Читать книгу Mordnacht - Dieter Weißbach - Страница 8
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L ufti Häusler war es gewohnt, früh aufzustehen. Nicht einfach mal schnell im Jogginganzug, sondern korrekt mit Mantel, Hut und Schal holte er seine Frühstückssemmeln, die Zeitung und einmal in der Woche eine große Tüte Knödelbrot (Brot nicht, das kaufte seine Frau). Den kleinen Zeitungsstand gleich links neben der Tür hatte der Bäcker ihm zuliebe extra eingerichtet. Vorher hatte er seine Frühstückslektüre immer im Supermarkt gekauft, aber der war vor einigen Jahren an den Ortsrand gezogen, Richtung Garmisch, ins äußerste Eck. Er hätte sie natürlich auch einfach abonnieren können. Doch da wäre er sich nie sicher gewesen, ob und wann, und wenn, in welchem Zustand er sie bekommen würde.
Er saß bei seiner zweiten Tasse Tee, als zwei Polizeiautos auf der Partenkirchner Straße kurz hintereinander ihre Sirenen abschalteten. Er dachte an das Nächstliegende – einen Unfall am Bahnübergang.
»Weißt du, was da los ist?«, fragte Elvira aus der Küche.
»Ein Unfall wahrscheinlich«, antwortete er ohne aufzusehen.
»Bitte sei so gut und schau auf die Eier, nicht, dass die hart werden.«
»Interessiert dich gar nicht, was da los ist?«
»Morgen steht’s eh in der Zeitung. Aber wenn’s dich beruhigt, ich geh sowieso gleich ins Holz.«
Wieder war nur das feine Ticken der Stubenuhr zu hören und das Umblättern der Zeitung, für Elvira ein sicherer Gradmesser für die Stimmung im Haus.
»Du, Karl-Friedrich?«
»Elvira?«
»Es sind heut übrigens weiße Eier, die mit den braunen Schalen waren aus. Macht das was?«
»Solange ich sie nicht mitessen muss.«
»Ich hab nur gemeint, nicht dass du dich wunderst.«
»Keine Sorge, ich wundere mich schon nicht. Hab gar nicht gewusst, dass es die überhaupt noch gibt.«
»Doch, doch, die gibt’s schon noch. Aber schon mehr die braunen.«
Nach den beiden Eiern, die er etwas schneller löffelte als sonst, marschierte er los. Die Zeitung hatte er entgegen seiner Gewohnheit noch vor den Sterbeanzeigen zusammengefaltet.
Am Bahnübergang war nichts Auffälliges zu sehen, nichts, das auf einen Unfall deutete, aber auch kein Rabe, der sich ihm vertraulich näherte und dann aufflog, oder etwa ein Bild, das ihm ohne zu fragen in den Sinn gekommen wäre, nichts, was ihn darauf vorbereitet hätte.
Er schaute sich noch einmal um und ging weiter Richtung Berg. Er mochte den Gedanken, Angenehmes mit Sinnvollem zu verbinden, es gab ihm ein gutes Gefühl und seinem Schritt Kraft. Einfach spazieren zu gehen wie andere in seinem Alter, war nicht seine Art und wäre auch kaum möglich gewesen. Sein Leben, obwohl es lange nicht danach ausgesehen hatte, war der Baum. Am liebsten sauber gestapelt, in Ruhe gereift und bereit zum Verkauf. Den Umschwung bewirkt hatte ein Artikel im Fachblatt für holzverarbeitende Betriebe. Es war um Tonholz gegangen, diesem wunderbaren Element, ohne das es keine Geigen gäbe, keine Cellos, Kontrabässe und Gitarren, nicht einmal vernünftige Holzblasinstrumente. Und gerade da, wo er lebte, wuchs es. Außerdem war es ein lohnendes Geschäft. Erst vor Kurzem war ein Ahornstamm auf einer Auktion, bei der er Gast war, für knapp sechzehntausend Euro über den Tisch gegangen. Er ging gerne auf Auktionen. Auktionen und Messen boten willkommene Gelegenheiten, ganz offiziell und ohne sich vor übler Nachrede fürchten zu müssen, aus der Enge des Tals herauszukommen und unauffällig ein verlängertes Wochenende in der Stadt zu verbringen. Das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden, dachte er vergnügt und erhöhte sein Tempo.
Er mochte diese frühe Kälte, wenn die Augen tränten und er sich nicht sicher war, ob die Möglichkeit, dass sie in ihren Höhlen festfroren, vielleicht mehr war als nur eine theoretische Möglichkeit, wenn er schnell sein musste mit dem Anzünden der ersten Zigarette des Tages, bevor die Finger sich steif machten. Er mochte den Anblick der Berge, die wirkten wie eingeklebt ins schmerzhaft eintönige Blau des Himmels, das kein Zeichenlehrer akzeptieren würde, verbunden mit dieser unglaublichen Kälte, die es in der Stadt nicht gab, besonders, wenn sie mit diesem unerhörten Glitzern daherkam, ohne das sie nicht zu haben war. Er bemerkte nicht, dass es umgekehrt war, und vielleicht war das das Zeichen.
Eben passierte er das letzte Haus am Lift. Ein Zugereister wohnte hier, der Einzige vom Stammtisch, der kein gebürtiger Farchanter war. Waldemar Perchtold, ein wilder Hund aus Schweinfurt, der nach dem Krieg als Dreizehnjähriger bedürftige GIs mit Mädchen versorgt hatte und damit sein erstes Geld verdiente. Lufti bewunderte ihn. Ein freier Mann, frei von jeglicher Angst, nicht einmal die Diagnose Herzinfarkt hatte ihn erschüttern können. Als Lufti ihn im Krankenhaus besuchte – sieben Stents hatten sie ihm gesetzt, wie Perchtold stolz verkündete –, lagen ein Dutzend Golfprospekte über die Bettdecke verteilt. An seiner Seite stand der Küchenchef der Klinik und diskutierte mit ihm die Menüfolge für die nächste Woche. Seine Gattin war ebenfalls anwesend. Eine attraktive Frau, die ihm zuliebe eine hoffnungsvolle Karriere als Geigenvirtuosin aufgegeben hatte und ohne die er, wie er offen zugab, bestimmt schon längst abgeschmiert wäre. Einsicht ist der erste Weg zu Besserung, dachte Lufti und schaute auf die Uhr. Zu früh für einen Besuch. Gestern war es wieder spät geworden. Und feucht. Nicht für ihn, er wusste immer, wann Schluss war. Aber bestimmt für Waldemar, zu dessen herausragenden Eigenschaften sein enormes Fassungsvermögen zählte. Am liebsten schmeckten ihm Obstbrände. Wenn Lufti in der Stadt war, vergaß er nie, ihm einen besonderen Tropfen mitzubringen. Außerdem war Waldemar ein Meister im Schafkopfen und einer der besten Stockschützen im Tal – also in jeder Hinsicht eine Bereicherung.
Ein rotweiß gestreiftes Flatterband erregte seine Aufmerksamkeit. Eine Baustelle? Mitten im Winter? Beim Näherkommen bemerkte er die Aufschrift »Polizeiabsperrung« und im Hintergrund einen Streifenwagen.
»Hallo?«
Von hinten hatte sich ein silberfarbener BMW herangeschoben und war eben auf gleicher Höhe angekommen.
»Hallo«, wiederholte eine Frau aus dem halb geöffneten Autofenster.
»Ja, bitte?«
»Sind Sie von der Polizei?«
»Ich? Nein.«
»Dann darf ich Sie bitten, nicht weiterzugehen.«
»Aha. Und wer sind Sie?«
»Kriminalpolizei. Wenn Sie hier nichts zu tun haben, kehren Sie bitte wieder um.«
Sein Blick fiel auf das zweite Fahrzeug, einen weißen Kastenwagen.
»Jaja, schon recht«, reagierte er mit einer Mischung aus Überforderung und angeborener Dickfelligkeit. »Dann kehr ich eben wieder um.«
»Danke. Sehr freundlich.«
Er überlegte kurz, sich als Mitglied des Gemeinderats zu erkennen zu geben, entschied sich dann aber dagegen. Er hasste Wichtigtuer.
Die deutlichen Worte der Kriminalpolizistin hatten ihn zwar auf der Stelle umkehren lassen, aber schon nach wenigen Metern beschloss er, der Sache auf den Grund zu gehen. Er hätte nicht sagen können, was den Ausschlag gegeben hatte, der Ärger darüber, behandelt zu werden wie ein kleiner Junge, weggeschickt zu werden, ohne einen Grund genannt zu bekommen, die immerwährende Lust am Verbotenen oder einfach die Möglichkeit, es zu tun. Na wartet, ich kenn mich schließlich hier aus, ich find schon raus, was los ist, ich kann schließlich gehen, wohin ich will, ihr könnt nicht den ganzen Wald absperren. Der letzte Gedanke traf ein, da war er schon Richtung Berg, und jeder Schritt verursachte wunderschöne Glitzerwolken, die er aber nicht wahrnahm, jetzt, da er eine Aufgabe hatte.
»Was war das denn für ein komischer Kauz?«
Kommissar Tilman Würfel und seine alte Schiebermütze. Er hatte schon bemerkt, dass er nicht mehr der Einzige war, der mit so einem Ding durch die Gegend lief, besonders in der Stadt, wo die Leute schon bei null Grad herumrannten, als würde gleich die Arktis über sie hereinbrechen. Er zupfte noch einmal rechts und links an den Ohrenklappen – entweder war die Mütze eingegangen oder der Kopf über Nacht gewachsen –, atmete tief ein und musste prompt husten.
»Einheimischenmodell, Tilman. Aber jetzt komm. Sabine, habt ihr alles?«
»Ich denk schon«, antwortete Sabine Englmacher, Pauligs Spezialistin für Spurensuche. Ihr weißer Overall fügte sich perfekt in die Landschaft, ihre hennaroten Haare brannten. »Hoffentlich haben die nicht schon alles niedergetrampelt. Tilman«, sie drehte sich noch einmal um, »magst uns nicht beim Tragen helfen?«
»Oh, entschuldige«, schuldbewusst zog er die Hände aus den Hosentaschen, »aber meine Finger sind jetzt schon Eiszapfen.«
»Keine Angst, beim Tragen wird dir schon warm. Christine, hast du nicht gesagt, wir werden abgeholt?«
»Ja, eigentlich … Ah, ich glaub, da ist noch jemandem kalt.«
»Grüß Gott. Oberwachtmeister Schieder. Seid ihr die Kollegen aus München?« Auf halbem Weg drückte sich der junge Beamte die Dienstmütze in die Stirn und stellte den Jackenkragen auf. »Entschuldigen Sie, aber es ist dermaßen kalt heut früh. Und gestern ist es ziemlich spät geworden, wegen der Probe, also wegen unserem Faschingsball …« Er klatschte ein paarmal in die Hände und scharrte mit den Hufen, definitiv zu wenig, um sich aufzuwärmen. Sein Kollege stieg nun ebenfalls aus, blieb aber am Wagen stehen.
»Kein Problem«, sagte Christine Paulig. »Sagen Sie uns nur, wo wir hinmüssen, dann können Sie sich auch schon wieder reinsetzen. Ach ja, wer war denn der Mann da gerade eben?«
»Der? Keine Ahnung.« Schieder schaute in die angegebene Richtung und wandte sich dann nach rechts. »Sehen Sie das Marterl da oben?« Er wartete, bis Pauligs Blick dem seinen folgte. »Also, da oben ist ein Weg. Da rauf und dann rechts in den Wald bis zu so drei Fichten, oder Tannen, auf jeden Fall groß. Und vorher kommt noch ein Zaun. Zehn Minuten, würd ich sagen. Bei dem Schnee eher eine Viertelstunde, Frau …«
»Hauptkommissarin Paulig. Also dann. Und lassen Sie niemanden durch. Wenn Sie sich nicht sicher sind, rufen Sie mich an. Hier, meine Karte. Und jetzt gehen Sie lieber wieder in Ihren Wagen, bevor Ihnen noch was abfriert.«
»Jawohl, Frau Hauptkommissarin.« Er nahm kurz Haltung an, was aber nicht besonders glaubwürdig wirkte. »Und, äh, wär sehr freundlich, wenn Sie nicht verraten würden, wie Sie uns, also dass wir im Auto waren.«
»Lässt sich einrichten. Aber halten Sie ihre Augen offen. Man weiß nie, wen es an einen Tatort zieht. Haben Sie eine Kamera dabei? Halten Sie sie griffbereit. Wenn Ihnen was auffällt, dann filmen Sie das bitte. Aber unauffällig. Verstanden?«
»Jawohl, Frau Hauptkommissarin. Und … danke.«
»Keine Ursache.«
Sie sah ihm noch einen Moment hinterher und ging dann ebenfalls.
»Was hast du gerade gesagt, Christine?«, fragte Tilman über die Schulter.
»Dass er filmen soll. Das wird er doch wohl hinkriegen. Dafür muss er nicht mal aussteigen.«
»Nein, das andere.«
»Dass er aufpassen soll, dass ihm nichts abfriert?«
»Findest du das nicht ein bisschen zu, wie soll ich sagen, gewagt?«
»Ich hab ja nicht gesagt, was ihm nicht abfrieren soll.«
»Also, ich weiß nicht. Gegenüber einem Kollegen.«
»Tilman, du bist so ein Spießer«, lachte Paulig.
»Findest du? Nur weil ich …«
»Was ist denn bei euch schon wieder so lustig?«, fragte Englmacher und stapfte voran. »Wie man überhaupt noch reden will bei der Arschkälte.«
Ihr folgten Onur Özokan, genannt Ötzi, erst seit ein paar Jahren bei der Mordkommission, und Erich Veigl, Münchner Urgestein und seit Jahren an der gefühlten Pensionsgrenze – niemals wäre es jemandem eingefallen, einen ohne den anderen anzufordern –, beide mit unzureichendem Schuhwerk.
»Das hab ich auch schon lang nicht mehr gehabt, dass einem der Rotz in der Nase gefriert«, brummte Veigl.
»Sag ich doch.« Paulig war bester Laune. »Auf geht’s, Tilman. Ran an den Speck.«
»Soll das etwa eine Anspielung sein?«
»Aber Tilman, wie kommst du denn darauf. Übrigens, hat wer was zum Lutschen dabei? Immer noch das Beste, wenn man sich nicht erkälten will.«
»Ist das ein Hausrezept deiner Werdenfelser Vorfahren?«
»Tilman, nichts gegen meine Vorfahren, sonst setz ich dich hier aus.«
»Um Gottes willen. Ich sag ja eh schon nichts mehr.«
»Gib lieber Gas. Die Englmacherin läuft uns sonst noch davon.«
Paulig erhöhte ihre Schrittfrequenz. Dabei versuchte sie, abzuschätzen, wann sie die Kollegin ungefähr eingeholt haben würde.
»Was hat die denn gefrühstückt«, nuschelte sie in ihren Anorak.
»Ich hab gleich gesagt, lass mich daheim. Hättest halt den Manzoni mitgenommen.«
»Was will ich mit dem Manzoni, der ist ja noch verfrorener als du. Und außerdem, der soll sich um die beiden Alten kümmern. Jetzt komm schon, reiß dich zusammen, wir sind ja gleich da.«
»Wenn’s nur nicht so scheißsteil wär.«
»Tilman, was du steil nennst, ist ein Spazierweg für ältere Leute.«
»Im Sommer vielleicht.«
»Jetzt komm. Nur noch ein paar Meter.«
Ein erneutes Absperrband, an einem Weidezaun befestigt, schien ihr recht zu geben. Paulig kletterte drüber und öffnete das Gatter.
»Halt!« Ein weiterer Beamter der hiesigen Polizei kam ihnen von oben entgegengerutscht.
»Wir sind’s, die Kollegen aus München.« Paulig streckte ihm ihre Polizeimarke entgegen. Als er nicht sofort reagierte, deutete sie auf Sabine. »Oder meinen Sie, wir laufen zum Spaß so rum.«
»Aha.« Es klang nicht so, als wollte er sich damit zufriedengeben. »Sind das dann alle, oder kommen da noch mehr?«
Vielleicht wollte er aber auch einfach nur alles richtig machen.
»Fünf Mann, reicht Ihnen das nicht?«
Schon wieder so ein Komiker, dachte Paulig. Das kann ja heiter werden.
»Entschuldigung, ich hab nur …«
»Sind wir bald da?«, schnaufte Tilman von hinten.
»Ja, da oben.« Sein brummiges Auftreten schien den Beamten zu überzeugen. »Ich geh voraus.«
»Dann wollen wir mal«, murmelte Paulig und setzte sich an die Spitze des Zugs.
»Ganze Arbeit«, fasste Würfel zusammen. »Sabine, wo machen wir die Gasse?«
»Ich denke, am besten gleich da, wo du stehst. Obwohl das nicht mehr viel bringen wird, so wie das hier ausschaut. Als wäre eine Horde Trampeltiere durchgezogen. Nimmst du mal das Band?«
Paulig machte Platz für die Kollegen. Sie war die mit dem Überblick. Nach ein paar Metern blieb sie stehen und begann, sich einmal langsam um die eigene Achse zu drehen. Am Ende der Bewegung fiel ihr ein Baum auf, der sich schüttelte.
»Hallo! Hallo!«
Tilman folgte ihrem Blick.
»Ist das nicht dieses Einheimischenmodell?«
»Schaut ganz so aus. Hallo!«, rief sie erneut. »Würden Sie bitte zu uns kommen!«
Lufti Häusler hatte sich hundert Meter weiter oben in die Büsche geschlagen und sich dann langsam nach unten gearbeitet. Genau in dem Moment war er auf die Lichtung getreten.
»Scheißpelerine«, fluchte er und versuchte vergebens, den rauen Stoff vom Schnee zu befreien. »Ich schau ja aus. Und der Hut erst. Total verbogen.«
Bereits beim ersten Schritt versank er hüfttief. Mühsam kämpfte er sich voran. Das Gelände war nicht steil, aber bucklig, jede einzelne Senke angefüllt mit Schnee. Völlig außer Atem kam er an. Schuldbewusst senkte er sogleich den Blick.
Wie am Ende eines Konzerts, wenn nicht die Intensität des Beifalls das Maß aller Dinge ist, sondern der Zeitraum, der zwischen beiden Ereignissen liegt, bemaß auch Kommissarin Paulig gerne die Zeit, denn sie schien ihr weniger leicht manipulierbar. Bei Karl-Friedrich Häusler war sie beträchtlich.
»Sie kennen den Mann …? Hallo …? Herr …?«
Dann wartete sie, und die Kollegen mit ihr.
»Was …? Mein Gott … Was? Ja freilich. Das ist der Wolfram. Mein Gott, der Wolfram, unser Wolfram … Das ist unser Wolfram«, wiederholte er in ungläubigem Entsetzen.
Ehe die Beamten reagieren konnten, war er auf die Knie gesunken.
»Wolfi«, flüsterte er, »mein Gott, Wolfi, wer hat denn dich so zugerichtet? Mein Gott, was machst denn da …?«
Er machte Anstalten, den Kopf des Toten zu berühren, doch Paulig hielt ihn sanft davon ab. Eine ganze Weile kauerte Häusler neben seinem toten Freund und hielt Pauligs Hand. Dann schaute er sie mit großen Augen an. Dicke Tränen kullerten über sein Gesicht. Er machte keine Anstalten, sie wegzuwischen. Wie ein Kind, dachte Paulig verwundert.
»Aber sagen Sie, wo ist eigentlich der Joseph, der Herr Neuner, meine ich? Müsste der nicht …? Ist der nicht da?«
»Nein, der ist nicht mehr da.«
Der Mann schien regelrecht weggetreten zu sein.
»Sie waren wohl gute Freunde, Sie und der Tote?«, fasste Paulig behutsam nach.
»Ja. Erst gestern sind wir hier oben zusammengestanden. Also da unten, beim Kreuz … Mein Gott, der Wolfi … Aber wer macht denn so was? Wolfi … Wolfram …«
»Wir wissen es noch nicht.« Paulig blieb bei ihrem freundlichen Ton. »Wir stehen erst am Anfang. Es wäre schön, wenn Sie uns helfen könnten … Geht’s wieder einigermaßen? Können wir?«
Der erste Eindruck. Alles, was danach kam, war verändert, mit Wertungen versehen, Urteilen unterworfen, Einflüssen ausgesetzt, relativiert. Es war immer eine Heidenarbeit, ihn wieder freizulegen. Sie neigte zu Überraschungsangriffen. Kollege Tilman Würfel setzte auf Beharrlichkeit. Eigentlich hätte es umgekehrt sein müssen, Paulig war schließlich die Ältere von beiden. Eine große Frau, Anfang fünfzig, sportbegeistert, ihre schwarzen Haare und die scharf geschnittenen Gesichtszüge erinnerten an Cher, eine amerikanische Schauspielerin und Sängerin, der sie auch in anderer Hinsicht nachzueifern begann. Unbemerkt von ihrer Umwelt hatte sie sich im Urlaub eine kleine Korrektur der Augenlider gegönnt. Würfel, Mitte dreißig, Oberkommissar, zu mehr fehlte der Ehrgeiz, war das glatte Gegenteil. Einen Kopf kleiner und nur schwer dazu zu bewegen, freiwillig das Büro zu verlassen, mit einer Veranlagung zum Dickwerden. Das eine nährte das andere. Dafür war er der geborene Familienmensch. Seit seine zweite Tochter auf der Welt war, arbeiteten er und seine Frau schon wieder am nächsten Kind. Sollte es diesmal ein Junge werden, wollten sie aufhören.
Es folgte die Aufnahme der Personalien und eine erste Einvernahme. Mit der Bitte, wenn möglich noch heute in die Dienststelle zu kommen, wurde Karl-Friedrich Häusler nach Hause geschickt. Sichtlich erschüttert, wie Würfel notierte.
Währenddessen hatte Christine Paulig begonnen, den Weg zu untersuchen. Aber die einzigen Spuren waren die der Joggerin, die den Toten gefunden hatte. Unglaublich, dachte sie, wie man bei dem Schnee überhaupt laufen kann, sie muss verdammt fit sein. Alles andere hatte der Schnee unter sich begraben, den Tatort selbst hatten die Kollegen vor Ort von brauchbaren Spuren befreit.
»Christine, kommst du wieder? Ich glaub, ich bin so weit.«
Langsam näherte sie sich erneut der Leiche. Der Mann hieß Wolfram Summer, war siebenundsechzig Jahre alt, verheiratet, wohnhaft in Garmisch-Partenkirchen, Facharzt für Orthopädie, schlank, mittelgroß, kurze grau melierte Haare, braune Augen, kein sichtbares Blut. Die Druckstellen auf der Nasenwurzel wiesen ihn als Brillenträger aus.
»Hat wer eine Brille gesehen?«
»Hier«, antwortete Özokan und hielt einen Frischhaltebeutel in die Luft. »Kenn ich. Coole Marke.«
»Okay.« Paulig wandte sich an Sabine Englmacher. »Und? Schon eine Idee?«
»Genickbruch.« Ihre Kollegin schob den Mundschutz nach unten und stellte sich in Positur. »Ich denke, der Täter hat ihn hier abgepasst. Also, ich stell mir das so vor, er hat hinter dem Baum auf ihn gewartet, dann ein Schlag in den Bauch.« Sie vollführte eine Bewegung, die an Golf erinnerte. »Er geht in die Knie, und dann von oben nach unten mit voller Wucht. Der zweite Schlag hat ihm definitiv das Genick gebrochen. Deshalb hängt sein Kopf auch so schief. Die Halswirbelsäule ist komplett durch. Dafür muss man schon ordentlich hinlangen. Ich weiß noch nicht, mit was. Eisen, Hartholz oder etwas in der Art. Aber eher Eisen. Ein Stahlrohr vielleicht. So etwas wie ein Golfschläger. Wir haben einen perfekten Abdruck am Bauch. Also, wenn du mich fragst, war da jemand ernsthaft sauer, oder er wollte auf Nummer sicher gehen. Auf jeden Fall eine saubere Arbeit, kein unnötiges Gemetzel. Tja, und dann hat er ihn hierhin geschleppt und von hinten an den Baum gelehnt. Siehst du die Kuhle zwischen den Wurzeln? Schau, wie schön er ihn hingesetzt hat. Da hat sich jemand wirklich Mühe gegeben. Würd mich also nicht wundern, wenn der sich hier ausgekannt hat.«
»Ja, ein wirklich gutes Versteck, zumindest im Winter, wenn keiner den Weg verlassen kann, ohne dass er im Schnee ersäuft.«
»Und solange keiner eine Stelle zum Pinkeln sucht.«
»Irgendwelche Anhaftungen an der Rinde?«
»Nein.«
»Erich, hast du noch was?«
»Nein, nichts. Alles da. Schlüssel. Geldbeutel. Mit Papieren, Geld und Kreditkarten.«
»Handy?«
»Nein.«
»Kein Handy?«
»Naja, er hat Sportklamotten an. Vielleicht hatte er keine Lust, eins mitzuschleppen.«
»Hm.«
»Okay, ich kümmer mich drum.«
»Kollegen, kann von euch jemand die Handynummer des Toten besorgen und gleich mal anrufen? Vielleicht liegt es ja noch irgendwo herum. Und hat eigentlich schon jemand seine Familie benachrichtigt?«
»Soweit ich weiß, wollte der Chef das machen«, antwortete einer der Uniformierten und drehte sich in Richtung Lichtung. »Was machen wir eigentlich mit denen?«
Ein gutes Dutzend Spaziergänger stand gestikulierend am anderen Ende der Freifläche, einige winkten, andere streckten ihre Handys in die Luft.
Paulig zuckte mit den Schultern. »Nichts. Schaulustige eben. Hat jemand ein Teleobjektiv? Dann machen wir ein paar Aufnahmen. Aber unauffällig. Ich fahr jetzt erst mal zur Dienststelle. Tilman, rufst du mich an, wenn ihr fertig seid …? Tilman?«
»Irgendetwas stimmt da nicht. Ich glaub, die wollen was von uns. Vielleicht haben die was gefunden. Ich geh mal hin.«
Paulig schaute noch einmal angestrengt in Richtung der Leute.
»Ja, könnte sein … Scheiße, ich glaub, du hast recht. Schnell, bevor die alles niedertrampeln. Zwei bleiben da, der Rest kommt mit. Sabine?«
»Ich räum nur schnell zusammen und komm dann nach.«
Es war das gleiche Bild. Ein sitzender Toter an einem Baum.
»Tilman? Was denkst du?«
»Selbe Handschrift, selbes Alter, auf die gleiche Art versteckt …«
»Ja, ohne die Schaulustigen hätten wir den wohl nie gefunden. Auf jeden Fall nicht so schnell. Aber schau nur, wie weit er ihn hineingetragen hat. Viel weiter als diesen Dr. Summer.«
»Der war ihm vielleicht nur zu unhandlich.«
»Möglich. Was meinst du, Erich?«
»Seh ich genauso. An dem hier ist wirklich nichts dran. Des reinste Krisperl.«
»Ötzi?«
»Vielleicht hat er bei dem aber auch nur mehr Zeit gehabt.«
»Sabine?«
»Das Besondere an dem ist, er hat ein verkürztes rechtes Bein und eine krumme Wirbelsäule. Vermutlich Kinderlähmung. Das erklärt auch, dass er keinen Schlag in den Bauch bekommen hat. Aber das Genick, genau wie bei Summer …«
»Moment.« Paulig hasste Vorfestlegungen, egal, von wem sie kamen. Besonders nebenbei eingestreute Schlussfolgerungen, die unbemerkt einsickerten. »Was macht dich da so sicher? Warum kein Schlag in den Bauch?«
»Weil da nichts ist.«
»Ich meine, warum meinst du, hat er keinen Schlag in den Bauch bekommen?«
»Ich denke, dass das einfach nicht nötig war. Erstens ist er nicht besonders groß, und zweitens muss er einen leicht nach vorne gebeugten Gang gehabt haben.«
»Denkst du.«
»Ja, denk ich. Nein, das seh ich. Schau dir nur mal die Brustwirbelsäule an. Eine ziemlich ausgeprägte Skoliose. Komisch ist übrigens auch, wie er angezogen ist. Schlafanzug statt Unterwäsche. Beinahe so, als wollte er nur noch mal schnell vor die Tür gehen.«
»Aber das hat man doch öfter bei alten Leuten, dass die sich nicht mehr die Mühe machen, sich noch groß umzuziehen. Trainingsanzug drüber, Schal, Mantel, fertig. Sieht doch eh keiner, was drunter ist. Erich, hast du nicht grad die Manteltaschen untersucht?«
»Einen Moment. Ich schreib nur noch schnell fertig.«
»Wieso nimmst du eigentlich nie ein Diktiergerät mit? Ist doch viel einfacher.«
»Ich schreib lieber.«
»Und was schreibst jetzt da?«
»Jetzt grad? Wo wir ihn gefunden haben … Sag mal, du bist doch hier daheim. Ist das jetzt eine Fichte oder eine Tanne?«
»Keine Ahnung. Aber das ist doch egal jetzt.«
»Gut, dann schreib ich ›hinter einem Nadelbaum‹.«
»Aha«, sagte Özokan. »Aber warum schreibst du eigentlich ›hinter‹ dem Baum? Woher willst du wissen, wo bei einem Baum hinten ist? Der schaut doch von alle Seiten gleich aus.«
»Ganz einfach. Hinten ist immer da, wo’s …«
»Meine Herren, bitte! Das ist ein Mord. Ein bisserl mehr Ernsthaftigkeit. Also, Erich, was war drin?«
»Moment. Ich hab‘s aufgschriebm.«
»Erich!«
»Okay. Ein Schlüsselbund, ein paar einzelne Hustenbonbons, ein Packerl Taschentücher. Und in der Innentasche Geldbeutel samt Ausweis, Kreditkarten und dem ganzen Blempel.«
»Und? Wer ist es?«
»Erwin Zimmerl, geboren 24.12.1941 in Farchant, wohnhaft Esterbergstraße … das ist gleich da unten, wo wir parken.«
»Hast du das auch aufgeschrieben?«, fragte Özokan.
»Nein, g‘merkt, Aff, türkischer.«
»Wann, sagst du, ist er geboren?«, fragte Tilman.
»Ja, hab ich auch grad bemerkt. Und was hat’s ihm gebracht? Nichts.«
»So ist es«, bestätigte Veigl. »Wird alles überschätzt.«
»Eben. Sag ich doch, alter Mann.«
»Kollegen«, Paulig wandte sich an die Uniformierten, »ruft mal bitte einer in der Dienststelle an und meldet den zweiten Toten? Die sollen jeden herschicken, den sie haben. Nicht dass da noch einer liegt. Und bringt die Leute zurück auf den Weg. Falls da noch mehr liegen, möchte ich eine klare Spurenlage. Und macht ihnen klar … nein, lieber nicht. Am besten, ihr sagt nichts, nicht dass die dann erst recht anfangen, auf eigene Faust zu suchen. Obwohl, die machen ja sowieso, was sie wollen. Ja, Tilman?«
»Du meinst doch nicht wirklich, dass da noch einer liegt?«
»Nein, eigentlich nicht. Aber erst war’s einer, jetzt sind’s zwei. Warum nicht noch ein Dritter?«
»Du denkst jetzt aber nicht …?«
»Im Moment denk ich noch gar nichts. Ich fahr jetzt erst mal ins Präsidium. Gipfeltreffen. Rufst du die Yasmin an und sagst Bescheid?«
»Mach ich.«
Auf dem Weg hinunter zum Parkplatz begegneten ihr weitere Schaulustige. Die beiden Polizisten waren weg. Als sie an den ersten Häusern vorbeifuhr, sah sie deren Auto. Fleißig, dachte sie, vielleicht geht’s ja schneller als gedacht. Während sie nach ihrer Sonnenbrille kramte, kam ihr der Fall eines Bergbauern in den Sinn, der vor gut fünfzehn Jahren direkt unterhalb der Alpspitze seine beiden Ehefrauen umgebracht hatte. Stockinger hieß der Mann, Alfons Stockinger. Die Presse hatte ihn den »letzten Bergbauern« genannt. Es war ihr bislang größter Fall gewesen, über Wochen der Aufmacher im ganzen Land. Dann war es plötzlich vorbei gewesen, und niemand hatte je wieder darüber geredet. Damals wunderte sie sich zum ersten Mal, wie schnell das ging mit dem Vergessen. Lebte er eigentlich noch? Er hatte die Taten immer bestritten. Und eigentlich hatten sie nichts in der Hand gehabt. Heute hatte selbst sie Zweifel, ob er es war.
Am Bahngleis fuhr sie links. Seit Jahren hatte sie keinen Grund mehr gehabt, diesen Weg zu nehmen, nicht mehr, seit es den Tunnel gab. Sie war gespannt, was sich wohl verändert hatte.
An einer der Zufahrtsstraßen zum Neubaugebiet Zugspitzstraße fiel ihr ein älteres Ehepaar auf. Eine hoch aufgeschossene Frau mit Kopftuch und Sonnenbrille, der Mann im Rollstuhl, stocksteif, wie festgezurrt. Paulig sah, wie die Lippen der Frau sich bewegten, von ihm keine Reaktion. Ob sie sich wohl jemals vorgestellt hatten, dass es einmal so enden würde? Noch während sie darüber nachdachte, war sie am Ziel.
Polizeidirektor Joseph Neuner erreichte kurz nach Paulig die Dienststelle.
»Kommen Sie von den Hinterbliebenen?«, fragte sie.
»Wieso?«
»Ehrlich gesagt, Sie schauen so aus.«
»Ja, von seiner Frau.«
»Frau Summer?«
»Ja.«
»Und bei Frau Zimmerl? Ist da auch schon jemand?«
»Nein, der hat keine Frau und auch sonst keine Angehörigen. Zumindest sind keine bekannt.«
»Er lebt allein?«
»Ja.«
»Vielleicht taucht ja noch jemand auf. Soll ja öfter vorkommen, wenn’s was zum Erben gibt.«
»Wieso meinen Sie, dass es da was zu erben gibt?«
»Nur so. Wie war’s bei Frau Summer? Wie geht’s ihr?«
»Das können Sie sich ja denken. Nicht gut. Meine Frau bleibt noch so lange bei ihr, bis die Kinder da sind. Die Tochter lebt in München, und der Sohn ist Arzt in Füssen. Die sind gleich losgefahren. Wissen Sie«, fügte er erklärend hinzu, »wir kennen uns schon seit der Schulzeit, auch die Frauen.«
»Auch den Herrn Zimmerl?«, fragte Paulig ohne nachzudenken.
»Ja.« Bevor er weiterredete, zupfte er an seiner Nase und zog zugleich die Augenbrauen hoch, etwas, das Paulig noch öfter an ihm beobachten würde. »Haben Ihre Leute schon etwas herausgefunden? Gibt es schon eine erste Spur?«
»Nein, noch nicht. Wir gehen aber erst einmal davon aus, dass es kein Raubmord war. Es ist alles noch da, Geld, Kreditkarten und so weiter. Bei beiden. Allerdings keine Handys. Wissen Sie, ob die beiden normalerweise eines mit sich trugen?«
Neuner zuckte mit den Schultern.
»Warum fragen Sie?«
»Könnte ja sein, dass sie in der Freizeit …«
Paulig brach ab. Sie war immer noch beschäftigt mit der Neuigkeit, dass alle drei sich gut kannten, wusste aber nicht, wie sie es auf die Schnelle einordnen sollte. »Wir wissen nur, dass der Täter äußerst brutal zugeschlagen haben muss. Bei beiden. Das Genick …«
»Ich weiß«, Neuner hob abwehrend die Hände, »ich hab’s gesehen. Schrecklich. Wie bei einem Karnickel.«
»Haben Sie eine Idee?«
»Eine Idee? Ich? Sie meinen, wer das war? Nein. Nicht die geringste. Der Summer hatte keine Feinde, wenn Sie das meinen. Im Gegenteil. Wenn es überhaupt jemanden gibt, der keine Feinde hat, dann der Wolfram, also der Summer. Und der Zimmerl genauso wenig. Ich mein, Sie haben ihn ja gesehen. Wer soll so jemandem was antun wollen.«
»Sie meinen, zur falschen Zeit am falschen Ort?«
Paulig wusste aus Erfahrung, dass der Weg in die Hölle oft genug mit Pathos gepflastert war und ein Mensch ohne Feinde ungefähr so häufig wie ein Winter ohne Erkältung.
»Das ist das Einzige, was ich mir vorstellen kann«, sagte Neuner rasch, Pauligs Meinung nach eine Spur zu rasch.
Ihr Handy vibrierte: »Keine Handys gefunden«, lautete die Nachricht. »Auch keine weiteren Leichen. Bleiben dran.«
»Okay«, schrieb sie zurück. Dabei fragte sie sich, warum Neuner eigentlich nicht auf die Idee kam, dass es vielleicht noch weitere Leichen geben könnte.
»Hm. Wenn Sie gemeinsam aufgewachsen sind, dann gehe ich mal davon aus, dass die beiden Opfer sich auch kannten.«
»Ja, natürlich. Hab ich ja gesagt.«
»Ich wollte das nur noch einmal feststellen. Weil: Es passt zu der Annahme, dass der Täter seine Opfer, ich sage mal, abgepasst haben könnte. Ich könnte mir also schon vorstellen«, tastete sie sich weiter voran, »dass es vielleicht etwas Persönliches war. Außer einer der beiden hatte etwas dabei, von dem wir nichts wissen. Akten. Irgendwelche Unterlagen.«
»Oder einen Koffer voll Geld«, schnaufte Neuner verächtlich. Sie und Neuner saßen sich gegenüber. Die Kommissarin in einem metallenen Besucherstuhl mit immerhin gepolsterter Lehne und Sitzfläche, der Polizeidirektor in einem bequemen Drehsessel. Zwischen ihnen standen zwei längsseitig aneinandergestellte Schreibtische, auf denen sich die üblichen Aktenberge erhoben, dazu Monitor, Tastatur, eine Maus mit weißblauem Rautenmuster und ein altmodisches Tischtelefon mit Gegensprechanlage. Zwischen Papierkorb und Rechner stand auf einer Gummimatte ein Paar rindslederne Jagdstiefel. Sie sahen aus, als würden sie ernsthaft warm halten.
»Und der andere ist dem Täter irgendwie in die Quere gekommen«, fuhr Paulig ungerührt fort, »warum nicht? Oder ihre Handys. Vielleicht hatte es jemand auf ihre Handys abgesehen?«
»Nein, die hatten keine besonderen Handys. Nur, was jetzt alle haben, so Smartphones. Aber um die wird’s ja wohl kaum gegangen sein.«
»Vielleicht um das, was drauf ist.«
»Was soll denn da drauf sein. Ich bitte Sie! Sie wissen wohl nicht, von wem Sie da reden. Das waren allseits geachtete Bürger, alle beide. Ich kann mich nur wiederholen. Und Feinde … das ist einfach absurd.«
Es klang endgültig.
Paulig zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. Die Richtung, in der der Kollege unterwegs war, war definitiv nicht zielführend. »Aber irgendwer hat sie schließlich umgebracht, und irgendwo müssen wir ja anfangen.«
»Ich weiß. Aber wie gesagt …« Er schüttelte den Kopf und drehte sich weg. »Sie sind tot, das ist im Moment alles, was ich weiß. Sie sind tot, und ich versteh’s nicht. Ich mein, wer macht denn so was … Das ist doch … das ist doch krank … Das macht doch überhaupt keinen Sinn. Das kann doch nur ein Verrückter gewesen sein. Einfach totgeschlagen …«
Es schien ihm wirklich nahezugehen, auf jeden Fall näher, als sie erwartet hatte. Eine unangenehme Situation.
»Trotzdem …«
»Haben Sie mich nicht gehört!«, fauchte er mit einer Stimme, die bei jedem Wort zu versagen drohte. »Ich sage, das ist unmöglich. Die hatten keine Feinde. Der Wolfram, und das sage ich nicht einfach dahin, der ist … der war ein Ehrenmann. Und zwar in jeder Hinsicht. Da können Sie fragen, wen Sie wollen, da wird Ihnen keiner was anderes sagen, aber schon gar keiner. Und der Erwin genauso.«
»Ich finde es ja schön, dass Sie so eine hohe Meinung haben von Ihren Freunden, und ich verstehe auch, dass Sie einen persönlichen Hintergrund für die Tat ausschließen, Sie kennen sie schließlich besser als ich. Aber …« Ihr Gespräch war definitiv an einem Punkt angelangt, an dem jetzt, und zwar jetzt gleich, zu Beginn ihrer Zusammenarbeit, klargemacht werden wusste, dass sie mit Denkverboten nicht weit kommen würden und dass sie auch nicht gedachte, sich welche auferlegen zu lassen, Gefühle hin oder her. Und wenn er das nicht einsähe, könne er sich gerne über sie beschweren, wo auch immer. »Aber«, allein der Ton genügte, die unterschiedlichen Dienstgrade unter den Pflug zu nehmen, »Sie müssen mich schon auch verstehen, ich kann das nicht einfach ignorieren, nur weil Sie mit den Opfern befreundet waren. Auf jeden Fall werden wir mit dieser Einstellung nicht weit kommen. Aber …«, schaltete sie schnell wieder einen Gang zurück, »vielleicht wenden wir uns jetzt erst einmal dem Nächstliegenden zu. Bis jetzt sind das ja sowieso nur alles Spekulationen. Ich denke, vielleicht sollte ich mich als Erstes mit der Frau unterhalten, die Herrn Summer gefunden hat. Was meinen Sie, können wir die noch einmal sprechen?«
Neuner seufzte. »Natürlich. Frau Andrä. Ich ruf sie an. Und bitte entschuldigen Sie, dass ich … das ist sonst nicht meine Art, dass ich so … Aber wie gesagt, der Wolfi, der Erwin …« Diesmal hatte er wirklich Tränen in den Augen. »Wollen Sie einen Kaffee?«
»Ja, gerne. Ach ja, wir haben am Tatort Herrn Häusler getroffen. Er hat gesagt, dass Sie am Abend noch zusammen waren. Also Sie und …«
Vielleicht war das der Grund, warum sie instinktiv davon ausging, dass keine weiteren Leichen gefunden würden. Als hätte ihr Unterbewusstsein bereits eine Art mentales Flatterband um diese fünf gezogen. Blöd nur, dass ein Polizeidirektor mit dabei war.
»Ja, das stimmt.« Er schien nicht im Geringsten erstaunt zu sein. Aber warum hatte er nicht von sich aus gesagt, dass sie gestern noch zusammen gewesen waren? Weil es nichts zu bedeuten hatte? Weil er immer noch unter Schock stand? Weil man sich nicht unnötig in die Schusslinie begibt? »Milch und Zucker?«
»Bitte nur Zucker.«
»Wissen Sie, Frau Kollegin«, Neuner räusperte sich endgültig zurück zu einem aufgeräumten Ton, »wir stehen öfter herum da oben. Das ist sozusagen unser Treffpunkt. Der Notar Oscar Vincenti gehört auch dazu. Immer nur wir fünf. Schon seit unserer Schulzeit. Deswegen ist es ja auch so unfassbar. Wissen Sie, wir fünf …«