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LIESELOTTES REISE DURCH INDIEN – 1956 Aus Lieselottes Tagebuch I – September 1956 Im Zug unterwegs von Bombay nach Kalkutta, Freitag, 21.09.1956

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Seit zirka vierzehn Stunden befinde ich mich in der Bahn. Momentan hält der Zug, sodass ich diesen kurzen Aufenthalt zum Schreiben nutze. Die Zeit reicht aber nur für kurze Schilderungen darüber, was draußen vor sich geht.

Der Himmel ist bedeckt, noch ist es nicht heiß. Ich sehe kleine Ansiedlungen, niedrige Hütten, manchmal aus Lehm oder auch weiß getüncht. Kleine und größere Kuhherden, die Tiere sind ziemlich knochig. An den Brunnen holen Leute Wasser, sie stehen auf dem Rand und ziehen den Eimer an einem Strick heraus. Vom Monsun sind überall noch Rinnsale zu sehen. Oft sitzen Frauen an den Pfützen mit einem Häufchen Wäsche, das sie auf einem Stein waschen. Dabei schlagen sie das Wäschestück, das beinahe zu einem Strick zusammengedreht ist, dauernd darauf. Die Landschaft ist flach, beinahe wie an der Elbe, mit kleinem Gebüsch, meist Palmengesträuch.

Wir erreichen Nagpur. Auf dem Bahnhof herrscht viel Betrieb. Meine drei Mitreisenden, ein indisches Ehepaar und ein Bekannter von ihnen, haben soeben eine Menge Verwandte im Abteil empfangen. Diese brachten unter anderem Riesenportionen Obst mit.

Die Begrüßungszeremonien waren interessant. Die jüngeren Leute verbeugten sich bis auf die Erde, bzw. bis zu den Füßen der Frau, die wiederum dasselbe, wahrscheinlich bei ihrer Mutter oder ihrem Vater, tat. Die anderen Frauen umarmten sich von links nach rechts. Bei der Begrüßung gab es Tränen und auch beim Abschied sind die Inder, wie ich feststellte, sehr gerührt.

Die Dame, die äußerst hässlich war, hockte auf dem Sitz, der Kopf war bedeckt und sie schaute aus dem Fenster. Während sich die Männer lebhaft unterhielten, sagte sie kein Wort. Nur wenn ihr Mann etwas von ihr forderte, sprach sie. Die beiden Herren haben gestern Abend auf dem Boden des Zuges gesessen und unentwegt Karten gespielt, das in Indien übliche Mittel, um sich die Zeit zu vertreiben. Heute Morgen haben sie gefrühstückt, die Frau bekam aber nichts ab. Wahrscheinlich mag sie nur ihr selbst zubereitetes Essen, welches sie, zur Wand gekehrt, dann gelegentlich verzehrt. Die Morgenstunden hat sie größtenteils mit dem Zubereiten von „Pan“ – Betelnuss in Blättern – zugebracht.

Ich habe „Pan“ am ersten Abend in Bombay probiert, aber noch keinen besonderen Geschmack daran gefunden. Es soll allerdings gut für die Verdauung sein.

Das Abteil sah wie ein Kramladen aus, so viele Körbe, Pakete und Geschirr führen die Drei mit sich. Zur Lunchtime wurde ein Tuch auf dem Boden ausgebreitet und das Geschirr darauf gestellt. Als Teller benutzten sie aus vielen kleinen Blättern zusammengesteckte, etwa tortenbodengroße Platten. Das Essen wurde darauf gefüllt und dann ging es los. Anschließend wurden diese Blatt-Teller einfach weggeworfen. Sie haben mindestens drei Diener bei sich, die gelegentlich kamen und zum Beispiel für frisches Wasser sorgten. Sie reisten allerdings im Abteil für Diener (servants compartment).

Der Eine erhielt sein Essen auf Zeitungspapier bereitet. Ich hätte nichts heruntergebracht, er aber aß mit Herzenslust. Gott sei Dank verließ die Reisegesellschaft gegen fünf Uhr das Abteil, da sie am Ziel angelangt war.

Von da an hatte ich das Abteil für mich und habe es mir entsprechend gemütlich gemacht. Zur Nacht bin ich in das obere Bett umgezogen, da die Fenster und Türen undicht sind und es entsetzlich zieht. Oben sind keine Fenster, so stört also während der Nacht die Helligkeit der Bahnhöfe nicht. Die Türen habe ich von innen verriegelt, so fühle ich mich allein ganz wohl. Die Ventilatoren habe ich auch nicht angestellt, da in der letzten Nacht alle vier liefen und das Ergebnis der ersten Eisenbahnnacht in Indien eine handfeste Erkältung war. Demzufolge bin ich in der zweiten Nacht vorsichtiger.

Am Abend erlebte ich ein heftiges Gewitter. Es war trotzdem schön, die hellen Blitze am dunklen Nachthimmel zu betrachten. Vom Donner hörte man nichts, da das Rattern des Zuges jeglichen Lärm von außen verschluckte.

Auch in der zweiten Eisenbahnnacht habe ich nur wenig geschlafen und war um fünf Uhr bereits hellwach. Eine halbe Stunde später wurde der Morgentee gebracht mit zwei Scheiben Toast und Butter, es kostete elf Annas. Am ersten Tag habe ich mir drei Mal Tee bestellt, denn Essen wollte ich nicht haben. Es ist zwar nicht teuer, aber es war mir im Abteil nicht sauber genug. Jetzt erst habe ich den Rest der deutschen Schokolade und von den Keksen gegessen, die ich von zu Hause mitgenommen hatte. Sie sind noch ganz hervorragend.

Da wir um sechs Uhr dreißig in Kalkutta ankommen sollen, habe ich meine Bettrolle zusammengepackt. Viel zu früh, wie sich herausstellte, denn der Zug hatte alles in allem drei Stunden Verspätung.

Über Nacht hatte sich die Landschaft kolossal verändert. Die Dörfer sahen viel sauberer aus. Aus Lehm gebaut und mit Palmwedeln gedeckt, umgeben von Bäumen und Palmen. Es sah recht romantisch aus. Hier habe ich keine der vielen Schweine gesehen, die überall herumliefen als wir die Gegend zwischen Nagpur und Raipur durchfuhren. Die Schweine haben Ähnlichkeit mit unseren Wildschweinen, in Gestalt und Farbe,– ich mag sie nicht gern sehen. Hier in diesem Landstrich – ob es schon Bengalen ist? – steht viel Land unter Wasser. Die Reisfelder sehen sauber und ordentlich aus und es wirkt oft sehr idyllisch mit dschungelartigen Wäldern an beiden Seiten.

Zum Schluss werde ich nun aber doch ungeduldig, denn es ist bereits neun Uhr und noch immer keine Howrah-Station in Sicht.

Für die Gedanken, die mir in dieser Zeit des ungeduldigen Wartens durch den Kopf gehen, habe ich mir seit meiner Abreise keinen Augenblick genommen. Eigentlich habe ich noch überhaupt nicht viel darüber nachgedacht. Nun aber überkommen mich plötzlich Zweifel. Wäre ich wohl tatsächlich gefahren, wenn Hans sich in den letzten Monaten, vielleicht Jahren, anders verhalten hätte, wenn der Krieg einen anderen Ausgang genommen und Hans noch immer berufliche Zufriedenheit und damit Erfolge gehabt hätte? Wäre er so griesgrämig, misslaunig und cholerisch geworden, wenn ich mit der DIG (Deutsch-Indische-Gesellschaft) Schiffbruch erlitten und weniger erfolgreich gewesen wäre?

Wie oft hatte er mich gedemütigt, angeprangert, vor anderen wie ein Schulmädchen belehrt und wie oft habe ich darunter gelitten. Ich weiß es nicht – bin ich etwa schon abgestumpft? Höre ich es nicht mehr? Doch! Und es tut noch immer weh.

Ich sitze in meinem Abteil und merke, dass ich während dieser Erinnerung völlig zusammen gesunken bin, als hätte ich kein Rückgrat. Rückgrat? Ist es das, was ich stärken müsste? Was würde es bringen? Ginge ich mit gestärktem Rückgrat auf Hans zu, könnte das bedeuten, dass wir ständig miteinander kämpfen müssten: Wer hat Recht, wer bekommt Recht, wer hat die besseren Ideen, wer wird mehr anerkannt, wer hat mehr Kraft und Ausdauer, wer weiß mehr, wer ist gebildeter, wer hat mehr Freunde? Nein, das wollte ich nicht, geht es mir durch den Kopf. Ich will eine gerechte Lebensweise, eine harmonische, eine friedliche, ich möchte nicht kämpfen! Ist das mit Hans noch möglich, wieder möglich, wenn ich zurückkomme?

Mein Wunscherbe. Teil 2: Im Land meiner Träume

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