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Deutschland Sommer 1996
ОглавлениеPaula Pattberg liegt fast reglos auf dem Bett im Zimmer des Studentenwohnheimes. Soeben war sie bei ihrer Ärztin und hat Gewissheit erhalten: Sie ist schwanger. Was soll jetzt werden – überlegt sie. Neun Semester hat sie gebüffelt bis zum Umfallen und alle Vorprüfungen erfolgreich bestanden. Nur ein Jahr trennt sie von der Erfüllung ihres Lebenstraumes, endlich als Tierärztin arbeiten zu können. Und dann war diese verflixte Semesterabschlussfete. Es wurde viel getrunken, getanzt und gelacht. Zu später Stunde erhielt die fröhliche Runde durch den Besuch der Dozenten der veterinärmedizinischen Fakultät eine erfreuliche Bereicherung. Die mit viel Hallo begrüßten Gäste erwiesen sich als spendierfreudig. Einer von ihnen bemühte sich ganz intensiv um sie. Es war Dr. Benjamin Apenzeller, der angehende Dekan der Fakultät. Seine Komplimente zu ihren leuchtenden grünen Augen und den roten Haaren fand sie infolge des reichlichen Alkoholgenusses an diesem Abend besonders charmant. Ihr schmeichelte, dass gerade der gut aussehende und attraktive Hochschullehrer sich so um ihre Gunst bemühte. Im Stillen genoss sie die neidischen Blicke ihrer Kommilitonen und war schon deshalb nicht unbedingt zurückhaltend zu ihm. Von ihrer ansonsten eher zurückhaltenden Art gegenüber Männern war durch den reichlichen Alkoholgenuss nichts mehr übrig geblieben. Auch als er auf dem Nachhauseweg auf einer Parkbank über sie kam, ließ sie ihn gewähren. Im Nachhinein macht sie sich wiederholt Vorwürfe, warum sie sich nicht dagegen gewehrt hat. In den folgenden Tagen gab es nur wenige Begegnungen zwischen Paula Pattberg und Dr. Benjamin Apenzeller. Stets war er freundlich. Aber mehr, als hallo und wie geht es, hatte er nicht für sie übrig. Der Abend und die heißen Liebesversprechungen waren für ihn eben nur eine kleine unbedeutende Episode – mit diesen Gedanken tröstet sie sich schon nach wenigen Tagen. Sie steht auf und schaut zum Fenster hinaus. Im Moment ist sie ratlos, wie es weitergehen soll – mit dem Studienabschluss – dem zu erwartenden Baby – mit der Beziehung zu Dr. Apenzeller – was werden wohl ihre Eltern dazu sagen – alles für sie im Augenblick wahnsinnig belastende Fragen und sie findet keine Antwort darauf. Plötzlich kommt ihr der Gedanke: Ich muss mit ihm reden – ihm die Situation schildern – vielleicht hat er die passenden Antworten und hilft mir. Den Grund für die Verabredung nennt sie ihm am Telefon nicht. Mit völlig falschen Vorstellungen kommt er zu der Parkbank. In Erwartung, einen amourösen Abend zu erleben geht er mit schnellen Schritten auf Paula Pattberg zu. Galant begrüßt er sie mit einem Handkuss und zieht sie heftig an sich. Vehement stößt sie ihn zurück und sagt: „Deshalb wollte ich mich nicht mit ihnen treffen.“
„Was soll denn das steife Sie … wir waren doch schon beim Du … ich finde dich unwahrscheinlich reizvoll … der Abend auf der Parkbank soll nicht der Letzte gewesen sein“, sagt er mit einschmeichelnder Stimme und versucht erneut, ihren Mund zu küssen.
„Bitte unterlassen sie das … es geht um etwas Ernstes … ich bin schwanger … das Kind kann nur von ihnen sein … ich weiß es einhundertprozentig.“
Dr. Apenzeller schaut sie verdutzt an und lacht höhnisch: „Du willst mir wohl etwas unterjubeln … aber nicht mit mir … ich möchte nicht wissen, mit wem du noch geschlafen hast … und jetzt soll ich den Zahlmeister spielen … außerdem kannst du es dir wegmachen lassen … alles kein Problem … sollten Kosten auf dich zukommen … darüber brauchst du dir wirklich keine Gedanken zu machen … die übernehme ich selbstverständlich.“
Die Art und Weise seiner Reaktion empfindet Paula Pattberg abstoßend und widerlich. Mit einem Male wird ihr klar, dass der wegen seiner fachlichen Kompetenz geachtete Wissenschaftler in seinem Privatleben ein kleiner mieser Frauenverführer ohne Achtung und Anstand ist.
„Wer eine solch empfindungslose und abfällige Bemerkung zu einer Schwangerschaft macht … den finde ich einfach ekelhaft und unerträglich“, erwidert sie ihm.
„Nun stell dich doch nicht so an … immerhin gehören bei einer solchen Geschichte immer Zwei dazu … also … wollen wir nicht lieber dort weitermachen, wo wir neulich aufgehört haben … oder hat es dir etwa nicht auch Spaß gemacht.“
„Da muss ich sie enttäuschen … leider hatte ich an dem Abend zu viel Alkohol getrunken … und sie haben meinen Zustand schamlos ausgenutzt.“
„Ich doch nicht … so etwas würde mir gar nicht in den Sinn kommen.“
„In diesem Fall scheint ihr Gedächtnis wohl eine riesige Lücke zu haben … wer hat denn gesagt, dass er sich wegen mir von seiner Frau trennen wird und ich die einzige Frau in seinem Leben sei, die er je so begehrt hat … oder war an dem Abend im Park noch eine dritte Person anwesend?“
„Na, hör mal … das sagt man in solch einer Situation einfach … du kannst doch nicht glauben, dass ich solch einen Quatsch ernst gemeint habe.“
„Das spielt jetzt auch keine Rolle mehr … wenn man es nicht
ernst meint, sollte man es auch nicht sagen … aber sicher bin ich nicht die Erste gewesen, der sie solche Sachen ins Ohr geflüstert haben … ihre Frau kann einem richtig leid tun.“
„Verdammt, was geht dich meine Frau überhaupt an … der kannst du nicht das Wasser reichen … und für mich bist du nicht mehr, als ein kleiner Zeitvertreib … oder soll ich lieber sagen: Ein kleines niedliches Spielzeug?“
„Wie kann ein Mensch nur so widerlich sein … ich verspüre absolut kein Interesse, mich weiter mit ihnen zu unterhalten … eine Gewissheit gebe ich ihnen mit auf den Weg: Eine Abtreibung kommt für mich nicht in Frage und Geld von ihnen anzunehmen ebenso nicht … da sie ein so widerwärtiger Mensch sind und nicht das mindeste Ehrgefühl besitzen bin ich mir sicher, dass weder ich noch mein Kind sie jemals vermissen werden.“
Als Reaktion auf ihre Worte hat er nur ein hämisches Grinsen übrig. Voller Abscheu wendet sie sich von ihm ab und geht raschen Schrittes davon. Er ruft ihr noch einige unflätige Worte hinterher, die sie aber schon bald nicht mehr erreichen. Sehr schnell ist Paula Pattberg außer Hörweite und in der Dunkelheit verschwunden. In ihrem Zimmer nimmt sie ihr Tagebuch zur Hand und notiert das so eben Erlebte. Voller Wut und Enttäuschung schreibt sie nicht nur die hässlichen Worte auf, die er ihr so unverblümt ins Gesicht gesagt hat, sondern beschreibt auch seine abstoßende Gestik und Mimik, mit denen er diese begleitete. Paula Pattberg ist mit ihrem Problem völlig allein. Die Schwangerschaft verheimlicht sie gegenüber ihren Kommilitonen und auch gegenüber ihren Eltern. Von riesigen Zweifeln geplagt, ob sie die Erziehung ihres Kindes gegenwärtig überhaupt bewältigen könnte, entschließt sie sich, das Kind nach der Geburt für eine Adoption freizugeben. Darüber hat sie sich sachkundig gemacht. Gegenüber der Mitarbeiterin vom Jugendamt äußert sie nur eine Bitte – die Adoptiveltern sollen ihre Tochter mit dem Zweitnamen Paula nennen. Unter Tränen übergibt sie der äußerst verständnisvollen und mitfühlenden Beamtin ein Medaillon mit ihrem Bild. Sie wünscht, dass es ihrer Tochter am sechzehnten Geburtstag ausgehändigt wird. Die Kollegin vom Jugendamt beteuert, dass die Adoptiveltern sorgfältig ausgewählt werden und ihr kleines Mädchen sicher und behütet aufwachsen wird. Nächtelang weint sie verzweifelt in ihr Kopfkissen. Zu gerne hätte sie das kleine Baby in ihren Armen gehalten. Doch sie weiß, dass ihre Entscheidung die einzig Richtige für das Wohl ihres Kindes ist. Sie könnte im Moment nicht die fürsorgliche Mutter sein, die solch ein kleiner Säugling aber dringend benötigt. Schließlich tröstet sie sich mit der Vorstellung, dass ihre Tochter irgendwann einmal Kontakt mit ihr aufnehmen wird – auch wenn es bestimmt noch viele, viele Jahre dauern wird.