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Vorwort
ОглавлениеNimmt die partnerschaftliche Zuwendung – entgegen den pessimistischen Parolen von der allgemeinen Verrohung der Welt – stetig an Intensität zu? Wird heute mehr geliebt als in früheren Zeiten? Nicht nur die Jungen, die immer eher ins Intimleben eintreten: Auch die Alten reklamieren ihr Recht auf Liebe, ja sogar ihren Anspruch auf Sex. Schon in den Bucolica, den Hirtengesängen des römischen Dichters Vergil, lesen wir: »Alles bezwingt die Liebe.« Bezwingt sie auch das Alter? Und Goethe, der mit gutem Beispiel vorangeht und sich als Vierundsiebzigjähriger während seiner Marienbader Kuraufenthalte nach den Zärtlichkeiten der fünfundfünfzig Jahre jüngeren Ulrike von Levetzow verzehrt, geht sogar noch einen Schritt weiter: »Wer nicht mehr liebt und nicht mehr irrt, der lasse sich begraben.«
Vor allem die großen Künstler, denen ihr Charisma zu allen Zeiten die Gabe verliehen hat, noch gegen Ende ihres Lebens umworben zu sein, haben es den anderen, den minder Begünstigten, immer wieder vorexerziert: Das Wunder der »letzten Liebe« – es ist kein leerer Wahn. Leonardo da Vinci und Rembrandt, Heine und Ibsen, Richard Wagner und Emile Zola sind eindrucksvolle Beispiele dafür. In neuerer Zeit stoßen wir auf die Namen Modigliani und Klimt, Schnitzler und Kafka, Weinheber und Fallada. Auch die Mozart-Witwe Constanze, der Tänzer Fred Astaire und die Sängerin Edith Piaf zählen zum Kreis jener Auserwählten, denen Gott Eros eine Art zweites Leben vergönnt hat.
Nicht immer freilich wird den Jungen, die sich auf eine Beziehung zu einem alternden Menschen einlassen, ihr »Opfer« gedankt: Die walisische Malerin Gwen John, die dem sechsunddreißig Jahre älteren Auguste Rodin in dessen letzten Lebensjahren Modell sitzt, gerät in eine so zerstörerische, ja erniedrigende Abhängigkeit von dem greisen Bildhauer, daß sie darüber all ihre eigene Kreativität einbüßt und in tiefster Verzweiflung endet. Und Kurt Tucholsky, der im schwedischen Exil seine Gefühle zwischen der Schweizer Ärztin Dr. Hedwig Müller und seiner Haushälterin Gertrude Meyer »aufteilt«, setzt in seinem kurz vorm Tod niedergeschriebenen Testament weder die eine noch die andere als Universalerbin ein, sondern – seine Exgattin Mary Gerold.
»Spätes Glück« – da darf auch an die Wiener Modistin Emilie Trampusch erinnert werden, die Johann Strauß Vater aus seiner Ehe mit Anna Streim ausbrechen läßt und dem zehn Jahre Älteren noch siebenfache Vaterfreuden beschert, an den österreichischen Großkaufmann Julius Meinl und die vierzig Jahre jüngere Japanerin Michiko Tanaka, an die Wiener Salondame Berta Zuckerkandl und ihr Nahverhältnis zu dem französischen Politiker Georges Clemenceau, an die »amour fou« des Malers Richard Gerstl und der Schönberg-Gattin Mathilde, an die gegen heftigsten Widerstand der Familie der Braut durchgesetzte Eheschließung des acht-undsiebzigjährigen Cello-Virtuosen Pablo Casals mit dessen achtzehnjähriger Schülerin Marta Montañez, an die stürmisch verlaufende Liaison des Richard-Wagner-Enkels Wieland mit der Sängerin Anja Silja, an die Blitzheirat des durch die Veröffentlichung seiner Tagebücher berühmt gewordenen Dresdner Gelehrten Victor Klemperer und seiner fünfundvierzig Jahre jüngeren Studentin Hadwig Kirchner, an die Eheschließung des achtundachtzigjährigen Johannes Heesters mit der blutjungen Kollegin Simone Rethel, an den Hollywood-Schauspieler Leon Askin, der als Hochbetagter in seine Geburtsstadt Wien heimkehrt und dort noch mit fünfundneunzig vor den Standesbeamten tritt.
Die Öffentlichkeit, die Fälle wie diese mit kritischer Aufmerksamkeit verfolgt, reagiert unterschiedlich: Gehen die einen, zwischen bloßem Unverständnis und offenem Abscheu schwankend, pikiert auf Distanz, so erblicken die anderen in dem späten Miteinander zweier Menschen eine ans Wunderbare grenzende Gnade, deren auch sie, kommen sie einmal selber in die Jahre, nur zu gern teilhaftig würden.
Im vorliegenden Buch werden Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, weder auf das eine noch auf das andere treffen: Der Autor beschränkt sich, gestützt auf die ihm zur Verfügung stehenden Quellen, aufs streng sachliche Referieren. Der 1990 verstorbene Schriftsteller und Kritiker György Sebestyén hat für die Beurteilung eines meiner früheren, ähnlicher Thematik gewidmeten Werke die schöne Formulierung »Kulturgeschichte des Gefühls« geprägt. Zu dieser noch wenig entwickelten Sparte möge auch mein neues Buch ein Beitrag sein.
Dietmar Grieser