Читать книгу Opfer Patient - Dieter Wissgott - Страница 10

Der nicht erkannte Herzinfarkt

Оглавление

Auch das nachfolgende Schicksal der Patientin Elisabeth T. ist symptomatisch für die Behandlungsmisere an Sonn- und Feiertagen.

Elisabeth T. wohnt in einer Kleinstadt mit knapp 17.000 Einwohnern. Hier sind 38 Ärzte verschiedener Fachrichtungen zugelassen, etwa genauso viele in den umliegenden Ortschaften. Außerdem gibt es ein Kreiskrankenhaus. Man sollte meinen, dass die Kreisstadt damit über eine ausreichende medizinische Versorgung verfügt.

Das gilt leider nicht für die Wochenenden und die erwähnten Sonn- und Feiertage. Auch am Mittwochnachmittag und an allen übrigen Tagen von sechs Uhr abends bis sieben Uhr früh haben alle Arztpraxen geschlossen. Die medizinische Versorgung wird dann einem Notdienst übertragen, der sich überregional organisiert hat. Das hat zur Folge, dass Ärzte aus der Landeshauptstadt oder aus anderen Ortschaften für die Betreuung zuständig werden, die mit den örtlichen Gegebenheiten nicht vertraut sind und nicht immer die nötige Erfahrung, vielleicht auch Einsatzbereitschaft mitbringen.

An eine solche Notärztin aus der Landeshauptstadt geriet am zweiten Weihnachtstag des Jahres 2005 die 66-jährige Elisabeth T. Sie litt seit den Morgenstunden an Unwohlsein mit stärker werdenden Schmerzen im Oberbauch, verbunden mit gefühlter Abgeschlagenheit, Mattigkeit und Kaltschweißigkeit. Hinzu kam eine bis dahin unbekannte Atemnot. Sie ging zum ärztlichen Notdienst, der an diesem Tag von Dr. Karin S. ausgeübt wurde.

Die Ärztin stellte sich weder mit Namen vor, noch gab sie zu erkennen, welcher Fachrichtung sie angehört. Sie hinterließ auch keine Anschrift, sodass keine gezielte Auskunft über sie eingeholt werden konnte. Den Dienst übte sie in den Räumen einer früheren Schule aus, in denen keinerlei Grundausstattung an apparativer und instrumenteller Versorgung wie EKG, Ultraschallgerät oder ähnlichem zur Verfügung stand.

Elisabeth T. schilderte der Notärztin die Symptome. Dr. S. tastete ihre Bauchgegend ab. Sie habe vermutlich eine Magenschleimhautentzündung, erklärte sie, offenbar habe sie an den Weihnachtsfeiertagen zu viel gegessen. Sie stellte ihr ein Rezept für Tabletten aus. Die Untersuchung dauerte keine fünf Minuten.

Der Ehemann holte die verschriebenen Tabletten aus der Apotheke, die an diesem Feiertag den Notdienst versah. Die Patientin nahm die Tabletten der Verordnung gemäß ein. Eine Besserung verspürte sie nicht. Sie sah aber am nächsten Tag keine Veranlassung, zu ihrem Hausarzt zu gehen. Die Notärztin hatte ihr ja mitgeteilt, sie müsse nur die Tabletten regelmäßig einnehmen, dann werde es ihr schon besser gehen.

Als sich diese Besserung dann doch nicht einstellte, suchte Elisabeth T. nach den Feiertagen, am 2. Januar 2006, ihren Hausarzt auf. Dieser hielt eine weitere Untersuchung für angezeigt und überwies sie an den örtlichen Radiologen. Der schickte sie wegen uneindeutiger Bilder des Thorax (Brustkorb) zum Hausarzt zurück, in dessen Praxis sie regelrecht zusammenbrach. Der Hausarzt veranlasste umgehend ein EKG und alarmierte das Kreiskrankenhaus.

Auf der Intensivstation wurde eine Entzündung des Herzmuskels festgestellt, in dessen Folge sich etwa zwei Liter Wasser in der Lunge angesammelt hatten. Die Diagnose lautete: Herzinfarkt mit weitreichenden und schweren Schäden.

An die Aufnahme im Kreiskrankenhaus schlossen sich zehn stationäre und mehrere Reha-Behandlungen in verschiedenen Kliniken an. Schließlich wurde festgestellt, dass das Herz aufgrund des am 26. Dezember 2005 erlittenen Infarkts und der nachfolgenden Fehlbehandlung so gravierend geschädigt war, dass die Indikation zur Implantation eines Spenderherzens gestellt werden musste.

Für die Transplantation erhielt die Patientin vom Herzzentrum die höchste Dringlichkeitsstufe. Am 14. Mai 2007 wurde ihr dort ein Spenderherz implantiert. Seither erhält Elisabeth T. auf Anordnung des Herzzentrums 29 Tabletten pro Tag (!), mit denen eine Abstoßung des Spenderorgans vermieden, aber auch der Elektrolythhaushalt und die Magenverträglichkeit stabilisiert werden. Die Patientin weiß nicht, wie lange es sich erträglich so weiterleben lässt.

Dieser Fall zeigt zunächst eine erschreckende Unkenntnis in der Diagnostik der Notärztin. Die von der Patientin geschilderten Symptome sind geradezu klassische Indikatoren für einen Herzinfarkt. Das lernt ein Medizinstudent in den ersten Semestern. Da der Notärztin in ihrer kärglich eingerichteten Dienststelle die apparativen Voraussetzungen fehlten, um die gebotene weitere Abklärung vorzunehmen, hätte sie die Patientin in das nahegelegene Kreiskrankenhaus einweisen müssen.

Wie Frau Dr. S. zur Diagnose einer Magenschleimhautentzündung kam, ist nicht nachvollziehbar. Sie hielt sich nicht mit einer Anamnese auf, fragte also nicht, was die Patientin während der Feiertage wann und in welchem Umfang zu sich genommen habe – hier genügte wohl die Assoziation: Weihnachtsfeiertage, Gänsebraten, übergewichtige Patientin und Bauchweh, also zu viel gegessen. Was Kaltschweißigkeit und Atemnot mit Magenschleimhautentzündung zu tun haben sollen, bleibt rätselhaft.

Damit nicht genug: Die Patientin konnte bei Annahme des Anwaltsmandats nicht angeben, welche Ärztin aus welcher Stadt am Zweiten Weihnachtstag als Notärztin fungiert hatte, so dass umfangreiche Recherchen erforderlich waren.

Dabei ergab sich, dass die meisten in der Kreisstadt niedergelassenen Ärzte schon vor mehr als zehn Jahren übereingekommen waren, einen Kollegen aus der Landeshauptstadt damit zu beauftragen, den ärztlichen Notdienst zu organisieren und auf ortsfremde Ärzte zu übertragen. Zu diesem Zweck erscheint in regelmäßigen Abständen eine Anzeige in der örtlichen Presse:

Hausärztlicher Notdienst

Um die Versorgung der Patienten im Stadtgebiet […] außerhalb des Kassenärztlichen Notdienstes auch am Montag, Dienstag und Donnerstag sicherzustellen, haben die in der Kleinstadt tätigen Allgemeinärzte und die hausärztlich tätigen Internisten seit 01. 07. 1997 einen zusätzlichen Notdienst eingerichtet. Dieser Notdienst arbeitet an den genannten Tagen von 18 Uhr bis 7 Uhr am darauffolgenden Tag. Die Rufnummer des diensthabenden Arztes kann über die Anrufbeantworter der jeweiligen Hausärzte in Erfahrung gebracht werden. An den übrigen Tagen kann wie bisher der kassenärztliche Notdienst unter […] erreicht werden. Um sich nicht verschiedene Nummern mit den verschiedenen Dienstzeiten merken zu müssen, wird allen Patienten empfohlen, generell zunächst den Hausarzt anzurufen. Ist dieser nicht erreichbar, erhält man unter dessen Rufnummer genaue Informationen, wie der diensthabende Arzt zu erreichen ist.

Wie sich diese ortsfremde Versorgung der Bevölkerung mit der Präsenzpflicht der in der Kleinstadt niedergelassenen Ärzte und mit den Grundsätzen der Bereitschaftsdienstordnung der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN) verträgt, wird Gegenstand einer eigenen Untersuchung sein.

Inzwischen wurde in der Sache von Elisabeth T. Klage gegen die Ärztin Dr. S. erhoben. Vorangegangen waren Appelle an die Ärztin, ihre Haftpflichtversicherung zu benennen, um im Interesse der schwerkranken Patientin eine außergerichtliche Verständigung zu versuchen. Die Ärztin hat keine dieser Anfragen beantwortet. Sie hat auch verschiedene gleichlautende Aufforderungen der zuständigen Ärztekammer ignoriert. Das hat sich fortgesetzt in der Reaktion auf die beim Landgericht eingereichte Klageschrift, in der Schadensersatz in Höhe von zunächst 50.000 Euro verlangt wurde. Diese Begrenzung der Ersatzansprüche erklärt sich aus dem Umstand, dass die Patientin mangels Rechtsschutzversicherung die Gerichtskosten und Anwaltsgebühren zunächst selbst aufbringen musste.

Von der Möglichkeit der Klageerwiderung hat die Ärztin keinen Gebrauch gemacht. Sie hat auch weder einen Anwalt ihres Vertrauens eingeschaltet noch eine eventuell hinter ihr stehende Haftpflichtversicherung unterrichtet, so dass das Landgericht schließlich ein Versäumnisurteil gegen sie erließ. Sie wurde dazu verurteilt, die verlangten Schadensersatzforderungen in Höhe von etwa 50.000 Euro zu zahlen und den gesamten materiellen und immateriellen Zukunftsschaden der Patientin zu übernehmen.

Dieses Urteil wurde der Ärztin zugestellt. Sie hatte die Möglichkeit, ab Zustellung binnen zwei Wochen Einspruch einzulegen. Sie hat auch das nicht getan, so dass das Urteil rechtskräftig wurde.

Das Verfahren zur Realisierung der vom Landgericht zuerkannten Schadenersatzansprüche endete mit einem Fiasko. Da die Ärztin auf die Zahlungsaufforderung nicht reagierte, wurde der Gerichtsvollzieher mit der Zwangsvollstreckung beauftragt. Am 12. September 2008 wurde sie im Rahmen eines Vertretungsdienstes in einer Arztpraxis von dem – unangemeldet erschienenen – Gerichtsvollzieher mit der Pfändung konfrontiert. Die Ärztin erklärte in Form einer Eidesstattlichen Versicherung, über keinerlei pfändbare Habe zu verfügen. Die geringen Einkünfte aus dem Vertretungsdienst würden auf das Konto ihrer Mutter überwiesen (um sie der Pfändung zu entziehen). Sie erklärte außerdem, dass sie über keine Berufshaftpflichtversicherung verfüge.

Erstmals ist auf diese Weise publik geworden, dass Ärzte nicht unbedingt eine Berufshaftpflichtversicherung unterhalten müssen, die für Behandlungsfehler aufkommt. Der Abschluss einer solchen Versicherung wird ihnen zwar in den Berufsordnungen und Standesrichtlinien empfohlen, sie sind aber nicht dazu verpflichtet. Weder Gesetze noch Verordnungen, wie zum Beispiel die Approbationsordnung, machen die Zulassung des Arztes zur Ausübung seines Heilberufs vom Nachweis einer Berufshaftpflichtversicherung abhängig. Auch wenn eine solche Versicherung besteht, kann sie vom Versicherer, zum Beispiel wegen Beitragsrückständen, aufgekündigt werden, ohne dass dieser Umstand bekannt wird.

Diese Umgehung der Versicherungspflicht wird inzwischen in Gerichtsentscheidungen mehr und mehr angesprochen, wenn Patienten versuchen, Ärzte für Kunstfehler haftbar zu machen. Der Gesetzgeber ist dringend aufgefordert, eine solche Versicherungspflicht mitsamt regelmäßiger Kontrollen einzuführen. Bei anderen Freiberuflern wie Anwälten, Notaren, Architekten oder Steuerberatern ist dies teilweise längst der Fall. Das neue Patientenrechtegesetz schreibt aber immer noch keine Versicherungspflicht vor.

Elisabeth T. ist inzwischen verstorben, weil sie den Belastungen der Herzimplantation nicht gewachsen war. Dr. S. übt ihren Beruf weiter aus, weil sich die Ärztekammer nicht zu einem berufsständischen Verfahren entschließen konnte. Dass sie inzwischen eine Berufshaftpflichtversicherung hat, kann man ihren jetzigen Patienten nur wünschen.

Opfer Patient

Подняться наверх