Читать книгу Sandras Rache - Dieter Landgraf - Страница 6
Das Adoptivkind
ОглавлениеDie Adoptiveltern, Felicitas und Jörg Kuhlmann, akzeptieren den Wunsch der Mutter und das kleine Mädchen wird auf den Namen Sandra Paula getauft. Durch die nicht leiblichen Eltern erfährt Sandra viel Liebe und Zuwendung und sie wächst in einer sorgenfreien Umgebung am Rande der Großstadt in einem Einfamilienhaus auf. Von Felicitas wird sie wie ein Kind von eigenem Fleisch und Blut umsorgt. In den ersten Jahren muss Sandra oftmals getröstet werden, wenn sie vor allem von den Jungs wegen ihrer roten Haare und den Sommersprossen verspottet wurde. Doch mit den Jahren werden solche Vorfälle immer weniger. Schon mit zwölf Jahren ist sie eines der hübschesten Mädchen nicht nur in ihrer Schulklasse. Ihre grünen Augen sprühen einen unwiderstehlichen Reiz aus. So bleibt es nicht aus, dass sie viele Verehrer hat. Zur Freude von Felicitas scheint es ihr jedoch gleichgültig zu sein. Ihre Leidenschaft ist der Sport. Schon bald gehört sie zu den wertvollsten Spielerinnen ihrer Basketballmannschaft. Jörg Kuhlmann begleitet sie an den Wochenenden zu jedem Spiel. Obwohl er der Adoption anfangs doch eher skeptisch gegenüberstand, ist ihm Sandra im Laufe der Jahre regelrecht ans Herz gewachsen. Schon lange fühlt er sich nicht wie ein Adoptivvater sondern betrachtet Sandra wie seine eigene Tochter. An ihrem sechzehnten Geburtstag nimmt Jörg Kuhlmann das von Paula Pattberg übergebene Medaillon aus der Schatulle und sagt zu Felicitas: „Heute ist der Tag, an welchem Sandra das Recht hat, über ihre leibliche Mutter informiert zu werden … also sagen wir es ihr.“
„Um Gottes Willen … nein … wir wissen ja nicht, wie sie darauf reagieren wird … wenn sie sich nun von uns abwendet … das könnte ich nicht ertragen“, sagt sie und hat regelrecht mit den Tränen zu kämpfen.
Jörg Kuhlmann nimmt seine Frau liebevoll in die Arme. Entgegen seiner inneren Überzeugung äußert er:
„Wir müssen es ihr nicht unbedingt heute mitteilen … wenn du dazu Bedenken hast … dann verschieben wir es eben auf später.“
Erleichtert atmet Felicitas Kuhlmann auf.
„Ich weiß doch, dass es ihr irgendwann einmal gesagt werden muss … aber lass mir damit noch ein wenig Zeit … ehrlich gesagt … ich habe regelrecht Angst davor.“
Sie nimmt das Medaillon in die Hand und öffnet das kleine Deckelchen und sagt: „Weißt du … Sandra sieht nicht nur ihrer Mutter ähnlich … man könnte denken, es ist ein und dieselbe Person.“
Neugierig kommt Jörg Kuhlmann näher und bemerkt: „Tatsächlich … die langen roten Locken und die niedlichen Sommersprossen … sie ist ihrer richtigen Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.“
„Was heißt hier „richtige Mutter“ … die bin immer noch ich … oder wer hat sie denn aufgezogen … ihr dir ersten Worte beigebracht … nachts an ihrem Bettchen gewacht, wenn sie Fieber hatte und ihr bei den Hausaufgaben geholfen, damit sie immer zu den Besten in ihrer Schulklasse gehörte … nein … es wäre so etwas von ungerecht, wenn durch die Offenbarung ihrer tatsächlichen Herkunft alles kaputt gemacht würde.“
„So war es nicht gemeint … aber … wenn Sandra zu irgendeiner Zeit … und die kommt mit Sicherheit … uns fragen wird, weshalb sie vom Typ weder dir noch mir ähnlich ist, dann kannst du nicht lügen … besser wäre es schon, wenn wir ihr es, ohne in Not zu sein, von uns aus sagen.“
„Du hast doch recht … aber darauf muss ich mich noch vorbereiten … einfach wird es für mich sicher nicht … schließlich haben wir ein so gutes Verhältnis zueinander … sie erzählt mir alles … selbst intime Sachen, die du als Mann gar nicht wissen brauchst.“
Nach diesem Gespräch vergehen zwei Jahre, in denen sich
Felicitas und Jörg zu diesem Thema mehrmals unterhalten. Zu einer offenen Aussprache mit ihrer Adoptivtochter können sie sich nicht durchringen.
Dann hat Sandra Geburtstag – es ist ihr Achtzehnter.
Felicitas gestaltet liebevoll den Geburtstagstisch, als ihr Ehemann das Wohnzimmer betritt. Völlig unerwartet von Jörg Kuhlmann eröffnet sie ihm mit ernster Miene: „Wir sagen es ihr heute … ich kann nicht mehr länger mit der Unwahrheit leben … sie ist jetzt Erwachsen und ich hoffe, dass sie uns verstehen kann … ich meine damit, dass wir es ihr erst jetzt offenbaren.“
„Damit meinst du, dass wir ihr mitteilen, wer ihre leibliche Mutter ist.“
„So ist es … hole doch bitte das Medaillon mit dem Bild von Paula Pattberg aus der Schatulle … ich möchte es mit zu den Geschenken legen.“
Sie entzündet die Kerzen auf der Geburtstagstorte und ruft laut: „Happy birthday, liebe Sandra … du kannst kommen.“
Voller Vorfreude auf die Geschenke kommt das Geburtstagskind die Treppen heruntergelaufen. Wie ein kleines Kind läuft sie um die Geburtstagstafel und ruft mehrmals lachend: „Hurra … jetzt bin ich erwachsen … hurra … jetzt bin ich erwachsen!“ Dann pustet sie die Kerzen aus und widmet sich den Geschenken. Als erstes hält sie den knöchellangen Rock an ihre Hüften und tanzt damit durch die Wohnung.
„Der ist wunderbar … so einen habe ich mir schon immer gewünscht … danke“, und umarmt ihre Eltern herzlich.
Interessiert öffnet sie einen Briefumschlag und schaut verwundert Felicitas und Jörg an. Der Umschlag enthält einen Bankauszug auf ihren Namen. Jörg Kuhlmann erklärt ihr dazu: „Wir haben jeden Monat Geld für dich zurückgelegt … damit kannst du dein zukünftiges Studium finanzieren und bist in dieser Hinsicht zumindest unabhängig.“
„Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll … das ist ja ein richtiges kleines Vermögen … ich meine, wenn ich das mit meinem Taschengeld vergleiche.“
Felicitas sagt: „Wir wissen, dass du sehr sparsam bist, deshalb kannst du auch ganz allein darüber entscheiden, wie und für was du es verwenden möchtest.“
Dann entdeckt Sandra das Medaillon. Vorsichtig öffnet sie das Deckelchen und ruft völlig verwundert: „Das Bild von mir kenne ich gar nicht“, und wendet sich ihrem Vater zu, „wann und wo hast du mich denn fotografiert … davon habe ich gar nichts mitbekommen.“
Felicitas äußert sich mit etwas unsicherer Stimme: „Die Frau auf dem Bild bist nicht du … es ist Paula Pattberg und sie ist deine leibliche Mutter … wir haben
dich als Säugling adoptiert.“
Verdutzt schaut Sandra ihre Eltern an und begreift erst nach einer gewissen Zeit die Tragweite dieser Bemerkung. Dann nimmt sie den fragenden Blick ihrer Eltern wahr. Alle vorherigen Bedenken und das Zittern und Bangen von Felicitas waren umsonst. Sandra legt das Medaillon mit dem Bildnis ihrer leiblichen Mutter zur Seite. Sie spürt die Unsicherheit von Felicitas, umarmt sie ganz heftig und sagt: „Du bist meine wirkliche Mama und wirst es auch immer bleiben … die Frau auf dem Bild ist mir fremd … sie war es doch, die mich nicht haben wollte … für uns ändert sich überhaupt nichts … nun macht doch nicht so ernste Gesichter … schließlich habe ich Geburtstag … meinen Achtzehnten … den wollen wir doch richtig feiern … mit meinen Freundinnen und weiteren Bekannten steigt die Fete am Wochenende … heute dagegen sind wir ganz in Familie.“
Fröhlich und gut gelaunt sitzen die drei am Abend zusammen und erzählen sich angeregt so manche lustigen Ereignisse, die es auf dem Weg zum Erwachsenwerden gegeben hat. Keiner verschwendet auch nur einen Gedanken an das heikle Thema Adoption. Felicitas ist darüber überaus glücklich. So einfach, wie Sandra mit der Situation fertig geworden ist, hat sie es sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorgestellt. Leider waren es nur die ersten, spontanen Reaktionen von Sandra. In den nächsten Tagen und Wochen ertappt sie sich mehrere Male, wie sie das Medaillon in die Hand nimmt und das Bild von Paula Pattberg liebevoll betrachtet. In Sandra wächst immer mehr das Verlangen, die Frau auf dem Bild persönlich kennen zu lernen. Eines Morgens am Frühstückstisch überrascht sie ihre Eltern mit der Frage: „Hättet ihr etwas dagegen, wenn ich die Frau auf dem Bild im Medaillon besuche … ich würde schon gerne wissen, was sie jetzt macht und vor allem, warum sie mich damals nicht behalten wollte.“
Es fällt ihr sichtlich schwer, sie als ihre Mutter zu bezeichnen.
„Natürlich nicht … sie hat dich schließlich geboren … aber du weißt doch nicht, wo sie wohnt … vielleicht ist sie verheiratet und trägt einen anderen Namen … wir haben von ihr niemals wieder etwas gehört“, gibt Felicitas zu bedenken.
„Ach, das wird schon nicht so schwer sein … ich gehe aufs Jugendamt … die helfen mir bestimmt weiter … gut wäre es, wenn du mir dein Auto geben könntest … mit dem vom Papa werdet ihr doch mal eine Tag über die Runden kommen“, sagt sie lachend und hofft auf Zustimmung.
„Das ist wohl das kleinste Problem … natürlich bekommst du es.“
Vergnügt und voller Zuversicht begibt sich Sandra auf die Suche nach ihrer leiblichen Mutter. Sie ist gespannt, wie diese jetzt aussehen wird und warum sie von ihr zur Adoption freigegeben wurde. Vor allem möchte sie auch erfahren, wer ihr leiblicher Vater ist. Darüber konnten ihr Felicitas und Jörg bisher überhaupt keine Auskunft geben. Auch die Eltern von Paula Pattberg interessieren Sandra. Schließlich sind es ihre Großeltern. Vielleicht wissen sie gar nicht, dass es mich gibt - überlegt sie – aber das sind alles nur Phantastereien – erst muss ich erkunden, von wem ich abstamme und alles Andere wird sich bestimmt daraus ergeben. Der erste Weg führt sie zu dem Jugendamt. Dort erfährt sie die letzte Adresse von ihrer Mutter, die diese dem Amt vor fünfzehn Jahren mitgeteilt hat und den Namen ihres leiblichen Vaters. Sie bedankt sich für die Informationen. Auf weitere Unterstützung verzichtet sie – schließlich gibt es ja noch das Internet, dort werde ich schon alles Notwendige finden – sind dabei ihre Überlegungen.