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»Dein Lachen endet vor der Morgenröte …«

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Im Gegensatz zu seinem sieben Jahre älteren Bruder Carl, der auf Geheiß der Mutter einen kaufmännischen Beruf ergreift und schließlich als k.k. Staatsbuchhaltungsoffizial in Mailand sein Fortkommen findet, wendet sich Franz Xaver Wolfgang, der musikalischere der beiden Mozart-Söhne, dem väterlichen Metier zu und versucht sich als Pianist, Klavierlehrer, Chorleiter, Theaterkapellmeister und Komponist. Von Koryphäen wie Sigismund von Neukomm, Andreas Streicher, Johann Nepomuk Hummel, Johann Georg Albrechtsberger und Antonio Salieri ausgebildet, kann der sechs Monate vor Vaters Tod Geborene tatsächlich mancherlei Erfolge verbuchen: Konzertreisen führen ihn durch halb Europa, die Liste seiner eigenen Kompositionen zählt dreißig Werke. Zumindest Fleiß kann man dem Filius also nicht absprechen. Was ihm fehlt, ist der Zug zum Genialischen: Franz Xaver Wolfgang steht zeit seines Lebens im übermächtigen Schatten des Vaters. Da hilft es auch nichts, daß Mutter Konstanze ihren Letztgeborenen, als sie dessen Musikalität erkennt, in Wolfgang Amadeus umbenennt.

Eines allerdings hat »Wowi«, wie er als Kind gerufen wird, dem berühmten Vater voraus: Während dieser, knapp sechsunddreißigjährig am »hitzigen Frieselfieber« verstorben, sich mit einem Begräbnis dritter Klasse begnügen muß und in einem Schachtgrab des Wiener Vorstadtfriedhofs St. Marx beigesetzt wird, von dem man bis heute nicht einmal die genaue Lage weiß, erhält Franz Xaver Wolfgang eine standesgemäße Beerdigung, und auch der Grabstein, den die ihm befreundete, drei Jahre ältere Baronin Josephine Cavalcabo, geb. Gräfin Castiglioni, in Auftrag gibt, rückt die Verdienste des Verblichenen ins rechte Licht. Die Inschrift, ursprünglich von keinem Geringeren als dem Dichter Franz Grillparzer entworfen, vor der endgültigen Ausführung durch den Steinmetz jedoch leicht abgewandelt, lautet:

»Wolfgang Amadeus Mozart, Tonkünstler und Tonsetzer, geb. 26. Juli 1791, gest. 29. Juli 1844, Sohn des großen Mozart, ähnlich dem Vater an Gestalt und edlem Gemüte. Der Name des Vaters ist seine Grabschrift, so wie seine Verehrung des ersteren der Inhalt seines Lebens war. «

Ort des funeralen Geschehens ist Karlsbad. 1835 hat Mozart junior in Begleitung Frédéric Chopins das erste Mal den renommierten böhmischen Kurort aufgesucht; jetzt, am 17. Juni 1844, trifft er an der Seite seines Lieblingsschülers, des achtzehn Jahre alten Pianisten Ernest Pauer, als Kurgast Nr. 1032 in Karlsbad ein. Doch der Dreiundfünfzigjährige, seit zwei Jahren Vollwaise, ist bereits zu hinfällig, als daß es noch ärztliche Hilfe für ihn gäbe: Sechs Wochen nach seiner Ankunft stirbt er an Magenverhärtung und wird am 1. August auf dem Andreas-Friedhof zu Karlsbad beigesetzt. Musiker der Kurkapelle begleiten den Trauerkondukt, Sänger des örtlichen Musikvereins intonieren einen Choral, in der Stadtkirche wird noch am nämlichen Tag Vater Mozarts Requiem aufgeführt. So wie Grillparzer von seiner in Karlsbad zur Kur weilenden Freundin Kathi Fröhlich die Sterbenachricht erhält, gedenkt er des »guten Sohnes« mit einem eilends verfaßten achtstrophigen Gedicht.

Als der Andreas-Friedhof zwanzig Jahre später aufgelassen und 1913 in einen öffentlichen Park umgewandelt wird, erinnert man sich des berühmten Namensträgers und restauriert das in klassizistischer Manier gestaltete Grabmal, das bis heute von jener inzwischen hochaufragenden Esche behütet wird, die noch die vorerwähnte Baronin Cavalcabo gepflanzt hat. Böhmen, das schon dem Vater des Verstorbenen so viel bedeutet, ja ungleich mehr an Verehrung entgegengebracht hat als dessen Sterbeort Wien, erweist sich also auch des Sohnes würdig und tut dies nach wie vor: Kein Kurgast, der auf seinen Karlsbader Spaziergängen nicht auch einen Abstecher zum heutigen Mozartpark unternähme.

Mozart selbst kommt schon als Knabe von elf Jahren mit dem Nachbarland in Berührung. In Wien ist eine Pockenepidemie ausgebrochen; die Familie will der Ansteckung entgehen, indem man für eine Weile nach Brünn ausweicht. Das Gesundheitliche klug mit dem Pekuniären verbindend, soll die Reise in die mährische Hauptstadt auch gleich dazu genutzt werden, den dortigen Musikfreunden das Klaviertalent von Wolferl und Nannerl vorzuführen. Doch der eigentliche Zweck des Unternehmens wird verfehlt: Als Leopold Mozart und die beiden Kinder in Olmütz, der zweiten Station ihrer Reise, eintreffen, sind auch sie längst infiziert und müssen – unter der Obhut des Prälaten Leopold Anton Graf Podstatsky-Lichtenstein – im Gebäude der Kapiteldechantei in ärztliche Pflege gegeben werden. Zehn Wochen nimmt die Kur in Anspruch, dann kehren die Mozarts per Postkutsche nach Wien zurück.

Daß bis zu Mozarts erster Reise nach Prag fast zwanzig Jahre verstreichen werden, wird durch den schier überbordenden Enthusiasmus wettgemacht, der dem nunmehr Einunddreißigjährigen in der böhmischen Hauptstadt entgegenschlägt. Den Boden dafür bereitet hat der große Erfolg seiner Oper »Die Entführung aus dem Serail«, die die »Schau- und Singspielgesellschaft« des Impresarios Carl Wahr anno 1783 im Theater auf dem Carolinplatz aufgeführt hat. Jetzt, im Dezember 1786, ist es die Truppe des Theaterdirektors Pasquale Bondini, die die Prager Musikwelt mit »Figaros Hochzeit« in einen Taumel des Entzückens versetzt. In allen Gassen und Gärten kann man die Leute »Figaro«-Melodien singen hören, kein Straßenmusikant darf auf einen Obolus hoffen, wenn er nicht das »Non più andrai« in seinem Repertoire hat, und die Ballorchester plündern Mozarts Partitur, indem sie deren »Hits« in Contretänze umwandeln, zu deren Klängen die feine Gesellschaft das Tanzbein schwingt. Es ist übrigens nicht nur die sprichwörtliche Musikalität der Böhmen, die sie so sehr für Mozart einnimmt, sondern hat auch versteckte politische Gründe: Die unverhohlen kritischen Töne, die in Lorenzo da Pontes Libretto anklingen, hört niemand klarer heraus als die aufmüpfigen Prager, die sich von Wien im allgemeinen und von den Habsburgern im besonderen unterjocht fühlen und daher für jedes kleinste Zeichen des Aufbegehrens gegen höfische Konvention empfänglich, ja dankbar sind.

In dieser Situation allgemeiner Prager Mozart-Seligkeit mehren sich die Stimmen, die auf einen persönlichen Besuch des Meisters in der Stadt seiner Triumphe drängen. Johann Joseph Anton Graf von Thun ist es, der die Einladung ausspricht; in seinem Palais auf der Prager Kleinseite läßt er das Logis für den hohen Gast und dessen Begleitung herrichten. Am 11. Jänner 1787, einem kalten Wintertag, treffen Mozart, Gattin Konstanze, deren künftiger Schwager Franz Hofer, die Violinvirtuosin Anna Antonia Crux, der Klarinettist Anton Stadler und der Geiger Kaspar Ramlo nach dreitägiger Fahrt in Prag ein. Auch Mozarts Diener Joseph und das geliebte Hündchen Gauckerl sind mit von der Partie – man reist in zwei Kutschen an. Die Reisegesellschaft ist bester Laune, man scherzt und gibt einander die übermütigsten Spitznamen: Aus Wolferl wird Punkitititi, aus Konstanze Schabla Pumfa.

Gleich nach der Ankunft werden die Mozarts von ihren Gastgebern auf einen Faschingsball »verschleppt«; während des vierwöchigen Aufenthalts folgen Visiten in der Bibliothek der Jesuiten und im Physikalischen Kabinett im Klementinum Begegnungen mit Mitgliedern der Prager Freimaurerlogen sowie vor allem der Abschluß eines Vertrages mit Theaterdirektor Bondini, der Mozart zur Komposition einer neuen Oper verpflichtet (die dann der »Don Giovanni« sein wird).

Jetzt aber geht es erst einmal darum, das anhaltende Prager »Figaro«-Fieber zu nutzen. Beehrt der Meister die Vorstellung vom 17. Jänner bloß mit seiner Anwesenheit (wofür ihn das Publikum, als es seiner gewahr wird, mit Jubelrufen überschüttet), so tritt Mozart drei Tage darauf auch selbst in Aktion und dirigiert vom Cembalo aus Orchester und Bühne. Eigentlicher Höhepunkt seines ersten Prag-Aufenthaltes ist jedoch die »Musikalische Akademie« im Nationaltheater, bei der er seine dreisätzige D-Dur Symphonie aus der Taufe hebt. Einer der Zeugen des denkwürdigen Ereignisses berichtet darüber:

»Zum Schlusse phantasierte Mozart auf dem Pianoforte eine gute halbe Stunde und steigerte dadurch den Enthusiasmus aufs höchste, so daß er gezwungen war, sich nochmals ans Klavier zu setzen. Der Strom dieser neuen Phantasie wirkte noch gewaltiger und hatte zur Folge, daß er von den entbrannten Zuhörern zum dritten Male bestürmt wurde. Mozart erschien, und innige Zufriedenheit strahlte aus seinem Antlitz. «

Erst Mitte Februar treten der Meister und die Seinen die Heimreise an – tiefbeglückt von den Sympathiebezeugungen der Prager Musikfreunde. Auch über den neuen Opernauftrag freut er sich, wenngleich die 100 Dukaten, die man als Gage vereinbart hat, nicht gerade ein fürstliches Honorar zu nennen sind …

Wien zeigt sich von den Erfolgsmeldungen aus Prag wenig beeindruckt: Hier setzt man nach wie vor auf den herkömmlichen italienischen Opernstil. Als neuer Halbgott tritt außerdem Karl Ditters von Dittersdorf auf den Plan, der einen Singspielauftrag nach dem anderen einheimst. Mozart fühlt sich zurückgesetzt. Auch der wachsende Schuldenberg sowie der plötzliche Tod des Vaters verdüstern sein Gemüt. Da sind es vor allem die glücklichen Erinnerungen an Prag, die ihm neue Kraft zuführen: Der Einunddreißigjährige macht sich an die Arbeit, das bestellte Werk zu kreieren. Lorenzo da Ponte, der ihm dazu das Libretto liefern soll, bittet allerdings um Geduld: Er muß zuvor noch die Texte für zwei andere Opern zu Papier bringen, darunter Antonio Salieris »Assur Re d’Ormus«. Um den »Don Giovanni«-Stoff zu bewältigen, ist da Ponte außerdem auf die Zuhilfenahme von Stimulanzien angewiesen:

»Ein Fläschchen Tokayer zur Rechten, in der Mitte mein Schreibzeug, eine Dose mit Tabak von Sevilla zu meiner Linken. Ein sehr schönes sechzehnjähriges Mädchen, die ich nur gleich einer Tochter lieben wollte, aber – wohnte in meinem Hause, besorgte die häuslichen Geschäfte und kam sogleich in mein Zimmer, wenn ich die Glocke schellte, und dies geschah in Wahrheit sehr oft, wenn ich merkte, daß mein poetisches Feuer erkalten wollte …«

Anfang Juni kann Mozart darangehen, da Pontes Libretto zu vertonen. Nach vier Monaten ist der Hauptteil vollendet; nur die Ouvertüre, die Tafelmusik fürs Finale des zweiten Aktes, das Duett Zerline-Masetto und die Arie des aufbegehrenden Maset-to hebt er sich für Prag auf. Denn inzwischen steht für ihn fest, daß er ein weiteres Mal in die böhmische Metropole reisen wird – und nicht nur, um dort den »Don Giovanni« persönlich aus der Taufe zu heben, sondern auch, um das Werk in der ihm so zuträglichen Umgebung zu vollenden. Diesmal ist nur Frau Konstanze an seiner Seite. Die Vierundzwanzigjährige befindet sich erneut »in gesegneten Umständen«, der drei Jahre alte Sohn Carl wird zur Pflege nach Perchtoldsdorf verbracht.

In Prag ist unterdes alles für das Wohl der Gäste Nötige vorbereitet: Josepha Duschek, Tochter des wohlhabenden Apothekers Anton Adam Hambacher und Gattin des angesehenen Musikpädagogen Franz Xaver Duschek, macht es sich zur Ehre, den Meister aus Wien zu beherbergen, und stellt Mozart sowohl das Haus »Zu den drei goldenen Löwen« auf dem Kohlmarkt wie ihren Landsitz an einem der Hügel der Vorortgemeinde Smíchov, die berühmte »Bertramka«, zur Verfügung. Man kennt einander seit Jahren: Im Sommer 1777 sind die frischvermählten Duscheks zu einem Verwandtenbesuch nach Salzburg gereist und haben bei dieser Gelegenheit den Mozarts ihre Aufwartung gemacht. Im Tanzmeistersaal von Vater Leopold Mozarts Salzburger Wohnung hat Josepha Duschek, eine anerkannte Sängerin und temperamentvoll-übermütige Person, ihren schönen Sopran erklingen lassen, und bei einem Wiedersehen in Wien hat Mozart die drei Jahre Ältere sogar am Klavier begleitet, als sie bei einer Akademie im Burgtheater auftrat.

Nun also, im Herbst 1787 – die Premiere des »Don Giovanni« ist auf den 29. Oktober festgesetzt – ist Josepha Duschek Mozarts Prager Gastgeberin: In der Stille ihres Weinberg-Retiros vor den Toren der Stadt soll der Meister letzte Hand an die noch unfertige Partitur legen. Zwei Zimmer sind für ihn und Konstanze bereitgestellt, und wenn es bei den nächtlichen Gelagen im Weinkeller beim Tempelgäßchen spät wird (denen mitunter noch eine aufmunternde Einkehr beim Kaffeesieder an der alten Karlsbrücke folgt), legt Mozart den weiten Weg zur »Bertramka« zu Fuß zurück. Sucht er die Nähe seines Librettisten, um mit diesem die noch strittigen Fragen des Textbuches zu erörtern, weicht Mozart auf die Stadtwohnung im Haus »Zu den drei goldenen Löwen« aus: Da Ponte logiert – gleich gegenüber – im Hinterhaus des Gasthofes »Zum Platteis«.

Die Zeit drängt: Selbst am Nachmittag des Premierentages liegen die Noten für die Ouvertüre noch nicht fertig vor; die Musiker sind darauf vorbereitet, vom Blatt spielen zu müssen. Im Notfall, so verlautet, werde man an Stelle der »Don Giovanni«-die »Idomeneo«-Ouvertüre einschieben.

Ja, es ist wahr: Mozart läßt sich allzu leicht von der Arbeit ablenken – überhaupt hier in Prag, wo sich so viele um seine Gesellschaft reißen. Auch Hausherrin Josepha Duschek stiehlt ihm eine Menge Zeit – etwa, um ihm eine ihr gewidmete und auf ihre Gesangsstimme zugeschnittene Konzertarie abzuringen. Ja, die stets zu Scherzen aufgelegte Person schreckt nicht einmal davor zurück, den Meister in einem Pavillon ihres Gartens einzusperren und erst wieder freizulassen, wenn er mit dem fertigen Notenblatt vor sie hintritt. Mozart rächt sich, indem er das betreffende Werk – es handelt sich um das berühmte »Bella mia fiamma, addio« – in Intonation und Technik extrem schwierig anlegt und die Übereignung des Manuskripts davon abhängig macht, daß Josepha sich imstande zeigt, die Arie auf der Stelle fehlerfrei vom Blatt zu singen. Andernfalls werde er die Noten vernichten …

Doch zurück zum »Don Giovanni«. Die Uraufführung findet wie vorgesehen am 29. Oktober 1787 statt. Mozart dirigiert nach der handschriftlichen Partitur. Schon die Ouvertüre läßt das Publikum in »lautes Lobjauchzen« ausbrechen. Der Berichterstatter der k.k. Prager Oberpostamtszeitung überschlägt sich in Superlativen:

»Kenner und Tonkünstler sagen, daß zu Prag ihresgleichen noch nicht aufgeführt worden. «

Ganz anders in Wien. Obwohl Mozart nach seiner Rückkehr die Partitur unverzüglich dem Kopisten übergibt, verstreichen über sechs Monate, bis das Hofburgtheater mit der Zweitaufführung nachzieht. Und obwohl diesmal zum Einstudieren reichlich Zeit ist, fällt der »Don Giovanni« in Wien durch. Lorenzo da Ponte, nicht minder irritiert als der Komponist, holt dazu die Meinung des Kaisers ein. Und wie urteilt Seine Majestät? »Die Oper ist köstlich, ist göttlich, vielleicht selbst besser als der ›Figaro‹, aber sie ist keine Speise für die Zähne meiner Wiener.« Mozarts lakonische Replik: »Man soll ihnen nur Zeit lassen, sie zu kauen.«

Wer sich ebenfalls reichlich Zeit läßt, den »Don Giovanni« zu »kauen«, sind die Dichter. 68 Jahre nach der Uraufführung von Mozarts dramma giocosa erscheint im »Morgenblatt für gebildete Stände« Eduard Mörikes Novelle »Mozart auf der Reise nach Prag«. Der schwäbische Romantiker, für den »Don Giovanni« die »Oper aller Opern«, ja überhaupt das Nonplusultra großer Musik ist, läßt den Komponisten und Gattin Konstanze auf dem Weg von Wien nach Prag in einem südböhmischen Landschloß – es ist vermutlich der Besitz der Grafen Buquoy in Gratzen, dem heutigen Nové Hrady – Zwischenstation machen und in eine kultivierte adelige Gesellschaft geraten, die des Meisters Genius enthusiastisch huldigt. Vom Gärtner dabei ertappt, wie der Fremde im gräflichen Park gedankenverloren eine Orange vom schönsten Pomeranzenbäumchen pflückt, wird er vom Hausherrn ins Schloßinnere gebeten und nach Klärung seiner Identität eingeladen, der heiteren Runde aus seinem fast fertigen Werk vorzuspielen. Der Eindruck ist gewaltig: Als der Choral »Dein Lachen endet vor der Morgenröte« erklingt, macht sich unter Mozarts Zuhörern höchste Bewunderung, zugleich aber auch tiefstes Erschrecken breit: Man glaubt aus dem Vernommenen Todesahnung herauszuhören. Insbesondere Eugenie, der Nichte des Schloßherrn, die an diesem Tag ihre Verlobung feiert, wird es zur Gewißheit, »daß dieser Mann sich schnell und unaufhaltsam in seiner eigenen Glut verzehre, daß er nur eine flüchtige Erscheinung auf der Erde sein könne, weil sie den Überfluß, den er verströmen würde, in Wahrheit nicht ertrüge«.

Ein Jahrhundert später nimmt sich ein weiterer Schriftsteller des Stoffes an – es ist der deutschböhmische Erzähler Louis Fürnberg. Er geht, was das Fiktive seiner »Mozart-Novelle« anlangt, sogar noch einen Schritt weiter und läßt die Titelfigur mit einem zweiten Großen der Kulturgeschichte in Prag zusammentreffen – mit dem dreißig Jahre älteren Casanova.

Doch zurück auf den Boden der Tatsachen. Am 6. September 1791 – Mozart hat nur noch drei Monate Lebenszeit vor sich – soll mit allem Pomp Leopold II. zum böhmischen König gekrönt werden. Der Prager Hof wünscht sich für diesen Anlaß eine feierliche Opera seria, Impresario Domenico Guardasoni erteilt dem bereits gesundheitlich Angeschlagenen den begehrten Auftrag, reist zu diesem Zweck nach Wien und stellt ein Kompositionshonorar von 200 Dukaten in Aussicht.

Die Zeit ist verdammt knapp: Nur wenige Wochen stehen dem Meister zur Verfügung, das über fünfzig Jahre alte »Titus«-Libretto des Wiener Hofdichters Pietro Metastasio, das dessen Dresdner Kollegen Caterino Mazzolà zur Kürzung und Umarbeitung übergeben worden ist, zu vertonen. Hinzu kommt, daß Mozart in dieser kritischen Phase noch zwei weitere Werke in Arbeit hat: die »Zauberflöte« und das von Graf Franz von Walsegg bestellte (und bereits bevorschußte) Requiem.

Mitte August bricht man von Wien auf; Konstanze, die ihren Mann begleitet, hat erst vor wenigen Wochen Sohn Franz Xaver Wolfgang zur Welt gebracht. Noch im Reisewagen – die Fahrt nach Prag dauert vier Tage – macht sich Mozart über die Partitur her; einen Teil der Arbeit nimmt ihm sein Schüler Franz Xaver Süßmayr ab, der ebenfalls mit von der Partie ist.

Wie schon im Fall des »Don Giovanni« wird auch »La clemenza di Tito« erst im allerletzten Augenblick fertig. Und was den ausgelaugten, schon von der Todeskrankheit Gezeichneten vollends aus der Bahn wirft: Das Werk fällt durch. Seine Majestät rümpft die Nase, und Königin Marie Louise versteigt sich gar zu dem Verdikt »Una porcheria tedesca« (»eine deutsche Schweinerei«). Verbittert treten die Mozarts eine Woche nach der Uraufführung die Heimreise nach Wien an. Seine Seligkeit über das innig geliebte Prag hat einen empfindlichen Dämpfer erlitten – er wird die Stadt, die ihm in all den Jahren so viel Zuneigung entgegengebracht hat, niemals wiedersehen.

Erst nach seinem Tod setzt der Prager Mozart-Kult aufs neue ein und zwar mit voller Kraft: Zum Requiem in der St. Nikolaus-Kirche, bei der sich die besten Sänger der Stadt zum Chor zusammenschließen, finden sich an die 3000 Trauergäste ein; bei einer »Musikalischen Akademie« im Nationaltheater brilliert Freundin Josepha Duschek mit einer Arie aus der in Prag noch unaufgeführten Oper »Idomeneo«; die Instrumente, auf denen Mozart während seiner Prag-Aufenthalte musiziert hat, ein Cembalo und ein Hammerklavier, werden unter ausdrücklicher Weisung, sie nie und von niemand anderem bespielen zu lassen, in sicheren Gewahrsam genommen; und die Villa Bertramka, Mozarts Lieblingsadresse, mutiert – mögen sich die Besitzverhältnisse auch noch so oft ändern – zu einer Pilgerstätte der Musikfreunde aus aller Welt.

Schon der Prager Kaufmann Adolf Popelka, der nach dem Ableben des Mozart-Gastgebers Franz Xaver Duschek den Besitz erwirbt, verfügt, daß »die zwei mit ihren Fenstern in die jetzige Plzeňská-Straße gewendeten Zimmer, die Mozart bewohnt hat, zum Andenken an den großen Meister der Töne für immer unbewohnt und unverändert bleiben müssen«, und seine Witwe vermacht sie testamentarisch der Internationalen Stiftung Mozarteum in Salzburg. 1929 kommt es zu einem Rückkauf durch die Prager Mozart-Gemeinde. Unausgeführt bleibt hingegen der Plan der Nationalsozialisten, während der Protektoratszeit 1939-1945 die Bertramka in den Rang einer »Nationalen Gedenkstätte des Großdeutschen Reiches« zu erheben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wechseln die Besitzer in rascher Folge: Zunächst von den Kommunisten verstaatlicht, geht das Anwesen 1986 neuerlich ins Eigentum der Prager Mozart-Gemeinde über, bis schließlich 1991 die Kommune – in Gestalt des 5. Prager Stadtbezirks – endgültig das Erbe antritt. Die Bertramka, inzwischen auf Hochglanz gebracht, zählt im heutigen Prag unbestritten zu den Hauptsehenswürdigkeiten der Stadt. Nicht nur die Dauerausstellung in den historischen Räumen, sondern auch die – je nach Jahreszeit im Saal oder auf dem Hof veranstalteten – Konzerte befestigen Prags herausragenden Ruf als Mozartstadt.

Die böhmische Großmutter

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