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Die lieblichste der lieblichsten Gestalten
ОглавлениеJohann Wolfgang von Goethe und Ulrike von Levetzow
Weder Wien noch Prag beehrt er mit seinem Besuch, auch Paris bekommt er sein ganzes Leben lang nicht zu Gesicht. Dafür kommt er sechzehn Mal nach Karlsbad: Hier ist Goethe in seinem Element. Man hat es penibel zusammengezählt: Volle drei Jahre hält sich Deutschlands Dichterfürst in den böhmischen Kurbädern auf.
Jetzt, im Sommer 1820, den er wie gewohnt in Karlsbad zubringt, dringt immer häufiger der Name Marienbad an sein Ohr. Vierzig Kilometer westlich, dicht vor Eger, wo es bis vor kurzem nichts als sumpfige Wildnis gegeben hat und undurchdringliche Wälder, ist ein neuer Kurort im Entstehen. Der Siebzigjährige weist seinen Diener Stadelmann an, alles für einen Tagesausflug Nötige zu veranlassen, besteigt sein »Fahrhäuschen« und schaut sich diesen Ort, von dem man so tolle Dinge hört, aus der Nähe an. Die Berichte scheinen nicht übertrieben, Goethe schreibt an Sohn August nach Weimar:
»Mir war es, als befände ich mich in eine amerikanische Einsamkeit versetzt, wo man Wälder rodet, um in drei Jahren eine Stadt zu bauen.« Und er fährt fort: »Der Plan ist glücklich, die Ausführung streng, die Handwerker tätig, die Aufseher einsichtig und wach. Nicht leicht hab ich etwas Erfreulicheres gesehen.«
Im Jahr darauf kehrt er wieder. Und bleibt. Vom 29. Juli bis zum 25. August bezieht Goethe im sogenannten Klebelsbergschen Hause Quartier. Das von dem späteren österreichischen Finanzminister Graf Franz von Klebelsberg für dessen Freund Friedrich Leberecht von Brösigke, einen ehemaligen preußischen Offizier, an einem der bewaldeten Hänge von Marienbad errichtete Palais ist nicht nur seiner fabelhaften Aussicht wegen das mit Abstand erste Haus am Platze. Durch die hinteren Fenster dringt der Duft der Fichten in die Gemächer, durch die vorderen – je nach Jahreszeit – der Duft frischgeschnittenen Grases oder frischgewendeten Heus.
Was Goethe an seinem neuen Logis jedoch besonders gefällt, sind die Wirtsleute, die ihn umsorgen: Brösigkes Tochter ist eine Frau von Levetzow, deren Bekanntschaft er bereits vor fünfzehn Jahren gemacht und die er unter dem Stichwort »Pandora« auch in seinem Tagebuch verewigt hat. Amalie von Levetzow ist, obwohl erst vierunddreißig, Witwe, lebt jetzt mit dem steinreichen Grafen Klebelsberg zusammen und richtet im übrigen ihr ganzes Augenmerk auf das Wohl der drei heranwachsenden Töchter, die sich in ihrem Gefolge befinden. Bertha, die jüngste, verspricht eine Schönheit zu werden, Amalie, die mittlere, ist ein Wildfang, Ulrike, die älteste, ist von ernstem Wesen und ebenfalls nicht ohne Reize. Die schmale Gestalt der jetzt Siebzehnjährigen, ihre großen blauen Augen mit dem noch kindhaften Blick, ihr schönes blondes Haar, das sie in dichtem Geflecht um den Kopf trägt, und ihr voller Mund üben auf den Hausgast, der seit fünf Jahren Witwer ist, eine Anziehungskraft aus, die alles, was der Erotiker Goethe in letzter Zeit an Gefühlen bekundet hat, übersteigt.
Nichts ist leichter für ihn, als mit der fünfundfünfzig Jahre Jüngeren Kontakte zu knüpfen: Man trifft einander bei den gemeinsamen Mahlzeiten an der Table d’hôte, bei ausgelassenen Pfänderspielen auf der Terrasse vorm Haus, bei den Promenaden am Heilbrunnen. Doch bei allem nicht zu übersehenden Eifer, mit dem der Dichter Ulrikes Nähe sucht, bleibt der Umgang der beiden in diesem ersten gemeinsamen Sommer streng im Rahmen des Konventionellen. Eine von Ulrikes Freundinnen fertigt eine Bleistiftzeichnung von Goethe an, sie macht sie ihr zum Geschenk. Die Widmung, die er ihr selber in ein Exemplar seines soeben erschienenen Romans »Wilhelm Meisters Wanderjahre« schreibt, könnte förmlicher nicht sein: »Frl. Ulrike von Levetzow zu freundlichem Andenken des Augusts 1821.«
Daß Goethe ein Dichter ist, erfährt Ulrike erst jetzt: Nicht eine einzige Zeile von ihm hat sie bisher gelesen, und da ist der »Wilhelm Meister« für ein adeliges Landpomeranzchen wie sie nicht gerade ein leichter Einstieg. Umso mehr schmeichelt es ihr, daß der »große Gelehrte«, wie sie den alten Herrn zu nennen pflegt, so viel Interesse für sie aufbringt. Wenn er, seinen naturkundlichen Neigungen folgend, bei den täglichen Exkursionen in und um Marienbad Wolkenflug und Wetterstand beobachtet und, das Geologenhämmerchen im Handgepäck, seltene Mineralienfunde macht, hat sie Mühe, seinen Erläuterungen zu folgen, und so greift Goethe zu einer List, sie vielleicht doch für »quarzreiche Granite« und »lose Zwillingskristalle« zu interessieren: Er mischt eine Tafel »feinste Wiener Chocolade« unter die ihr präsentierten Steine, oder er geht überhaupt, was seine Mitbringsel für sie betrifft, zu Blumen über, die sie dann sogleich ihrem Herbarium einverleibt. Ergiebigeren Gesprächsstoff bilden ihre Erinnerungen an Straßburg, wo Ulrike kurz zuvor das Mädchenpensionat besucht hat: Goethe fragt seine Begleiterin nach ihren Erfahrungen mit der Stadt aus, an deren Universität er selber vor einem halben Jahrhundert studiert und die »Lizenz der Rechte« erworben hat.
Auch den folgenden Sommer verbringt Goethe in Marienbad, das um diese Zeit eine rein deutsche Siedlung im Königreich Böhmen ist. Als er am 19. Juni 1822, von Weimar via Jena, Pößneck, Hof und Eger anreisend, am Ziel eintrifft, sind die Levetzows längst zur Stelle, und wieder ist Tag für Tag Ulrike um ihn – diesmal gar volle zwei Monate. Das Bukett, das er ihr zum Empfang zusteckt, wird getrocknet, gepreßt und unter Glas gerahmt; dankbar hält sie auf einem beigefügten Zettelchen den Namen des Spenders fest. Und in den gerade erschienenen fünften Band seiner Autobiographie »Dichtung und Wahrheit«, der die »Campagne in Frankreich« zum Gegenstand hat, schreibt er ihr ein Widmungsgedicht, das bereits einiges von seinen Empfindungen für Ulrike erahnen läßt:
Wie schlimm es einem Freund ergangen,
davon gibt dieses Buch Bericht;
nun ist sein tröstendes Verlangen:
Zur guten Zeit vergiß ihn nicht!
Doch die Ereignisse, die zum offenen Gefühlsausbruch, zur schicksalsschweren Entscheidung, ja schließlich geradewegs in die Katastrophe führen werden, stehen erst noch bevor: Goethes Werben um Ulrike von Levetzow, ihre Zurückweisung und der daraus resultierende Kraftakt dichterischer Sublimierung zu dem Jahrhundertgedicht »Elegie«, den Stefan Zweig über hundert Jahre später in den Rang einer »Sternstunde der Menschheit« erheben wird, fallen in den Sommer des folgenden Jahres: 1823.
Diesmal, so will es von Anfang an scheinen, ist alles anders als sonst. Die Suite im Klebelsbergschen Palais, an deren Komfort sich Goethe schon so sehr gewöhnt hat, steht ihm bei seinem dritten Marienbad-Aufenthalt nicht zur Verfügung: Die Räume werden für Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach benötigt, der gleichfalls zur Kur angereist ist – und zwar mit großem Gefolge. Goethes Ausweichquartier ist der benachbarte Gasthof Zur goldenen Traube. Seine zwei Zimmer befinden sich im Obergeschoß, unmittelbar angrenzend die Kammern für Sekretär Dr. Johann John und Diener Carl Stadelmann. Das Mobiliar ist einfach, Teppiche und Schränke fehlen zur Gänze, die porzellanene Waschschüssel wird aus einem hölzernen Wasserfaß gefüllt, dessen Inhalt täglich von der Quelle im Talgrund herbeigeschafft wird.
»Meine Lebensweise ist sehr einfach«, berichtet Goethe nach Weimar, »ich trinke morgens im Bette, bade den dritten Tag, trinke abends am Brunnen, speise mittags in Gesellschaft, und so geht es denn hin.«
Apropos Gesellschaft: Der Landesherr von Weimar ist keineswegs der einzige illustre Gast, auch der Exkönig von Holland und Napoleons Stiefsohn Eugen sind zugegen, desgleichen Caroline von Humboldt, die Grafen Nostitz und Bülow und viele andere mehr. Der »russische van Dyck«, Orest Adamowitsch Kiprenskij, und der deutsche Maler Wilhelm Hensel fertigen Porträts des Dichterfürsten an; die Berliner Sopranistin Anna Pauline Milder-Hauptmann und die schöne Polin Marie Szymanowska, Hofpianistin des Zaren, sorgen für musikalische Genüsse; mit dem Prager Komponisten Václav Jan Tománek, dessen Vertonungen von Goethe-Versen der Meister höher schätzt als diejenigen Beethovens und Spohrs, wird die weitere Zusammenarbeit besprochen; und die Diskurse mit dem Slawisten Josef Dobrovsky, die Goethes altes Interesse für die Geschichte Böhmens neu anfachen, haben zur Folge, daß er ein deutschtschechisches Vokabelheft für den eigenen Gebrauch anlegt. Natürlich ist Goethe auch wieder auf Mineraliensuche: Das Prager Nationalmuseum, der Prämonstratenser-Konvent im nahen Tepl sowie Kurarzt Dr. Heidler werden von ihm mit kleinen Kollektionen bedacht. Eine Expedition zum Krater von Kammerbrühl soll ihm neue Erkenntnisse über den Ursprung der Vulkane liefern; Abt Carl Caspar Reitenberger, der eigentliche Promotor des Marienbader Kurbetriebs, lädt Goethe in sein Stift ein; Fürst Metternich öffnet den Gästen die Tore seines Schlosses im nahen Königswart.
In Marienbad selbst stürzt sich der knapp Vierundsiebzig-jährige mit staunenswertem Elan ins Gesellschaftstreiben, läßt keine der Assembleen, keine der Redouten aus, freut sich, daß ihm beim Tanzen die schönsten Partnerinnen zugeführt werden. »Alles regt sich nun wieder, sowohl der Körper als der Geist!« schreibt er an Freund Karl Ludwig von Knebel. Sucht er Entspannung von all dem Trubel, so tut Frau Schildbach, die Wirtin der »Goldenen Traube«, alles, ihrem Gast unliebsame Störungen vom Leibe zu halten: »Durch ein sonderbares Glück«, schreibt er in einem seiner Briefe aus jenen Tagen, »wohnen in meinem Haus nur Frauenzimmer, die still und verträglich sind.«
Still und verträglich – das ist vor allem eine, und ihr gilt noch mehr als in den beiden vorangegangenen Sommern sein ganzes Interesse: Ulrike Theodore Sophie von Levetzow. Wenn er sie auf der Tanzfläche an sich vorüberschweben, auf der Terrasse ihr neues, der herrschenden Walter-Scott-Mode angepaßtes Schottenkleid ausführen oder am Brunnen das frische Heilwasser schlürfen sieht, wird ihm warm ums Herz, und das steigert sich noch, wenn er an das »liebe Kind« das Wort richten und ihrer Stimme lauschen darf: »Sie ist heiter, aber nicht lustig.« Auf gemeinsamen Spaziergängen tut sie ihm sogar den Gefallen, sich zu bücken und ein paar der am Wege liegenden Steinchen aufzulesen: Goethe ist entzückt und schreibt es in aller Unbefangenheit nieder – in einem Billett an Ulrikes Mutter: »Zu den hundert Stellungen, in denen ich sie mir vor mir sehe, wieder ein neuer Gewinn.« Frau von Levetzow geht darauf nicht weiter ein, erspart sowohl dem Briefschreiber wie sich selbst jegliche kritische Beurteilung des ungestümen Verhaltens des großen Mannes, der der Vater, ja der Großvater ihrer Erstgeborenen sein könnte.
Doch Goethe läßt nicht locker: Um zu klären, ob ihm bei seinem fortgeschrittenen Alter eine Heirat mit einer so jungen Frau schaden könnte, sucht er den Arzt auf. Der beruhigt ihn. Wie Dr. Fidelius Scheu wirklich über die Absichten seines Patienten denkt, behält er für sich. Weniger schonungsvoll äußert sich Großherzog Carl August, den Goethe als nächsten ins Vertrauen zieht: »Alter, immer noch Mädchen!« lacht ihn der neun Jahre Jüngere ungeniert aus.
Ja, immer noch Mädchen. Oder genauer gesagt: diese eine. Goethe kann den alten Freund tatsächlich dazu überreden, sich bei Frau von Levetzow zum Besuch anmelden zu lassen und ihr an seiner Statt den Heiratsantrag für Ulrike zu überbringen. Der Herzog, in großer Montur samt Stern und Orden anrückend, läßt es, um der Werbung Nachdruck zu verleihen, auch nicht an eigener Initiative fehlen: Er verspricht der »Brautmutter« eine herausragende Stellung an seinem Hofe und der »Braut« für den Fall des Ablebens des »Bräutigams« eine jährliche Pension von satten zehntausend Talern.
Es wird ein schwieriges Gespräch, das die zwei da miteinander zu führen haben: Amalie von Levetzow erkennt, daß der Antrag ernst gemeint ist, daß sie ihn nicht als Scherz abtun kann. Also flüchtet sie sich in die Aufzählung der seitens Goethes Familie zu erwartenden Widerstände: Was würden Sohn August und dessen Gemahlin Ottilie dazu sagen, daß ihnen der Vater eine Stiefmutter ins Haus bringt, die um vieles jünger ist als sie und ihnen womöglich gar ihr Erbe streitig macht? Auch auf diesen Einwand ist der Herzog vorbereitet: Dem »jungen Paar« stünde in Weimar ein eigenes Haus zur Verfügung, dem herrschaftlichen Schloß näher als dem Besitz auf dem Frauenplan. Nur auf Frau von Levet-zows vorsichtig vorgebrachten Hinweis auf den gewaltigen Altersunterschied weiß auch Carl August keine Antwort. Mit dem hinhaltenden Bescheid, man müsse schließlich auch die Meinung Ulrikes einholen, die bisher keinerlei Lust zum Heiraten, ja überhaupt wenig Interesse für die Männerwelt gezeigt habe, geht man auseinander.
Und wie reagiert Ulrike? Ihr Erschrecken ist wohl noch größer als das der Mutter. Gewiß, auch sie habe den alten Herrn lieb, aber doch nur »wie einen Vater«. Und vielleicht wäre sie sogar bereit, einzuwilligen, um ihm – wie sie es ausdrückt – »nützlich« zu sein. Doch zwei Dinge seien es, die sie letztlich daran hinderten, »ja« zu sagen: die Furcht vor dem Gedanken, sich von den eigenen Leuten, von Mutter und Geschwistern trennen zu müssen, und die Rücksicht auf Goethes Familie.
Tatsächlich ist in Weimar die Hölle los. Kaum sind die ersten Gerüchte von Goethes Heiratsabsichten in das kleine Fürstentum gedrungen, droht Sohn August mit dem Wegzug nach Berlin: Der große Bruch bahnt sich an. Erst, als die Nachricht von Ulrikes Zurückweisung des Brautwerbers durchsickert, kehren im Haus am Frauenplan wieder Ruhe und Frieden ein: »Ich fange an, zu hoffen, daß alles gut gehen und sich die ganze Geschichte wie ein Traumbild auflösen werde!« schreibt Sohn August an Gattin Ottilie.
Goethe selber hat indes noch keineswegs aufgegeben. Als Amalie von Levetzow mit ihren drei Töchtern überstürzt abreist, um in Karlsbad unterzutauchen, folgt ihnen der Dichter nur wenige Tage später nach. Das so sehr geliebte Marienbad ist ihm nach dieser bitteren Abfuhr »zur vollkommenen Wüste geworden«. Unbedingt muß er Ulrike wiedersehen, zwischen ihr und ihm ist es ja noch immer zu keinerlei Aussprache gekommen. Statt dessen schickt er ihr einige ihr gewidmete Gedichte an den neuen Aufenthaltsort. »Treulich wie immer, diesmal ungeduldig« kritzelt er auf das beigeheftete Billett.
Als Goethe kurz darauf in Karlsbad eintrifft, zögert er nicht, dasselbe Quartier zu beziehen, in dem auch die Levetzows untergebracht sind: eine Etage über ihnen, im zweiten Stock des Gasthofs Zum goldenen Strauß. Mit Anstand kommt man über die nächsten zwölf Tage hinweg, bringt, als wäre nichts geschehen, fast die ganze Zeit miteinander zu, feiert auch Goethes Geburtstag in gewohnter Manier. Diener Stadelmann hat einen Tagesausflug organisiert, Frau von Levetzow tischt Rheinwein und Kuchen auf, die Töchter überreichen dem Jubilar einen geschliffenen Becher mit dem berühmten Datum und den Initialen ihrer Vornamen. Daß außer dem U auch ein B und ein A in das Glas eingraviert sind und bei der Gratulationscour alle drei Mädchen gleichrangig zum Zug kommen, zeugt für Frau von Levet-zows kluge Regie.
Der Tag der Heimreise naht. »Allgemeiner, etwas tumultuarischer Abschied«, notiert Goethe über jenen 5. September 1823. Als erste brechen die Levetzows auf, Ulrike läuft hinauf ins Obergeschoß – zum Abschiedskuß. Aufgewühlt, ja tiefverstört besteigt Goethe die Kutsche, die abfahrbereit vorm Gasthof wartet.
Die Reise führt ihn zunächst nach Eger, am 13. September trifft er in Jena, am 17. in Weimar ein. Noch unterwegs wird ihm ein für allemal klar, wie es um ihn und das »geliebte Töchterchen« steht: Man wird einander wohl kaum je wiedersehen. Doch wo dem Mann Entsagung auferlegt ist, wächst dem Dichter neue Kraft zu: Goethe nimmt den Schreibkalender, den er für seine Reiseaufzeichnungen verwendet, zur Hand, löst den Bleistift aus der an dem Büchlein befestigten Lasche und geht daran, seiner Niederlage ein neues Werk, ja ein Stück Weltliteratur abzugewinnen: die Marienbader Elegie. So oft der Wagen auf der zwölf Tage langen Strecke anhält und vor allem in jedem der Nachtquartiere überträgt er die eilig hingekritzelte Urfassung des dreiundzwanzigstrophigen Gedichtes Zug um Zug in Reinschrift; bei der Ankunft in Weimar liegen die fünf Folioblätter fertig vor. Er wird sie eigenhändig einbinden – in einen Umschlag aus blauem Karton, dem Blau seines Familienwappens. Und noch etwas: Goethe hütet das Manuskript wie sein intimstes Geheimnis, überläßt es entgegen seiner sonstigen Gewohnheit keiner seiner Hilfskräfte zur Abschrift, gibt es lange nicht aus der Hand.
Sich selbst zitierend, hat er an den Anfang des Werkes das berühmte Tasso-Wort gestellt: »Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt / Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide.« Es folgen die dreiundzwanzig Strophen in der auch von ihm nur selten benützten Versform der Stanze. Doch was der Dichter zunächst nur wenigen Auserwählten in mündlichem Vortrag zur Kenntnis bringt, wird in späterer Zeit, wenn die »Elegie« gedruckt vorliegt, über weite Strecken in den allgemeinen Zitatenschatz eingehen: Verse wie »So sahst du sie im frohen Tanze walten / Die lieblichste der lieblichsten Gestalten« oder »So klar beweglich bleibt das Bild der Lieben / Mit Flammenschrift ins treue Herz geschrieben« werden sich tausende und abertausende nicht etwa nur unglücklich Liebender zu eigen machen, werden sie wieder und wieder in ihre Poesiealben eintragen.
Auch Goethe selber dient die »Elegie«, obwohl er sie (mit der Anrufung der Götter, die ihn »zugrunde richten«) so düster enden läßt, als eine Art Medizin: Immer wieder bittet er Freund Carl Friedrich Zelter, sie ihm vorzulesen. Tatsächlich wirkt die Katastrophe von Marienbad lange in ihm nach: »Drei Monate habe ich mich glücklich gefühlt«, gesteht er einem weiteren seiner Vertrauten, »fast wie ein Ball hin und her geschaukelt, aber nun ruht der Ball wieder in der Ecke, und ich muß mich den Winter durch in meine Dachshöhle vergraben und zusehn, wie ich mich durchflicke.« Im November 1823 erkrankt der Dichter, die Ärzte fürchten um sein Leben. In den acht Jahren, die ihm noch verbleiben, wird es zu keinen größeren Reisen mehr kommen, er wird nie mehr Thüringen verlassen – und schon gar nicht in Richtung Marienbad.
Und wie geht es mit Ulrike weiter? Auch sie löst sich von dem Ort, dem sie zwar so manche glückliche Stunde verdankt, der aber auch ungeheure Verwirrung in ihr Leben gebracht hat: Das Klebelsbergsche Palais, das zum Gedenken an Großherzog Carl Augusts Aufenthalt nunmehr »Haus Weimar« heißt und das in ihren Besitz übergegangen ist, stößt sie ab; statt dessen zieht sie sich in das nordböhmische Dorf Trziblitz zurück. Im Schloß ihres nunmehrigen Stiefvaters – Mutter Amalie hat sich in zweiter Ehe mit dem Grafen Klebelsberg vermählt – lebt sie das einsame Leben eines Stiftsfräuleins »Zum heiligen Grabe«, das alle Anträge heiratswilliger Männer ausschlägt, neben der Pflege ihrer Liebhabereien eine Spinnschule gründet und ansonsten ganz im Dienst für ihre verwitwete Schwester Bertha und deren Kinder aufgeht. Goethe erfährt von ihrem Verbleib nur aus einem Brief ihrer Mutter. Das »Töchterchen« ist inzwischen fünfundzwanzig, Amalie von Levetzow berichtet nach Weimar:
»Ulrike ist, wie sie war, gut, sanft, häuslich. Ihre immer gleichbleibende Laune, ihr gefälliges anspruchsloses Wesen macht ihr fast alles aus Bekannten Freunde, was ja als ein Glück anzusehen ist.«
Lästig sind ihr lediglich die vielen Anfragen und Besuche von Goethe-Verehrern, die aus ihrem Mund Aufschluß über die Ereignisse vom Sommer 1823 erhoffen. Ihr auch durch seine sprachliche Unbeholfenheit berühmt werdendes Diktum »Keine Liebschaft war es nicht!«, mit dem sie als Neunzigjährige Bilanz ziehen wird über die Tage mit »Göthe« (wie sie zu schreiben beliebt), scheint die Bestätigung dafür zu sein, daß sie in ihm wohl am ehesten eine Art Ersatzvater gesehen hat. Im Herbst 1899, also sechsundsiebzig Jahre nach den Geschehnissen von Marienbad, stirbt Baronesse Ulrike von Levetzow in ihrem Altjungfernstübchen auf Schloß Trziblitz bei Leitmeritz; in einem offenen Miniaturtempel im spätklassizistischen Stil wird die Fünfundneunzigjährige beigesetzt.
Anmerkung für den Literaturtouristen, der gewillt ist, den »Akteuren« der »Marienbader Elegie« an Ort und Stelle nachzuspüren: Aus Schloß Trziblitz (heutiger Ortsname: Trebívlice) wird in späterer Zeit eine Schule und aus Ulrikes Sterbezimmer deren Konferenzraum; das ehemalige Klebelsbergsche Palais in Marienbad, unter wechselnden Namen (Haus Weimar, Hotel King of England, Hotel Kaukasus) als Luxusherberge genutzt, ist heute eine Ruine, wohingegen der Gasthof Zur goldenen Traube, Goethes Logis im »entscheidenden« Jahr 1823, als intaktes Museum eine Vielzahl originaler Erinnerungsstücke birgt, darunter Gesteinsproben von seinen mineralogischen Expeditionen, eine Marienbad-Zeichnung von des Dichters Hand sowie einiges an Proben aus Ulrikes Herbarium.
Auch an Denkmälern, die die Erinnerung an die Geschehnisse vom Sommer 1823 wachzuhalten versuchen, ist im heutigen Marienbad (Mariánské Lázne) kein Mangel: Das alte Bronzestandbild, das 1932 mit einer Festrede des Prager Schriftstellers Johann Urzidil auf dem Platz vor Goethes letztem Marienbader Quartier enthüllt und nach Meinung der einen während des Zweiten Weltkrieges für Rüstungszwecke eingeschmolzen, nach einer anderen Version jedoch erst nach 1945 »entfernt« worden ist, hat 1993 einen Nachfolger gefunden, in dem sich, von einem heimischen Künstler angefertigt und von einem Vertriebenenverband finanziert, der Versöhnungswille der Sudetendeutschen Landsmannschaft und der neuen Republik Tschechien ausdrücken soll. Auch das 1974 im Auftrag der Roten Armee vom damaligen »Bruderstaat« DDR gestiftete Goethe-Denkmal, das den Dichter zusammen mit Ulrike darstellt, hat sich erhalten, nur hat man es von seinem ursprünglichen Standort in einen einige Gehminuten entfernten Waldwinkel transferiert, und auch über diese, von den einen als Politikum gedeutete und von den anderen als Kuriosum belächelte »Aktion« kursieren die unterschiedlichsten Ansichten: Während die Zeitgeschichtler, nach dem Grund der »Verbannung« befragt, darauf verweisen, daß Marienbad 1945 gar nicht von den Sowjets, sondern von den Amerikanern befreit worden ist, erklären die Heimatforscher die Unbeliebtheit des Doppelstandbildes mit dem in der Tat nicht wegzuleugnenden Umstand, daß der betreffende Bildhauer bei der Gestalt der Ulrike tüchtig danebengegriffen und der in Wahrheit Gertenschlanken die Statur eines Pummelchens verpaßt hat.
Was macht man mit so einem verkorksten Objekt? Man entpersönlicht es, man tauft es um. Und so stehen denn nicht Goethe und Ulrike in ihrem einsamen Waldversteck, sondern – so die offizielle heutige Bezeichnung des umstrittenen Kunstwerks – »Goethe und die Muse«.