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Niemals aufgeben!
ОглавлениеJulius von Payer
Während seiner Pariser Jahre kann er sich, den Sommer über, sogar einen eigenen Landsitz leisten; es ist die Villa »La Guillette« in dem mondänen Seebad Être-tat in der Normandie, die er von Guy de Maupassant, dem Autor des Romans »Bel Ami«, übernommen hat. In Wien hingegen, wo er seinen Lebensabend verbringt, langt’s nur für eine einfache Mietwohnung im III. Bezirk: Bechardgasse 14.
Die Rede ist von Julius von Payer, Österreichs Polarforscher Nr. 1.
Vom alpinen Gipfelstürmer zum wagemutigen Expeditionsleiter und einem der bedeutendsten Kartographen seiner Zeit aufsteigend, der sein Lebenswerk mit der Entdeckung und Erforschung des »Kaiser-Franz-Joseph-Landes« im nördlichen Eismeer krönt, ist er am Ende seiner Tage ein nicht nur siecher und verbitterter, sondern auch ein fast mittelloser Mann. Als der schwedische Asienforscher Sven Hedin auf Einladung der Geographischen Gesellschaft in Wien weilt, um über die Entdeckung des Trans-Himalaja zu referieren, erhebt der 24 Jahre Jüngere in einem leidenschaftlichen Exkurs Anklage gegen sein Gastland, das es zugelassen habe, daß ein von der gesamten Fachwelt Bewunderter »wie ein Händler umherreisen und für wenig Geld Vorträge halten mußte, um sich seinen kargen Lebensunterhalt zu verdienen«.
Die Payers stammen aus Böhmen, der Vater ist Rittmeister bei den Ulanen, in Schönau bei Teplitz kommt Julius am 2. September 1841 zur Welt. Mit 18 bezieht er die Theresianische Militärakademie in Wiener Neustadt. Bei einem Monatssalär von 36 Gulden zum Infanterieregiment Nr. 36 ausgemustert, geht der junge Leutnant in Jägerndorf, Frankfurt, Mainz und Venedig in Garnison; für seinen Einsatz bei der Schlacht von Solferino wird er mit dem österreichischen Verdienstkreuz ausgezeichnet. Aber nicht militärische Ehren sind es, auf die es der nunmehr in Verona Stationierte anlegt: Die Berggipfel, die er von seinem Exerzierplatz aus sieht, haben es dem Zwanzigjährigen angetan. Und noch etwas: Wenn er auf den Monte Baldo, auf den Pasubio oder in die Lessini-Gruppe aufsteigt, steckt er nicht nur Schneebrille und Kompaß in sein Marschgepäck, sondern auch Zeichenstift und Skizzenblock. Er will, was er sieht, unbedingt festhalten: in naturgetreuen Bildern, in exakten Vermessungen, in selbsterstellten Karten.
Zunächst also in eigener Regie und nur während der Freizeit, nimmt er sich bald auch in offizieller Mission die zum Teil noch unerschlossenen Abschnitte der Ostalpen vor, dokumentiert im Auftrag des Militärgeographischen Instituts an die dreißig Erstbesteigungen und wird so zu einem der Pioniere der modernen Hochgebirgskartographie. Sein Dienst als Geschichtslehrer am Eisenstädter Kadetteninstitut bleibt ein Zwischenspiel: Julius Payer zieht’s in die Natur. Und Natur – das müssen nicht unbedingt Berggipfel sein. Als 1869/70 Karl Koldewey zur zweiten deutschen Nordpolexpedition aufbricht, nimmt er den jungen Österreicher als Topographen und Schlittenführer nach Nordost-Grönland mit. Unter den Materialien, die Payer von diesem ersten Großeinsatz im äußersten Norden mit heimbringt, werden auch Aufnahmen und Karten eines bis dato unbekannten Meeresarmes sein – als loyaler Untertan seines Monarchen wird er ihm den Namen »Kaiser-Franz-Joseph-Fjord« geben.
Was liegt da näher, als daß man auch in Österreich über einen Einstieg in die Polarforschung nachzusinnen beginnt? Zwei über bedeutende Mittel verfügende und der Förderung von Kunst und Wissenschaft zugetane Männer, die Grafen Wilczek und Zichy, kümmern sich um die Finanzierung, Kriegsminister Freiherr von Kuhn stellt das vierundzwanzigköpfige Team – angeführt von Julius Payer und dem drei Jahre älteren k.k. Schiffsleutnant Karl Weyprecht – vom Dienst frei. Bei der Reederei Tecklen-borg in Bremerhaven wird ein den besonderen Anforderungen entsprechendes Expeditionsschiff in Auftrag gegeben. Der Dreimast-Schoner »Admiral Tegetthoff« ist 32 Meter lang, 7 Meter breit, hat einen Tiefgang von 3,47 Meter und eine Wasserverdrängung von 520 Tonnen, seine Motorleistung beträgt 100 PS, die Geschwindigkeit 6 Knoten.
Am 13. Juni 1872 sticht – nach erfolgreicher Absolvierung einer Vorexpedition zur Erkundung der Witterungs- und Eisverhältnisse – die »Tegetthoff« von Bremerhaven aus in See. Das Ziel, das man sich gesteckt hat, ist mehr als kühn: Es soll versucht werden, übers Polarmeer bis zum Pazifik vorzustoßen.
Von Frühsommer 1872 bis Spätsommer 1874 ist das Expeditionsteam unterwegs, immer wieder ist das selbstmörderische Unternehmen von Scheitern und vorzeitigem Abbruch bedroht, schon binnen kurzem reißt auch die letzte Verbindung zur Heimat ab: »Nun ist’s aus, kein Brief mehr möglich!« lautet die am 14. August 1872 aufgegebene Depesche nach Wien. »Ungeheure Eismassen drängen das Schiff an die Küste.« Von Stund an gelten Payer & Co. als verschollen – und dabei wird es volle zwei Jahre bleiben.
Der extrem starke Frost des Jahres 1872 läßt die das Schiff umschließenden Eisplatten zur festen Scholle erstarren, der weder mit Sägen noch mit Sprengen beizukommen ist. Aber auch, als Monate später endlich Mildluftströme auf Befreiung hoffen lassen, gelingt es nicht, die bis zu 13 Meter dicken Eistafeln zu zertrümmern: Die arktische Wüste hält die Besatzung der »Tegetthoff« gefangen. Man ist zwar in Gebiete vorgedrungen, die vor ihnen keines Menschen Auge erblickt hat, aber man sitzt fest – ohne jede Chance auf Weiterkommen. Oder doch?
In Julius Payers Tagebuchaufzeichnungen wird sich später, was sich da an jenem 30. August 1873 in 79º 43' nördlicher Breite und 59º 33' östlicher Länge ereignet, wie folgt lesen:
»Ein denkwürdiger Tag. Er brachte eine Überraschung, wie sie nur in der Wiedergeburt zu neuem Leben liegt. Es war um die Mittagszeit, da wir, über die Bordwand gelehnt, in die flüchtigen Nebel starrten, durch welche dann und wann das Sonnenlicht brach, als eine vorübergehende Dunstwand plötzlich rauhe Felszüge fern in Nordwest enthüllte, die sich binnen wenigen Minuten zum Anblick eines strahlenden Alpenlandes entwickelten.«
Und weiter:
»Im ersten Moment standen wir alle gebannt und voll Unglauben da; dann brachen wir, hingerissen von der unver-scheuchbaren Wahrhaftigkeit unseres Glückes, in den stürmischen Jubelruf aus: ›Land, Land, endlich Land!‹ Jahrtausende waren dahingegangen, ohne Kunde von dem Dasein dieses Landes zu den Menschen zu bringen. Und jetzt fiel einer geringen Schar fast Aufgegebener seine Entdeckung in den Schoß als Preis ausdauernder Hoffnung und standhaft überwundener Leiden. Und diese geringe Schar, welche die Heimat bereits zu den Verschollenen zählte, war so glücklich, ihrem fernen Monarchen dadurch ein Zeichen ihrer Huldigung zu bringen, daß sie dem neuentdeckten Lande den Namen ›Kaiser-Franz-Joseph-Land‹ gab.«
Das heißt konkret, daß auf die erste Meldung hin zunächst einmal die nötigen Lotungen und Peilungen vorgenommen, sodann alle Mann auf Deck versammelt und schließlich – nach einer feierlichen »Anrede seitens des Commandanten« – drei kräftige Hurra-Rufe ausgestoßen werden. So verlangt es das Ritual.
Aber das Ritual ist die eine Sache, die Realität die andere. Und die Realität ist: Erst drei Monate später können die Leute von der »Tegetthoff« ihren Fuß auf das neuentdeckte Terrain setzen, nicht vor Ende Oktober geben Treibeis und Dauernebel den Weg aufs »Kaiser-Franz-Joseph-Land« frei. Ja, die eigentliche Erkundung des Inselgewirrs kann sogar erst im darauffolgenden Februar in Angriff genommen werden. Mit ausgesucht kleiner Mannschaft gehen Payer und Weyprecht daran, teils per Schlitten, teils zu Fuß das Gelände zu durchstreifen, zu vermessen und zu kartographieren. Bei Temperaturen unter 40 Grad minus (die sich im Nachtlager noch bis zu 50 Grad abkühlen), geschützt nur durch Sturmhaube und Bärenfell, also stets den Erfrierungstod vor Augen, besteigen sie ihre mit elastischen Segeln ausgerüsteten Skischlitten – am Schluß wird es eine Gesamtstrecke von 840 Kilometern sein, die sie, Proviant und Kocher im Gepäck, zurückgelegt haben. Und siehe da, alle – inklusive der Schlittenhunde – überleben!
Eine Polarexpedition ist keine Konquista, kein Kolonisierungsakt, sondern ein wissenschaftliches Vorhaben ohne alle völkerrechtlichen Ambitionen. Aber ein bißchen Patriotismus wird wohl doch erlaubt sein, und so erhalten die einzelnen Landfunde wenigstens österreichische Namen: vom Cap Grillparzer bis zum Todesco-Fjord, vom Austria-Sund bis zum Simony-Gletscher, vom Wilczek-Land bis zur Teplitz-Bay.
Zwar glückt den Männern um Payer und Weyprecht die Rückkehr zur im Eis festsitzenden »Tegetthoff«, doch das Schiff selber, soviel steht fest, muß aufgegeben, der Rückzug aufs Festland mit Schlitten und Booten versucht werden. Der Proviant geht zur Neige: Der mörderische Hunger ist nur noch zu stillen, indem man die Kadaver der vor Wochen erlegten Eisbären ausgräbt und für den Verzehr freigibt. Die Logbücher und Schiffspapiere, die Vermessungsberichte sowie die geographischen und zoologischen Handzeichnungen landen in einer blechgefütterten Kiste, die gegen alle Einwirkungen von außen dicht verlötet ist.
96 Tage dauert der Marsch gen Süden – zuerst über schier endloses Packeis, dann über leichtes Treibeis, bis endlich am 15. August 1874 das offene Meer erreicht ist und die Einbootung erfolgen kann. Am 18. August gehen die Männer um Julius Payer nördlich der AdmiralitätsHalbinsel an Land, und weitere sechs Tage später sind sie gerettet: Der russische Schoner »Nikolaj« nimmt die total Entkräfteten an Bord und bringt sie in rascher Fahrt in den Hafen von Vardö an der äußersten Nordspitze Norwegens, wo sogleich alles für die Weiterreise nach Hamburg und Wien Nötige in die Wege geleitet wird.
Die Heimkehr der längst verloren Geglaubten wird in Österreich wie ein Volksfest gefeiert. Und doch – auch falsche Töne mischen sich in den Jubel um die geretteten Polarfahrer. Bei der Sondersitzung der Wiener Geographischen Gesellschaft, die am 29. September 1874 im Beisein mehrerer Regierungsmitglieder sowie des noch jungen Kronprinzen Rudolf im Festsaal der Akademie der Wissenschaften stattfindet, glaubt eine der anwesenden Erzherzoginnen Payers Expeditionsbericht mit einem halblaut geäußerten »Wenn’s wahr wäre!« in Zweifel ziehen zu müssen. Der solcherart zutiefst Verletzte nimmt daraufhin, obwohl erst 33, seinen Abschied von der Armee und zieht sich, von Kaiser Franz Joseph in den erblichen Ritterstand erhoben, ins Privatleben zurück.
Aber auch dort erwartet ihn nichts als Enttäuschung: Die erhoffte Professur für Geographie bleibt Payer ebenso versagt wie eine Aufbesserung seiner kümmerlichen Pension – erst Jahre später wird das ihm gebührende Gnadengehalt bewilligt werden. Ein »Nationalheld« muß sich als Vortragsredner durchbringen, geht verbittert ins Ausland.
In Frankfurt heiratet er, gleichzeitig nimmt er am dortigen Städelschen Kunstinstitut Malunterricht: Der Forschungsreisende a.D. muß sich um einen neuen Beruf umsehen. Sein zeichnerisches Talent hat er bereits mit den Hunderten und Aberhunderten Landschaftsskizzen bewiesen, die er sowohl von seinen Bergtouren wie von seinen Polarreisen mitgebracht hat – nun geht es darum, auch mit Öl umgehen zu lernen. Schon an seiner nächsten Station, der Akademie der bildenden Künste in München, heimst er für seine Werke – allen voran der Bildzyklus über die legendäre Polarfahrt des Engländers John Franklin – die ersten Auszeichnungen ein.
Niemals aufgeben – das hat sich Julius Payer schon seinerzeit als Expeditionsleiter zur Maxime gemacht. Jetzt braucht er dieses Durchhaltevermögen ein weiteres Mal: Schon seit jungen Jahren unter Kurzsichtigkeit leidend, büßt er kurz nach seiner Übersiedlung nach Frankreich die Sehkraft des linken Auges ein. Ist es eine Spätfolge der Überanstrengung durch das Gletscherlicht, dem er während seiner Polarexpeditionen ausgesetzt war? Oder ist es bei einer schlampig ausgeführten Augenlidoperation zu einer unheilvollen Infektion gekommen? Wie auch immer: Selbst als Einäugiger malt Payer weiter, nur muß er nun zu noch größeren Bildformaten übergehen.
Als zu allem übrigen Unglück auch noch seine Ehe zerbricht – Gattin Fanny geb. Gumperz und die beiden Kinder bleiben in Paris, nehmen die französische Staatsbürgerschaft an und werden Julius Payer niemals wiedersehen –, kehrt der inzwischen knapp Fünfzigjährige nach Wien zurück. Im ehemaligen Makart-Atelier an der Gußhausstraße eröffnet er eine Malschule, die vor allem unter kunstbeflissenen jungen Damen beträchtlichen Zulauf hat; er selber setzt die Erinnerung an seine Polarreisen teils in Gemälde, teils in Fresken um, die bis heute so manche renommierte Sammlung schmücken (und nicht nur in Österreich, sondern auch in Amerika).
In der Öffentlichkeit läßt sich Julius Payer schon lange nicht mehr blicken, seine Ehrenmitgliedschaft in der Wiener Geographischen Gesellschaft hat er zurückgelegt, im persönlichen Umgang beschränkt er sich auf seinen engsten Freundeskreis, und das einzige Vergnügen, das er sich gönnt, sind die sommerlichen Fußwanderungen in den geliebten Alpen, begleitet von »Schnauzl«, einem späten Abkömmling seiner braven Polarschlittenhunde.
Während der Sommerferien 1912, die er wie alljährlich im Oberkrainer Kurbad Veldes (dem heute slowenischen Bled) verbringt, raubt ihm ein Schlaganfall das Sprechvermögen: Der Siebzigjährige kann sich von Stund an nur noch schriftlich verständigen. Die Gefährtin seiner letzten drei Lebensjahre – Julius Payer stirbt am 29. August 1915 und wird in einem Ehrengrab der Stadt Wien auf dem Zentralfriedhof beigesetzt – geht in der Sorge für ihren Pflegling so sehr auf, daß sie ihm kurz darauf freiwillig in den Tod folgt. Österreich-Ungarn steht seit einem Jahr im Krieg: Die Nekrologe auf einen seiner besten Männer fallen denkbar knapp aus, das Land hat momentan andere Sorgen …