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Die geplatzte Hauptschlagader

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Dr. Robert H., Jahrgang 1963, Privatdozent mit bevorstehender Berufung auf den Lehrstuhl für Experimentalphysik, war ein kerngesunder, sportlich aktiver Mann, ein treusorgender Familienvater von vier Kindern im Alter von elf, neun, fünf und zwei Jahren. In den frühen Abendstunden des 9. Juni 2003, einem Pfingstmontag, hatte er im Keller seines Hauses Bastelarbeiten verrichtet. Er kehrte gegen zehn Uhr abends in seine Wohnung zurück, nachdem er sich mit einem Nachbarn längere Zeit bei offensichtlichem Wohlergehen unterhalten hatte.

Kurz darauf versagten ihm die Beine und er brach in der Wohnung zusammen. Seine hinzugeeilte Ehefrau bemerkte Blässe im Gesicht, Schocksymptome und Schüttelfrost mit kaltem Schweiß auf Stirn und Brust. Der herbeigerufene Rettungswagen traf in weniger als zehn Minuten ein. Der Notarzt, ein Gastroenterologe, fand Robert H. auf dem Fußboden liegend. Er war ansprechbar. Der Arzt fertigte ein EKG an und gab ihm eine Infusion. Nach Messung von Puls und Blutdruck stellte er einen schlechten Kreislaufzustand und eine kreisförmige Blauverfärbung fest. Der Patient klagte über Übelkeit und hatte sich erbrochen. Der Arzt stellte fest, dass er sich eingenässt hatte und in kurzen Abständen über beginnenden Brustschmerz und kurze Luftnot klagte.

Der Notarzt nahm den Patienten zur stationären Behandlung mit. Die Klinik war nur ein paar hundert Meter entfernt, die Fahrt dauerte also nur wenige Minuten. In der Ersten Hilfe entschloss er sich zusammen mit einer diensthabenden Ärztin, Robert H. auf die Intensivstation zu verlegen. Er kreuzte auf dem Einsatzprotokoll unter anderem an, dass »Lebensgefahr nicht auszuschließen« sei. Dieses Berichtsformular wurde zusammen mit dem Patienten dem Arzt auf der Intensivstation übergeben.

Der diensttuende Arzt, ein Facharzt für Innere Medizin, hatte eine Ausbildung in Rettungsmedizin absolviert, war aber nur als Halbtagskraft eingesetzt. Er praktizierte zusätzlich als niedergelassener Arzt für Psychotherapie. Offenbar war er der einzige, auf den man während der Pfingstfeiertage zurückgreifen konnte.

Zur weiteren Diagnostik heißt es im Bericht des Intensivmediziners, dass eine Infusionstherapie mit zwei unterschiedlichen Infusionslösungen durchgeführt wurde. Dadurch sei ein deutlicher Anstieg des Blutdrucks erreicht worden. Der Allgemeinzustand des Patienten habe sich verbessert, er habe aber weiter über Rückenschmerzen und ein Engegefühl in der Brust geklagt. Die Ultraschalluntersuchung des Bauchraums habe keine Auffälligkeiten ergeben, die Hauptschlagader habe sich als unauffällig dargestellt. Nach dem Bericht war auch keine Flüssigkeit im Herzbeutel erkennbar, die Laborwerte waren bis auf eine Erniedrigung des Kaliumspiegels und etwas erhöhter weißer Blutkörperchen regelrecht.

Der Arzt hat also das Herz ohne krankhaften Befund eingestuft und keinen Pericarderguss (Ansammlung von Flüssigkeit im Herzbeutel) festgestellt. Diese Befundung wurde, wie er bei späterer Befragung im Strafprozess erklärte, aufgrund einer »orientierenden« Sonographie (Ultraschalldiagnostik) des Abdomens (Bauches) erstellt. Auf die Frage, was darunter zu verstehen sei, räumte der Arzt ein, er habe den Patienten »abgehorcht«. Damit nicht genug: Die dokumentierte Diagnostik weist aus, dass keine Röntgenaufnahme des Brustkorbs erfolgt ist, obgleich sie dringendst angezeigt war.

Ein Medizinstudent, der im Staatsexamen bei diesem klinischen Bild keine weitere Befunderhebung durch Aufnahmen des Brustkorbs für erforderlich hält, braucht das Examen nicht fortzusetzen. Auf dem Röntgenbild wäre klar zu erkennen gewesen, dass die Hauptschlagader im Thoraxbereich eine deutliche Ausweitung aufwies. Die Diagnose hatte ein sogenanntes Aneurysma (Ausweitung eines arteriellen Blutgefäßes) feststellen müssen. Bei weiteren Abklärungen hätte dann durch kardiale Ultraschalldiagnostik und Computertomographie der Brustorgane der aktuelle Zustand des Aneurysmas eingegrenzt und bestimmt werden können, mit der daraus sich ergebenden Konsequenz, den Patienten sofort zur Notoperation in das nahegelegene Deutsche Herzzentrum zu bringen – ein Transportweg von zwanzig Minuten!

All diese im Hause der Zentralklinik leicht durchführbaren Abklärungen sind aus Unkenntnis oder Gleichgültigkeit unterblieben.

Robert H. überlebte noch die gesamte anschließende Nacht. Bei der Übergabevisite am Morgen des nächsten Tages, etwa um 7.50 Uhr, wurde er schweißig und mit deutlich erniedrigten Blutdruckwerten angetroffen. Er klagte erneut über starke Rückenschmerzen. Die erst jetzt durchgeführte Echokardiographie zeigte das Vorliegen einer das gesamte Herz umgebenden Flüssigkeitsansammlung (sogenannter Pericarderguss) und eine Erweiterung des Querschnitts der Körperschlagader im Abgangsbereich aus dem Herzen auf mehr als fünf Zentimeter an (normal: zweieinhalb bis drei Zentimeter). Eine nun sofort vorgenommene Computertomographie der Brustorgane unter Kontrastmittelgabe bestätigte ein Aneurysma der Aorta mit großem blutigem Herzbeutelerguss.

Der Patient wurde trotz eilig durchgeführter Sofortmaßnahmen kurz darauf instabil und ließ eine starke Erweiterung und Lichtstarrheit der Pupillen erkennen, was typisch für eine inzwischen eingetretene irreversible Hirnschädigung ist. Die anschließenden Wiederbelebungsmaßnahmen wurden nach knapp einer Stunde erfolglos beendet. Der Patient verstarb um 9.20 Uhr.

Dem couragierten Engagement der Ehefrau ist es zu verdanken, dass ihr Gatte obduziert wurde. Aufgrund der Obduktionsergebnisse konnten dann Gutachten in Auftrag gegeben werden. Eine zunächst eingeschaltete Anwaltskanzlei hatte Strafanzeige gegen den Intensivmediziner wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung erstattet, weshalb sich die Staatsanwaltschaft dazu veranlasst sah, das Gutachten eines pensionierten Professors einzuholen. Dieser kam zu dem Ergebnis, dass Robert H. an einer Aortendissektion (Aufspaltung der Hauptschlagader) verstorben war. Die unterlassene Thorax-Röntgen-Aufnahme in der Diagnostik hätte dafür keine entscheidende Bedeutung gehabt.

Ein daraufhin – nach Anwaltswechsel – erstattetes Gutachten eines renommierten Kardiochirurgen aus der Schweiz ergab, dass der Tod nicht auf eine Aortendissektion, sondern auf einen Riss des Aneurysmas zurückzuführen war. Für die Früherkennung des Aneurysmas hatte die unterlassene Thorax-Röntgen-Aufnahme entscheidende Bedeutung: Auf dem Röntgenbild wäre das Aneurysma leicht zu erkennen gewesen. Der Patient hätte noch in der Nacht im Deutschen Herzzentrum operiert werden können.

Robert H. hätte also den Kollaps am Pfingstmontagabend 2003 überlebt, wenn der auf der Intensivstation tätige Arzt das kleine Einmaleins der Auswertung des ihm präsentierten klinischen Bilds beachtet und eine Thorax-Röntgen-Aufnahme angeordnet hätte. In dem Gutachten des schweizerischen Herzchirurgen heißt es:

»Eine Thorax-Röntgen-Aufnahme wäre obligat gewesen, weil sie mit Sicherheit entweder ein CT [Computertomogramm] oder eine Echokardiographie nach sich gezogen hätte. Zu diesem Zeitpunkt wäre auch der entscheidende Unterschied zwischen einer akuten Aortendissektion und einem chronischen lange bestehenden Aneurysma ins Spiel gekommen. Die hier riesige, chronische Aufweitung der aufsteigenden Hauptschlagader hätte man im Standardbild aber mit Sicherheit nicht übersehen können. Ohnehin hätte man schon aufgrund der klinischen Präsentation des Patienten, d. h. aufgrund seiner Symptome an eine CT und/oder Echokardiographie denken müssen, die dann zweifelsfrei zur richtigen Diagnose geführt hätte.«

Immerhin hat sich der zunächst eingeschaltete pensionierte Sachverständige in der Hauptverhandlung diesem Votum angeschlossen und sein Erstgutachten korrigiert. Aber man bedenke: Hätte die Witwe nicht die Obduktion durchgesetzt und wäre nicht ein zweiter Gutachter hinzugezogen worden, dann hätten ihr und ihren vier kleinen Kindern keine Schadensersatzansprüche gegen das Krankenhaus zugestanden.

»Es kam mir gar nicht darauf an, mit der Obduktion die Voraussetzung für spätere Schadensersatzansprüche zu schaffen«, erklärte Frau H. »Das war mir in diesem Augenblick egal. Ich konnte nur absolut nicht begreifen, dass mein kerngesunder Mann urplötzlich sterben musste, ohne dass man eine Ursache kannte, die man nachvollziehen konnte. Ich wollte unbedingt Klarheit schaffen, und zwar für mich und für meine Kinder. Ich gebe zu, dass mir auch der Aufnahmearzt zu gleichgültig erschien. Ich konnte das nicht hinnehmen. So einfach konnte mein Mann von seiner Familie und dieser Welt nicht verabschiedet werden.«

Das Strafverfahren gegen den Intensivmediziner wurde nach einer Hauptverhandlung von drei Tagen eingestellt gegen die Auflage, 6.000 Euro an eine gemeinnützige Einrichtung zu zahlen und alle Verfahrenskosten zu übernehmen. Die Hinterbliebenen haben diesem Prozedere auf Anraten ihres Anwalts erst dann zugestimmt, als die hinter dem Arzt und dem Klinikum stehende Haftpflichtversicherung sich während des Strafprozesses schriftlich und rechtsverbindlich dazu verpflichtet hatte, Schadensersatzansprüche für Witwe und Kinder in fast voller Höhe anzuerkennen.

Um eine geringe Mithaftung wurde hart gerungen. Die Gegenseite hatte argumentiert, dass eine Verlegung von Robert H. ins Deutsche Herzzentrum während der Nacht ein nicht ausschließbares zusätzliches Risiko dargestellt hätte, so dass eventuell schon auf dem Transport oder unmittelbar danach ein kompletter Riss des Aneurysmas hätte eintreten können. Reanimationsmaßnahmen wären dann möglicherweise hoffnungslos gewesen.

Die Witwe hat diesen Kompromiss letztlich akzeptiert. Ein Abstrich von etwa fünfzehn Prozent der Gesamtansprüche war hinnehmbar, weil ihr damit ein vermutlich jahrelanger Zivilprozess erspart blieb. »Auf das Geld kam es mir letztlich nicht an, auch wenn ich mir vor allem während der Nacht den Kopf darüber zerbrach, wie ich meine Kinder durch die Schule und später vielleicht auch durch ein Studium bringen konnte.«

Zur Auszahlung gelangte schließlich im Rahmen eines Vergleichs eine Entschädigung von 310.000 Euro. Damit war die Existenzgrundlage von Mutter und Kindern wenigstens für die nächste Zukunft gesichert.

Noch zwei kurze Anmerkungen zu diesem Fall.

Die Hinterbliebenen konnten ihre Schadensersatzansprüche nur durchsetzen, weil eine Obduktion mit exakter Eingrenzung der Todesursache durchgeführt wurde. In Deutschland wird viel zu wenig obduziert. Andere Länder sind uns da weit voraus, wobei rechtspolitische Forderungen darauf konzentriert sind, Verbrechenstatbestände aufzudecken. Auch Hinterbliebene sollten aber eine Obduktion in Erwägung ziehen, wenn der Verdacht eines Arztfehlers aufkommt. Ohne Obduktion gibt es kaum strafrechtlich oder zivilrechtlich verwertbare Erkenntnisse.

An die Klinikleitungen ergeht die Mahnung, an Sonn- und Feiertagen keine unerfahrenen Therapeuten einzuteilen, zumindest nicht ohne Aufsicht. Bei den zahlreichen Arzthaftpflichtschäden verschiedener Kliniken fällt häufig auf, dass an solchen Tagen Kapazitätsengpässe entstehen. Das mag mit dem Wirtschaftlichkeitsdenken der Verwaltungen zusammenhängen, vielleicht auch mit einem gesteigerten Freizeitbedürfnis von Ärzten und Pflegepersonal. Offenbar gehört der hochrangige Grundsatz »Das Wohl des Kranken ist oberstes Gesetz« der Vergangenheit an.

Opfer Patient

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