sagt er lachend, ohne auf ihre kleine Kritik einzugehen, „und Salento musst du auch unbedingt sehen … dort stehen die einzigartigen Wachspalmen … bis zu sechzig Meter hoch können die werden … aber für eine Hochzeitsreise vielleicht doch nicht so geeignet … wir fahren in die Karibik.“
„Bisher hast du mir schon so viel Schönes gezeigt … warum sollte ich daran zweifeln, dass es dieses Mal nicht genau so wird“, äußert sie und es tut ihr schon leid, etwas über seine kleinen Übertreibungen gesagt zu haben.
Auf dem Konsulat herrscht eine angenehme Atmosphäre. Die Mitarbeiterin ist freundlich und zuvorkommend. Cornelia Nicolais Befürchtung, wegen ihrer Vergangenheit angesprochen zu werden, bewahrheitet sich glücklicherweise nicht. Nunmehr steht einer Heirat mit Alejandro nichts mehr im Wege. Nur eine Kleinigkeit ist noch zu erledigen. Sie muss der katholischen Kirche beitreten. Dazu nimmt sie Lehrstunden bei einem Priester und lässt sich taufen. Auch das wird auf unbürokratischem Wege erledigt. Die nächsten Tage sind angefüllt mit den Vorbereitungen auf das Hochzeitsfest. Nach Aussagen von Alejandro soll es nur eine kleine Feier werden. Eines Tages kommt er mit mehreren Zetteln in der Hand zu ihr an den Couchtisch.
„Dann wollen wir einmal die Gästeliste vervollständigen … es soll, wie ich dir schon angekündigt habe, nur ein kleines Fest werden“, sagt er fröhlich und lacht verschmitzt.
„Aber ich kenne doch noch nicht einmal deine Eltern, geschweige denn Bekannte oder weitere Verwandte von dir … ich glaube, dabei kann ich dir nicht helfen.“
„Meine Eltern wirst du auf alle Fälle schon bald kennenlernen … sie haben sich in der Nähe von Santa Rosa eine Finca gemietet, die sich direkt im Nationalpark Los Nevados befindet … von dort ist es nicht weit zu dem Thermalbad del Cabal … und meine Mutter schwört auf die heilende Kraft des unterschiedlich temperierten Wassers.“
„Ich freue mich schon riesig, endlich deine Eltern kennenzulernen … aber zurück zu meiner Frage … wie soll ich dir denn bei der Vervollständigung der Liste unserer Hochzeitsgäste behilflich sein, wenn ich niemand kenne?“
„Doch, doch … wem zum Beispiel möchtest du denn aus deiner alten Heimat einladen … oder ist der Hochzeitstermin dafür zu kurzfristig?“
Mit einem Mal fallen ihr alle ihre Sünden ein – tatsächlich hat sie total vergessen, mit Anke Falk zu telefonieren. Und sie hatte es ihr doch beim Abschied fest versprochen. Aber die ersten Wochen waren sprichwörtlich wie im Fluge vergangen und es gab so viel Neues, dass sie einfach nicht mehr daran gedacht hat.
„Ich habe leider keine Verwandten mehr … aber meine beste Freundin sollte schon mit dabei sein … ich werde nachher gleich mit ihr telefonieren“, bemerkt Cornelia Nicolai und schaut auf die von Alejandro mitgebrachten Listen, „und das soll nur eine kleine Feier werden … auf den vier Seiten stehen doch sicher mindestens einhundert Namen.“
Alejandro lacht und sagt: „Es sind genau einhundertzwanzig Personen … das ist bei uns in Kolumbien eben ein Fest nur im kleinen Kreis.“
„So viele Gäste … das wird uns bestimmt eine Menge Geld kosten“, sagt sie besorgt und denkt dabei an ihr Erspartes, welches in die kleine Cafe-Bar und das Hotel investiert werden soll.
„Die Kosten dafür halten sich in Grenzen … sonst ist es üblich, dass die Eltern der Braut dafür aufkommen … aber bei uns geht das nicht … also müssen wir die Eltern des Bräutigams begeistern … aber keine Angst … sie richte schon die Hochzeit aus.“
„Da bin ich aber froh … du weißt, nach der Trauung beginnen wir mit den Vorbereitungen für meine kleine Bar, das Hotel oder das Restaurant … hast du eigentlich schon richtige Vorstellungen, wie und wo wir so etwas einrichten könnten?“
„Ich habe mir darüber schon umfangreich Gedanken gemacht und einige Standorte bereits angeschaut … ich wollte dich in den ersten Wochen nur damit nicht belasten … du solltest doch erst einmal die Stadt kennenlernen und dich etwas eingewöhnen … übrigens sprichst du schon ganz toll spanisch … allerdings mit einem kleinen Akzent … wenn der nicht wäre, könnte man dich mit deinem Aussehen durchaus für eine Einheimische halten.“
„Danke für das Kompliment … aber ich will ehrlich zu dir sein … manches kann ich noch nicht richtig verstehen … vor allem, wenn die Leute so schnell sprechen … aber auch das wird von Tag zu Tag immer besser.“
„Mir ist schon aufgefallen, dass du gegenüber anderen Personen etwas zurückhaltender bist, als zu mir … das ist aber ganz normal … du brauchst dir darüber keine Gedanken zu machen … eine Sprache lernt man nicht auf der Schulbank, sondern nur im richtigen Leben.“
„Wenn du einverstanden bist, dann würde ich jetzt gerne mit Anke telefonieren … ich bin schon richtig aufgeregt.“
„Aber das ist doch selbstverständlich … ich stelle dir auf meinem Rechner nur noch Skype ein, dann kannst du mit ihr quatschen, solange du willst … danke aber bitte immer an den Zeitunterschied … in deiner Heimat ist es jetzt“, er schaut auf die Uhr und rechnet kurz, „zwanzig Uhr, also die beste Zeit für ein Gespräch von Frau zu Frau.“
Cornelia Nicolai sagt Anke über die Festnetznummer Bescheid, dass sie über Skype mit ihr sprechen möchte. Wenige Minuten später sehen sie sich auf dem Bildschirm. Cornelia erzählt alle Geschehnisse der letzten vier Wochen. Sie berichtet über ihre neue Heimat in schillernden Farben und auch, dass alle ihre Vorstellungen bisher im positivem Sinne weitaus übertroffen wurden.
„Du hast dir ja schon richtiges südamerikanisches Temperament angeeignet“, unterbricht Anke den Wortschwall, der förmlich auf sie einprasselt, „und siehst zudem schon wie eine Kolumbianerin aus … so braungebrannt … und das Anfang März.“
„Ich fühle mich schon nach der kurzen Zeit so wohl, wie schon lange nicht mehr … und das Beste kommt ja noch … ich werde heiraten … keine Zweckehe, wie du damals formuliert hast … nein … es wird eine richtige Liebesheirat.“
„Das freut mich riesig … und Glück braucht man dir gar nicht
extra zu wünschen … nachdem, was du alles erzählt hast, scheinst du es ja schon gefunden zu haben.“
„Jetzt werde ich ganz förmlich … wir laden euch zu unserer Hochzeit ganz herzlich ein … ich hoffe, ihr könnt auch kommen … sie findet nämlich schon in sechs Wochen statt.“
„Natürlich wollen wir mit dabei sein … aber einhundert Prozent kann ich jetzt keine Zusage machen … das muss ich auch mit Andreas abstimmen.“
„Das verstehe ich … es ist ja auch noch ein Weile hin … ich würde mich riesig freuen, wenn ihr kommt“, und ein wenig Wehmut liegt in ihrer Stimme, als ob sie nicht so recht daran glaubt.
„Aber einmal etwas ganz Anderes … du bist so wahnsinnig begeistert von deiner neuen Heimat … gibt es denn gar nichts, was dir von uns hier fehlt?“, will Anke wissen.
„Wenn du so direkt fragst … es sind wirklich nur Kleinigkeiten und es hat vornehmlich mit dem Essen zu tun.“
„Nun erzähle schon … Essen ist doch keine Nebensächlichkeit, dass gehört zur Kultur eines jeden Landes.“
Zögernd sagt Cornelia: „Es handelt sich ein kolumbianisches Nationalgericht … Bandeja Paisa wird es genannt und Alejandro könnte es pausenlos jeden Tag essen.“
„Habe ich noch nie gehört, was muss ich mir darunter vorstellen?“, fragt Anke neugierig.
„Also, das ist ein Eintopf aus roten Bohnen, Kümmel, Knoblauch, Chili und Hühnerfleisch …“
„Das ist doch lecker … was schmeckt dir denn daran nicht?“
„Weißt du, die Kolumbianer würzen es noch mit Koriander … und das ist überhaupt nicht mein Fall … ich esse es nur zum Gefallen für Alejandro.“
„Wenn das deine einzige Sorge ist, dann kann ich dich für dein neues Leben nur beglückwünschen“, kommentiert Anke die Ausführungen.
„Ich habe doch einleitend gesagt, dass es sich nur um Geringfügigkeiten handelt … dazu gehören noch die frittierten Kochbananen und das ewige Weisbrot essen … aber jetzt höre ich auf damit, sonst bekommst du noch einen völlig falschen Eindruck … deshalb sage ich abschließend, mir geht es hervorragend … besser hätte ich es nicht treffen können.“
Anke sagt zum Ende des Gespräches: „Denke immer daran, dass aller guten Dinge drei sind … und Alejandro ist der dritte Mann, den du ernsthaft liebst … das ist ein gutes Omen und du wirst ganz sicher glücklich mit ihm.“
Die Trauung findet in der Catedral Metropolitana de Medellin statt. Alle eingeladenen Gäste und zahlreiche Schaulustige verfolgen die feierliche Zeremonie. Zu Cornelia Nicolais Bedauern können Anke und Andreas Falk nicht teilnehmen. Wegen dringender dienstlicher Obliegenheiten, die Anke Falk als Vorsitzende Richterin des Amtsgerichtes zu erfüllen hat, sind sie leider nicht nach Medellin gekommen. Cornelia fällt auf, dass viele der Anwesenden sich so begrüßen, als hätten sie sich schon ewige Zeit nicht mehr gesehen. So gibt es viele herzliche Umarmungen, ein Küsschen hier und eines dort und viele angeregte Gespräche. Man hat sich eben viel zu erzählen. Zu den Klängen von Richard Wagners „Treulich geführt“ geleitet der Vater von Alejandro die Braut von der Eingangstür bis zum Altar. Sichtlich stolz über eine so schöne Schwiegertochter genießt er die staunenden und anerkennenden Blicke der Gäste. Nachdem sie sich das „Ja-Wort“ gegeben haben, strömen Alle aus der Kirche und sind voller Erwartung auf das nun folgende Fest. Beim Heraustreten aus der Kathedrale werden von dem Brautpaar hunderte von Fotos gemacht. Immer wieder treten Verwandte und Bekannte von Alejandro an die Seite des Brautpaares, um ein Erinnerungsfoto mit nach Hause nehmen zu können. Sichtlich beeindruckt von der großen Anteilnahme genießen beide die herzliche Zuwendung. Nachdem sie in der mit Blumen geschmückten Limousine Platz genommen haben sagt Cornelia: „Danke, mein Geliebter und jetziger Ehemann … es war einfach wunderbar … das ich das alles noch erleben darf … danke … danke“, und schmiegt sich ganz eng an ihn. Auf der Fahrt zum Festsaal ist noch ein ganz wichtiger Termin wahrzunehmen: Der Besuch eines Fotoateliers. Schließlich muss dieser große Augenblick richtig professionell im Bild festgehalten werden. Kurze Zeit später sind sie wieder bei ihren Gästen, die schon fleißig beim Essen und Trinken sind. Es herrscht eine ausgelassene Stimmung. Nach dem Anschneiden der riesigen Hochzeitstorte nimmt Alejandro sie an die Hand und sagt: „Jetzt gehen wir von Tisch zu Tisch und bedanken uns für die Geschenke.“
„Für welche Geschenke … ich sehe doch gar keine“, erwidert Cornelia Nicolai. Doch bevor er antworten kann, sind beide schon bei den ersten Gästen angekommen. Wieder gibt es herzliche Umarmungen und die Glückwünsche nehmen kein Ende. Auch diese Zeremonie wird erneut von einem regelrechten Blitzlichtgewitter begleitet. Auf die Beantwortung der Frage nach den Geschenken muss Cornelia Nicolai weiter warten, denn nunmehr hat das Brautpaar eine weitere Pflicht. Begleitet von Salsa-Klängen begeben sich Cornelia und Alejandro auf das Parkett und eröffnen mit einem ersten Tanz den Hochzeitsball. Unter rhythmischem Beifallsklatschen aller Gäste bewegen sie sich auf der Tanzfläche und nach nur wenigen Augenblicken sind sie schon nicht mehr die Einzigen, die sich im Tanzschritt bewegen.
Temperamentvoll bemerkt Alejandro: „Siehst du, dass ist Ausdruck unserer kolumbianischen Lebensfreude … tanzen liegt
uns einfach im Blut.“
„Weißt du … eigentlich erkenne ich keine großen Unterschiede im Vergleich mit der Art und Weise einer Hochzeit in meiner Heimat … nur geht es hier etwas lauter, heißblütiger und ungezwungener zu … ich habe so langsam Gefallen daran gefunden.“
Alejandro ist sichtlich beeindruckt von ihren Worten und
freut sich darüber. Er drückt sie ganz fest an sich und sagt: „Hoffentlich habe ich auch einen ganz kleinen Anteil an deiner so positiven Einschätzung beigesteuert.“
„Nicht nur einen kleinen Anteil … du bist doch die Ursache, weshalb ich mich so schnell eingelebt habe und mich unendlich wohl fühle … ohne dich wäre doch alles nur halb so schön.“
„Dann wollen wir zuversichtlich sein, dass es ewig so bleibt … und jetzt ziehen wir uns zurück und fliegen in die Karibik.“
Verwundert blickt sie zu ihm auf: „Können wir denn unsere Gäste so einfach allein lassen?“
„Ja, aber natürlich … die feiern auch ohne uns fröhlich weiter … ich nehme nur noch die vielen Briefumschläge mit … darin befinden sich unsere Hochzeitsgeschenke“, und als er ihren fragenden Blick bemerkt, fügt er hinzu, „das ist der Brauch in Kolumbien … hier werden keine Sachgeschenke gemacht … die Verwandten und Bekannten schenken uns Geld … viel besser, als vielleicht fünf Besteckkästen und zwanzig Weingläser, wovon wir nur einen Bruchteil wirklich gebrauchen könnten.“
„Das finde ich toll … davon können wir unseren Urlaub in Cartagena finanzieren.“
„Nein, nein … das legen wir zurück … das heben wir für gemeinsame Anschaffungen auf … unsere Hochzeitsreise finanziere ich von meinem Taschengeld … und wenn das Geld alle ist, müssen wir eben wieder vorzeitig nach Hause fliegen“, sagt er lachend.
Die Verabschiedung von den Gästen erfolgt herzlich. Alle wünschen dem neuen Paar viel Glück und alles Gute. Zwei Stunden später sitzen sie schon im Flieger, der sie nach Cartagena, dem Ort ihrer Flitterwochen bringt.
Schon beim ersten Spaziergang wird Cornelia bewusst, warum diese Stadt eine der schönsten und attraktivsten Kolonialstädte Südamerikas ist und seit ungefähr zwanzig Jahren zum UNESCO Weltkulturerbe zählt. Bei einem Bummel durch die Altstadt sagt sie: „Das alles kommt mir wie eine Filmkulisse vor … so schön und gediegen die alten Kolonialhäuser hergerichtet sind … es ist einfach ein einzigartiges Erlebnis.
Voller Stolz bemerkt Alejandro: „Auch ich bin jedes Mal wieder aufs Neue von Cartagena begeistert … hier haben sie ja nicht nur die Altstadt restauriert sondern auch die komplette Stadtmauer … das hätte mein Land nicht allein bewältigen können … dazu wurden riesige finanzielle Mittel von der UNO bereitgestellt … wenn du die hohe Anzahl der Touristen siehst … ich glaube fest … die Ausgaben haben sich gelohnt.“
Die Tage vergehen leider viel zu schnell. Am vorletzten Tag unternehmen sie
noch eine Bootsfahrt zu den „Islas del Rosario“, einer der Stadt vorgelagerten Inselgruppe. Angelockt durch das glasklare Wasser und die Aussicht einer Unterwasserbeobachtung der Korallenriffe entschließen sie sich für einen Tauchgang. Begeistert sagt Cornelia: „Die Unterwasserwelt werde ich nie vergessen … solch ein bezauberndes Farbspiel der Korallen und Fische habe ich noch nie in meinem Leben gesehen.“
„Du bist ja langsam mehr begeistert von meinem Land als von mir … da werde ich richtig eifersüchtig.“
„Da brauchst du keine Angst zu haben … ohne dich wäre alles nur halb so schön“, und küsst ihn dabei zärtlich auf seine nackte Brust. Erst bei Dunkelheit erreichen sie wieder das Festland und bereiten im Hotel die Abreise für den nächsten Tag vor.
„Jetzt beginnt der Ernst des Lebens“, sind die ersten Worte, die Cornelia zwei Tage später von Alejandro hört, „heute schauen wir uns das Haus an, in welchem du dein Hotel und die Cafe-Bar eröffnen könntest … vorausgesetzt dir gefällt es ebenfalls.“
„Du hast wie meistens recht … das Faulenzen muss ja irgendwann vorbei sein … ich gehe nur noch schnell unter die Dusche … dann können wir fahren.“
Die enge Straße führt steil nach Oben. Auf halber Höhe fährt Alejandro auf einen Parkplatz und sagt: „Wie sind angekommen.“
Verwundert fragt Cornelia: „Wer soll denn hier heraufkommen … diese Stelle ist ja völlig entlegen von der Stadt … ich hatte mir die Lage meiner Cafe-Bar mehr im Zentrum vorgestellt.“
„Der äußere Schein trügt … hier tummeln sich an den Wochenenden hunderte von Menschen … sie genießen einfach die Abgeschiedenheit vom Lärm im Zentrum … der zu Tale fließenden Bach ist für viele das urwüchsigste Badeparadies, welches man in Medellin überhaupt finden kann.“
Nur ungefähr fünfzig Meter vom Parkplatz entfern zeigt er auf ein mit Palmenwedel bedecktes Haus.
„Schau, das könnte es werden.“
Beim Näherkommen entdeckt Cornelia eine bezaubernde kolumbianische Idylle. Das im Bungalowstil erbaute Haus wird eingezäunt durch Kaffeesträucher und wild wachsende Bananenpflanzen. Ein riesiger Farn spendet ausgiebig Schatten. Die Mangobäume mit ihren leuchtenden gelben Früchten laden förmlich zum Ernten ein. Doch am meisten ist Cornelia von der exotischen Blumenpracht begeistert. Neben Orchideen wachsen hier auch für sie noch unbekannte Pflanzen, die wie ein Blütenmeer den entzückenden Anblick noch verschönern. Als sie durch das weit geöffnete Tor treten erblickt Cornelia eine herrlich grüne Rasenfläche, an deren Ende sich ein Swimmingpool befindet. Ein am Rand des Pools aufgestelltes Zelt – selbstverständlich ohne die Seitenwände – bietet ausreichend Schatten, so dass sich die Gäste auch in der prallen Mittagssonne ohne Probleme hier aufhalten können. „Das ist ja wie im Paradies“, bringt sie fast flüsternd heraus - gerade so, als wolle sie den herrlichen Anblick nicht stören.
„Für die Rasenpflege wirst du sicher eine Hilfskraft benötigen … wenn das Gras nicht täglich bewässert wird, ist es ganz schnell braun und vertrocknet … und gemäht muss er dann auch regelmäßig werden … aber das ist Zukunftsmusik … jetzt wollen wir erst einmal einen vernünftigen Preis aushandeln.“
Alejandro und Cornelia möchten das Grundstück mit dem Haus nicht pachten, sondern kaufen. Nach mehreren Stunden Verhandlungen sind sie sich mit dem jetzigen Besitzer über den Kaufpreis einig. Er wünscht ihnen zum Abschied viel Glück bei der Tortour durch die Ämter. Als sie wieder im Auto sitzen, fragt Cornelia: „Wie meint er das denn … viel Glück bei den Ämtern … das habe ich nicht so richtig verstanden.“
Alejandro lacht und sagt: „Das wirst du gleich hautnah erleben … die Bürokratie bei uns ist wirklich schlimm.“
„Na, so toll wird es schon nicht werden … das kenne ich aus meiner Heimat zur Genüge.“
Schon nach drei Tagen musste sie ihre Meinung korrigieren. In einem riesigen Verwaltungsgebäude werden sie von Zimmer zu Zimmer dirigiert. Einmal fehlen der Stempel auf einem Papier und dann wieder die Unterschrift von einem Vorgesetzten. Es ist für Cornelia fast zum Verzweifeln.
Am dritten Tag sagt sie lachend: „Weißt du … ich glaube … damals, als die Spanier dein Land entdeckten und kolonialisiert haben … da muss ein Deutscher mit dabei gewesen sein … soviel Bürokratie … die kann sich kein Spanier oder Kolumbianer allein ausgedacht haben.“
Mit dem Erwerb des Grundstückes und des Hauses hatte sie viel Glück. Der bisherige Eigentümer überlässt ihnen das gesamte Mobiliar und so konnte Cornelia schon vierzehn Tage später die Eröffnung durchführen. Dazu hatte Alejandro fleißig die Werbetrommel gerührt, so dass die Plätze im Cafe nicht ausreichen. Gemeinsam mit einem Freund besorgt er noch zusätzliche Tische und Stühle. Die Feier geht bis in die frühen Morgenstunden. Als sie dann endlich in ihrer Wohnung angekommen sind sagt Cornelia müde und kaputt: „Es war einer der schönsten Tage in meinem Leben … ich danke dir … ohne deine Hilfe hätte ich es wohl allein nicht geschafft.“
„Nun sei doch bitte nicht so bescheiden … wie du mit den Zahlen umgehen kannst … das würde ich nun wiederum nicht beherrschen … da fällt mir ein … hast du schon einen Überblick, was du heute an Geld eingenommen hast?“
„Ich bin gerade dabei, es auszurechnen … kleinen Moment, ich bin gleich fertig.“
„Ich wollte es nur so ungefähr wissen … nicht auf den Peso genau.“
Als sie ihm die Summe nennt, ist er mehr als nur erstaunt.
„In dieser Höhe hätte ich es nicht erwartet … du bist eben eine tüchtige Geschäftsfrau“, und küsst sie dabei liebevoll auf den Nacken.
Morgen gehe ich zur Bank … wir können doch das viele Geld nicht für mehrere Tage hier im Haus aufbewahren … dabei hätte ich kein gutes Gefühl … vor allem wenn wir nicht in der Wohnung sind.“
„Natürlich, damit gebe ich dir völlig recht … nur morgen passt es mir schlecht … ich habe einen Geschäftspartner eingeladen … den Termin muss ich unbedingt wahrnehmen“, wendet Alejandro mit einer bedauerlichen Miene ein.
„Dann fahre ich eben mit dem Bus, wenn es dir nicht möglich ist, mich zu
begleiten.“
„Nein, nein … schon bei dem Gedanken, dass du mit dem vielen Geld allein unterwegs bist, hätte ich keine ruhige Minute … das Beste wird sein, ich fahre dich zur Bank und für den Rückweg nimmst du dir ein Taxi.“
„Um Gottes Willen … so einfach gebe ich das Geld nicht aus … ich kann doch die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen … die sind weitaus kostengünstiger … jetzt bin ich aber todmüde … nimm es mir nicht übel … aber heute möchte ich einmal mein Bett ganz allein haben … ein paar Stunden Schlaf tun uns beiden ganz gut.“
„Ich habe keine andere Meinung … doch möchte ich dich erinnern, dass du schon seit drei Wochen unbedingt deine Freundin anrufen willst … dann tue es doch bitte jetzt … da kannst du ihr doch eine Menge von guten Nachrichten mitteilen.“
„Das stimmt … ich werde es auch sofort machen … so viel Zeit muss einfach sein.“
Nach einigen Minuten kommt sie wieder zu Alejandro und sagt etwas ratlos: „Anke nimmt den Hörer nicht ab … doch ich habe ihr etwas geschrieben … sie wird schon zurückrufen.“
Den Grund, dass sie ihre Freundin telefonisch nicht erreicht, kann sie nicht wissen. Anke Falk ist nach Erhalt von der Nachricht vom Tod ihres Ehemannes für ein paar Tage zu ihrer Tochter gefahren. Den Schmerz um den Verlust von ihrem geliebten Andreas konnte sie einfach nicht allein ertragen.
Am nächsten Vormittag fahren sie zur Citibank ins Zentrum von Medellin und Alejandro bemerkt: „Zurück fährst du am besten mit der Metro und bis zu unserer Wohnung benutzt du den Bus … bei mir wird es heute später … ich habe nach dem von mir bereits erwähnten Termin mit einem Geschäftspartner noch eine Menge anderer Dinge zu tun.“
„Ist doch kein Problem … zudem habe ich keine weiteren Verpflichtungen … zum Glück habe ich ja Maria eingestellt … sie ist wirklich eine Perle und nicht nur eine Servierkraft für die Bedienung der Gäste … ihr habe ich schon Bescheid gegeben, dass ich nicht ins Restaurant komme … außerdem habe ich heute die Gaststätte ohnedies geschlossen … sie räumt auch nur auf und beaufsichtigt den Gärtner … dazu braucht sie meine Hilfe nicht.“
„Ja, ja Maria … ich kenne sie schon seit mehreren Jahren von der Arbeit im Catering auf dem Messegelände … sie ist wirklich ein ganz fleißiges und zuverlässiges Mädchen … dafür, dass ich sie für dein Restaurant abgeworben habe, musste ich eine Menge Kritik einstecken … hat mir aber nichts weiter ausgemacht … es ist für mich viel wichtiger, dass du gut zurecht kommst.“
„Dafür bin ich dir auch unendlich dankbar … ohne deine Hilfe hätte ich es in so kurzer Zeit nicht geschafft, ein so gut gehendes Restaurant in Medellin zu eröffnen.“
Alejandro ist über die anerkennenden Worte hocherfreut. Doch bescheiden sagt er: „Ich habe nur ein klein wenig Unterstützung gegeben … mehr nicht … den Erfolg hast du dir schon selbst erarbeitet.“
„Gut, wenn ich dann wieder zu Hause bin, richte ich das Abendbrot an und warte auf dich … eine Flasche Wein stelle ich auch schon kalt … es gibt doch mein erstes selbstverdientes Geld zu feiern … ich werde heute Abend auch bestimmt nicht müde sein“, sagt sie vieldeutig lächelnd.
Das Geld ist schnell eingezahlt und freudig beschwingt tritt sie aus der Bank heraus. So glücklich wie jetzt ist sie lange nicht mehr gewesen. Die Vergangenheit liegt weit hinter ihr und sie verschwendet darüber auch keinen einzigen Gedanken. Von der Bank bis zum Zentrum ist es nicht weit. Ein Taxi ist schnell gefunden und kurze Zeit später steht sie auf dem Plaza Botero. Wie schon vor ein paar Tagen herrscht reger Touristenverkehr. Doch heute steht ihr nicht der Sinn nach Betrachten der Kunstwerke. Sie möchte ohne Hast das Kaufhaus besuchen und ein paar schöne Sachen entdecken. Für Alejandro eventuell ein ganz tolles Rasierwasser und für sich selbst vielleicht ein Paar neue Schuhe. So schlendert sie langsam und vergnügt über den Platz. Ihr Blick fällt auf die gegenüberliegende Terrasse des Cafe Juan Valdez. Sichtlich gut gelaunt erinnert sie sich an den Heiratsantrag, den ihr Alejandro an dieser Stelle gemacht hat. Noch heute sieht sie die Situation in allen Details vor Augen – so als wäre es gerade erst gestern gewesen. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht und sie durchströmt ein Gefühl der unendlichen Glücksseligkeit. Die zahlreichen Wünsche der Gäste für ein zukünftiges erfülltes Leben scheinen in Erfüllung gegangen zu sein. Jäh wird sie aus ihren Gedanken herausgerissen. Wie zu einer Salzsäule erstarrt bleibt sie stehen. Die Knie werden ihr weich und sie zittert am ganzen Körper. Nur ein paar Meter vor ihr steht Paula Pattberg, die sich interessiert eine der monumentalen Skulpturen anschaut. Das kann nicht sein – das gibt es doch gar nicht – Tote können doch nicht wieder auferstehen - sind ihre Gedanken. Doch die Frau mit den langen roten Haaren und den niedlichen Sommersprossen sieht tatsächlich aus, wie die junge Tierärztin aus Akazienaue, die sie vor über fünfzehn Jahren heimtückisch ermordet hat. Was sie nicht wissen kann – die rothaarige Frau ist die Tochter von Paula Pattberg. Nur mühsam schleppt sie sich bis zu einer der Bänke, die rings um den Platz aufgestellt sind. Ihre Blicke wandern immer wieder hinüber zu dem jungen Mädchen. Erst jetzt kann sie einigermaßen wieder klare Gedanken fassen. Es kann sich doch gar nicht um die Tote handeln. Diese wäre doch jetzt schon über vierzig Jahre alt und das Mädchen ist bestimmt nicht älter als Zwanzig. Jetzt habe ich wirklich Gespenster gesehen, beruhigt sie sich selbst und gewinnt wieder langsam die Fassung zurück. Der Schreck sitzt ihr jedoch noch tief in der Seele und die Lust zum Einkaufsbummel ist ihr völlig vergangen. Auch auf die Rückfahrt mit der Metro verzichtet sie. Stattdessen fährt sie mit einem Taxi zurück in ihre Wohnung. Mit einem Glas Wein in der Hand steht sie auf dem Balkon und versucht, das so eben Erlebte zu vergessen. So recht gelingt es ihr nicht. Je länger sie darüber nachdenkt, umso deutlicher begreift sie, dass sie ihr neues Leben mit einer Lüge begonnen hat. Doch es gibt kein zurück. Zu viel Angst hat sie vor der Offenbarung ihrer Vergangenheit und den daraus möglicherweise entstehenden Folgen. Sie darf gar nicht daran denken, wenn sich Alejandro deshalb von ihr abwenden würde und das bisherige glückliche Leben abrupt beendet wäre. Und ob er ihr die grausame Tat von damals verzeihen könnte – darüber ist sie sich nicht sicher. In der jetzigen Situation fühlt sie sich unendlich einsam – sie hat keinen Menschen, mit dem sie über das Erlebnis sprechen könnte – eine solche Bezugsperson fehlt ihr im Augenblick wahnsinnig sehr. Betrübt schaut sie auf das Lichtermeer von Medellin und fühlt sich das erste Mal, seit dem sie hier lebt, unendlich unglücklich. Doch dann kommt Alejandro wie üblich in das Zimmer gestürmt. Begeistert erzählt er, dass die Modemesse in diesem Jahr noch größer wird und einige Länder, die bisher nicht teilgenommen haben, in diesem Jahr mit dabei sind. Angesteckt von seinem Optimismus und seiner Lebensfreude sind ihre düsteren Gedanken schnell verflogen und es wird ein wunderbarer romantischer Abend unter dem Sternenhimmel von Medellin.