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Zwei gegensätzliche Ansätze zu einer Neurohistorie
ОглавлениеDer Frankfurter Mediävist Johannes Fried und der Harvard-Historiker Daniel Lord Smail, ebenfalls Mediävist, Experte für den Mittelmeerraum, haben jüngst dafür plädiert, die Geschichtswissenschaft neurohistorisch zu erneuern bzw. zu ergänzen.25 Während Fried eine „neurokulturelle Geschichtswissenschaft“ entwirft, die methodologisch radikal mit der bisherigen Geschichtswissenschaft bricht, setzt Smail zwar ebenfalls hohe Erwartungen in eine neurowissenschaftlich informierte Geschichtswissenschaft, doch er will sie nicht der Neurowissenschaft methodisch ausliefern. Er fordert vielmehr wechselseitiges Lernen voneinander. Smail geht nämlich wie ein Teil der Neurowissenschaft davon aus, dass das menschliche Gehirn kulturell formbar sei, also eine Geschichte habe. Auf eine rigoros vereinfachende Formel gebracht: Das menschliche Gehirn steuere zwar seit den Anfängen der Menschheit, vom Menschen unbemerkt, das menschliche Verhalten, doch die kulturelle Umwelt, also das was Menschen tun, verändere das menschliche Gehirn. Smail versucht, diese Umwelteingriffe ins menschliche Gehirn am langen 18. Jahrhundert zu zeigen, das er bis 1820 reichen lässt.
Dieser Versuch, eine begrenzte historische Zeitphase neurowissenschaftlich zu betrachten, ist ungewöhnlich, denn in aller Regel bevorzugt die Neurohistorie „deep“ oder „big history“, d.h. Analysen über lange Zeiträume hinweg, möglichst bis in prähistorische Zeiten ohne schriftliche Überlieferung. Vor ihr nimmt sich selbst die Weltgeschichte einiger Jahrhunderte wie Geschichtsschreibung in der Nussschale aus. Auch bei Smail verbindet sich mit der Neurohistorie ein Appell an die Geschichtswissenschaft, sich nicht mit der kurzen Phase von Schriftlichkeit zu begnügen. Er will mit seinem Buch für ein Fach Geschichte werben, dessen Forschungsbereich zeitlich im prähistorischen Afrika beginnt. „This is our Eden.“ (9) Doch er verharrt nicht auf einer historiographischen „reunion“ zwischen „the Paleolithic past and the Postlithic present“ (6), sondern versucht, neurowissenschaftliche Erkenntnis für die Analyse des 18. Jahrhunderts fruchtbar zu machen und so in eine unmittelbare Deutungskonkurrenz mit der herkömmlichen Geschichtswissenschaft, die er selber auch weiterhin pflegt, zu treten.
Was hat damals die kulturelle Umwelt so verändert, fragt Smail, dass sich das menschliche Gehirn darauf einstellen musste und deshalb auch die Verhaltenssteuerung durch das Gehirn sich gewandelt habe? Möglich sei dies nur, so sucht er eine neuropsychologische Erkenntnis geschichtswissenschaftlich nutzbar zu machen, wenn starke Emotionen auf den Menschen einwirken und sein Gehirn modifizieren.26 Genau dies sei im 18. Jahrhundert geschehen und habe sich im neunzehnten verstärkt fortgesetzt. Denn der Konsummarkt habe nun verhaltensändernde, Emotionen auslösende Produkte massenweise verfügbar gemacht: Kaffee, Tee, Schokolade, Tabak, Zucker, Alkohol, auch härtere Drogen, schließlich die Leserevolution und anderes mehr. Smail argumentiert, diese Kumulation von verhaltensmodifizierenden Produkten habe die kulturelle Umwelt so verändert, dass sich auch das menschliche Gehirn geändert habe.
Smail entwirft also die Neurohistorie als einen Wissenschaftszweig, der neue Sehepunkte ergänzend in die Geschichtswissenschaft einführt, um alte Fragen neu zu beantworten, ohne jedoch neue Untersuchungsverfahren einzuführen oder neue Quellen zu erschließen. Es geht um die Neudeutung bekannter historischer Tatbestände, indem neurowissenschaftliche Befunde zu Rate gezogen werden, ohne das Handeln von Menschen, die in der Vergangenheit gelebt haben, direkt neuropsychologisch untersuchen zu können. So muss es bei Analogieschlüssen von neurologischen Forschungsergebnissen auf geschichtliche Ereignisse und das Handeln längst verstorbener Akteure bleiben. So verfahren auch Neurowissenschaftler, wenn sie gemeinsam mit Geisteswissenschaftlern über die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns nachdenken und dafür nach Beispielen in der Lebenswelt des Menschen suchen.27 Smail beansprucht aber mit seiner Neurohistorie darüber hinaus, den Neurowissenschaftlern zu zeigen, warum sich das menschliche Gehirn im Laufe der Geschichte unter dem Einfluss kultureller Umwelt verändert habe. Seine Konzeption einer Neurohistorie richtet sich also an beide Wissenschaften, die Geschichts- und die Neurowissenschaft, indem er historische Befunde neurowissenschaftlich reinterpretiert.
Johannes Fried verfährt ganz anders. Er hat sein Programm zunächst 1998 in einem Vortrag über The Veil of Memory am Deutschen Historischen Institut in London und dann 2003 in einer Publikation der Mainzer Akademie der Wissenschaften mit sehr pointierten Formulierungen skizziert: Geschichte und Gehirn. Irritationen der Geschichtswissenschaft durch Gedächtniskritik. Ausgebaut hat er sein Plädoyer für eine „neurokulturelle Geschichtswissenschaft“ in seinem 2004 erschienenen Buch, das den englischen Titel des Vortrags aufnimmt: Der Schleier der Erinnerung. In diesem Werk fordert er eine neurowissenschaftlich fundierte „historische Memorik“. Es ist der außerordentlich anspruchsvolle Versuch, das eigene Fach und generell die Möglichkeit, Vergangenheit zu erkennen, auf eine neue Grundlage zu stellen. Einem solchen Versuch gebührt Respekt und Anerkennung. In der Wissenschaft wird dies durch Kritik bezeugt. Deshalb werden wir uns nun im ersten Schritt mit Frieds Entwurf einer neurokulturellen Geschichtswissenschaft theoretisch auseinandersetzen.
Das Ergebnis mag verblüffen. Der Abgleich seiner Aussagen über den heutigen Zustand der Geschichtswissenschaft und über die Konturen einer künftigen neurokulturellen Historie mit den theoretischen Grundlagen, auf denen wir die Geschichtswissenschaft arbeiten sehen, führt zu dem Schluss, dass Fried und wir offensichtlich ganz unterschiedliche Geschichtswissenschaften vor Augen haben. Da wir zudem die Ergebnisse der Neurowissenschaft anders bewerten als er, kommen wir zu konträren Einschätzungen, was die neurowissenschaftliche Gedächtnisforschung für den geschichtswissenschaftlichen Umgang mit Gedächtnisquellen bedeutet. Oder bedeuten könnte, wenn man sich in beiden Fächern einem Gespräch öffnete, um methodisch kontrollierte Grenzüberschreitungen zu wagen.