Читать книгу Mein Wunscherbe. Teil 2: Im Land meiner Träume - Dietlinde Hachmann - Страница 9

Samstag, 22.09.1956

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Der schrille Pfiff des Zuges, der in die Howrah-Station einfuhr, riss mich aus meinen Überlegungen. Nun bin ich also in Kalkutta angekommen.

Die widersprüchlichsten Empfindungen haben mich in den letzten Eisenbahnfahrtstunden gemartert. Einerseits habe ich über meine Ehe und ihre Entwicklung nachgedacht, andererseits beherrschte Deboo alle Gefühle. Wie wird es, wie wird er sein, nach so langen Jahren?

Auf dem Bahnsteig habe ich ihn, vom Abteil aus, zuerst entdeckt. Ich winkte ihm und daraufhin bahnte er sich einen Weg durch die Menschenmenge, denn mehr als ein Dutzend Träger stand vor meiner Tür. Als er schließlich vor mir stand, sagte er in etwa:

„Na, da bist du ja nun!“

Ich bekam zwar keine Girlande, aber vier wundervolle rote Lotusblüten, da er ganz richtig angenommen hatte, dass mir diese unbekannt seien.

Was wir auf dem langen Weg zum Auto sprachen, war ziemlich belanglos. Was soll man sich auch schon zwischen Tausenden von Menschen sagen? Während der Fahrt von der Station bis zum Botanischen Garten erzählte er mir, dass er morgens um sechs Uhr schon einmal am Bahnhof gewesen war und gehört hatte, dass mit der Ankunft des Zuges noch nicht zu rechnen sei. Telefonisch habe man ihn dann auf dem Laufenden gehalten, und schließlich war er zur richtigen Zeit da.

Ich war sehr aufgeregt und angespannt, und musste ihn dauernd anschauen. In seinen dunklen Haaren, die sich lockten, war kein einziges weißes oder graues Haar zu entdecken, obwohl es sich bereits ein ganz klein wenig lichtete. Seine Augen waren dunkel, wobei das eine minimal kleiner war, als das andere. Die Ohren waren eng anliegend. Er hatte schmale Hände, die Finger wirkten beinahe zierlich. Ich mochte seinen Mund, die Form und die gar nicht breiten Lippen, die sehr weich aussahen. Er trug europäisch-tropische Kleidung: weiße Hosen und ein cremefarbenes Buschhemd, das kurze Ärmel hat und über der Hose getragen wird.

Von der Fahrt durch die Stadt nahm ich nichts wahr. Erst als wir durch den wundervollen Botanischen Garten fuhren und ich das Haus von der Fotografie her erkannte, das wirklich wie ein kleines Schloss aussah, richtete sich mein Blick wieder anderen Dingen zu.

Zuerst wurde ich in mein Zimmer geführt, damit ich mich ein wenig erfrischen konnte. Dann bekam ich Deboos zweitjüngste Schwester, die 22 Jahre alt und ihren Sohn, der zwei Jahre alt ist, zu Gesicht. Sie ist entzückend schön, das Bübchen ebenfalls.


1. Dr. Debabrata Chatterjee, genannt Deboo (sprich: Debu)

Ich hörte, wie Deboo seine Tochter Ratna rief, aber sie war wohl nicht in der Nähe.

Als ich aus meinem Zimmer kam, sah ich sie allerdings im gegenüberliegenden Raum entlang huschen. Die Zimmer haben Vorhänge vor den Türen, da diese im Allgemeinen nicht geschlossen werden. So blieb ich stehen und dachte:

‚Mal sehen, was sie tut.‘

Und richtig! Nach wenigen Sekunden schielte sie durch den Vorhang. Daraufhin habe ich sie gerufen. Ratna ist sehr groß für ihre dreizehn Jahre. Sie ist größer als ich. Ihre ganze Erscheinung ist die einer jungen Frau, aber im Wesen ist sie noch sehr kindlich und schüchtern. Auf den Fotos erkennt man gar nicht, dass sie ein sehr hübsches Mädchen ist.

Sigrun ist zwar ein wenig älter, aber erscheinungsmäßig wirkt sie, Ratna gegenüber, viel kindlicher.

Das Zimmer, das ich bewohne, ist fantastisch. Es gehört sonst Deboo, man hat es nun aber für mich hergerichtet. Wahrscheinlich werden hier nur besondere Gäste untergebracht, denn eigentlich gibt es andere Gästezimmer. Die Räume sind riesig groß und hoch. Ein Raum ist größer als unsere ganze Wohnung. Es ist mit einem großen Bett, über das ein Moskitoschleier gespannt ist, was sehr romantisch aussieht, drei Schränken, einem Tisch, auf dem ein großer Strauß Gladiolen steht, Stuhl, Sessel, Frisiertisch und einem Kamin ausgestattet. Daran angeschlossen ist ein Badezimmer. Drei große, verglaste Doppeltüren führen an beiden Seiten des Zimmers auf Balkone, beziehungsweise auf Veranden. Eine davon gibt den Blick auf den Hooghly River frei. Es ist zauberhaft schön, diesen Ausblick auf den Strom zu genießen.

Das Haus umgibt eine sehr vornehme Atmosphäre. Die Zahl der Diener habe ich noch nicht herausgefunden. Zwei kochen und bedienen bei Tisch. Es lebt auch noch ein Neffe im Haus, und morgen werden die Mutter von ihm und ein zweiter Bruder, aus Madras kommend, erwartet.

Am Abend lernte ich die Eltern von Deboo kennen. Der Vater ist ein sehr interessanter Mann, der mir äußerst gut gefällt. Er ist sehr klug und überaus religiös. Früher war er Professor.

Herr von Pochhammer, der deutsche Generalkonsul in Bombay, hatte mir bei irgendeiner Gelegenheit einmal seine Interpretation des Namen „Chatterjee“ erläutert. Er bedeutet: Einer, der die Vier Veden lesen kann, also derjenige, der der gelehrtesten Klasse, den Brahmanenpriestern, angehört, so in etwa jedenfalls. Es ist kompliziert.


2. Mr. und Mrs. Chatterjee, die Eltern von Deboo

Danach erfolgte eine Hausbesichtigung und im Anschluss daran auch ein Besuch im „Office“, in seinem Büro, nur wenige Meter vom Hause entfernt. Es ist ein großes Gebäude. Eine ungeheure Menge von Büchern ist dort in Schränken untergebracht. Wir haben alles eingehend angesehen und, an einem der Schränke stehend, fragte Deboo mich plötzlich: „Liese, why do you like me so much?“ („Liese, warum magst du mich so sehr?“)

Ich war ein klein wenig überrascht, denn während des Tages hatte er, außer einer sehr liebevollen Zuvorkommenheit, kein direktes Wort diesbezüglich gesagt. Deshalb wusste ich nicht, was ich antworten sollte. Er sprach aber gleich weiter und erzählte, wie lange er mich schon mag, und dass ich heute noch viel, viel schöner wäre als damals.

„Ich mag dich so sehr“, flüsterte er, „als ich dich im Zug sah, hätte ich dich am liebsten geküsst, aber das ist in Indien nicht üblich. Ich hoffte den ganzen Tag auf eine passende Gelegenheit. Darf ich es jetzt?“

Es war ein sehr heißer und leidenschaftlicher Kuss, dem ein zweiter folgte und der den ganzen botanischen Garten in Brand setzte. Was ist das doch für eine Macht!

Er ist unsagbar verliebt und ich bin es ebenfalls. Am liebsten wären wir noch geblieben, aber wir wollten kein Aufsehen erregen und von niemandem beobachtet werden, deshalb sind wir ins Haus zurückgekehrt, während zahllose Zikaden im Gras zirpten und Glühwürmchen durchs Gesträuch flogen. Wie schade, diese wonnige Zweisamkeit wieder verlassen zu müssen.

Da es fast ununterbrochen regnete, es sind die letzten Monsunregen, verbrachten wir den Sonntag zusammen im Haus, erzählten einiges und schwiegen viel. Wir konnten uns nicht trennen, obgleich jeder den Mittagsschlaf hätte brauchen können.

Wir verbrachten lange Zeit damit, Hunderte von Fischern in ihren Booten zu beobachten, die auf Fische warteten und die jeweils mit ein- beziehungsweise ausgehender Flut in Massen gefangen werden. Jetzt ist die Saison für einen besonders schmackhaften Fisch, von dem alle Bengalen in Hamburg schwärmten. Er wurde uns gestern Abend zum Essen serviert und ich muss sagen, er war wirklich deliziös.

Am Nachmittag beobachteten wir von der riesigen Dachterrasse aus viele große Schiffe, die in Kalkutta ankamen oder die den Hafen verließen. Plötzlich erkannte ich den gelben Stern der „Indian Steamship Company“ und war neugierig, welches der Schiffe wohl gerade ankommt: Es war die „Indian Resource“! Nun wird Mallik meinen Brief bekommen, den ich aus Bombay an ihn geschrieben habe. Wir fotografierten das Schiff, das zum Zeichen der Jungfernreise wieder, wie damals in Hamburg, beflaggt war.

Ich musste dabei an den damaligen schönen Tag und an den Abend in Hamburg denken, als Indien noch ein holder Traum für mich war und sich alles in mir nach der Erfüllung dieses Traumes sehnte. Heute ist es Wirklichkeit geworden und noch hat mich nichts, aber auch gar nichts enttäuscht. Über das Land selbst hatte ich ja keine Illusionen, sondern wusste, was mich erwartet. Was ich nicht wusste und was bis gestern noch von Zweifeln eingehüllt war, ist sehr schnell sonnenklar geworden, viel schneller, als es eigentlich zu erwarten gewesen war.

Ich beschließe, am nächsten Morgen einen Bericht über diese erste Zeit in Kalkutta nach Putensen zu schicken.

Es ist spät geworden, hier ist es zauberhaft schön, so dass ich zwar jede verschlafene Stunde als Versäumnis betrachte, aber ich möchte morgen frisch und ausgeruht sein.

Mein Wunscherbe. Teil 2: Im Land meiner Träume

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