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2 Gefangen im G-Attraktor: Gier-Gesellschaften

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Es gibt viele Möglichkeiten und Kriterien, die unterschiedlichen Gesellschaftsformen zu klassifizieren. Diktatur vs. Demokratie, Planwirtschaft vs. Marktwirtschaft, Volkseigentum vs. Privateigentum – um nur die bekanntesten Begriffe zu nennen. Aber offenbar haben die auf diesen begrifflichen Konzepten basierenden Theorien bisher nicht zu wirkungsvollen Durchbrüchen hin zu einer gerechten und nachhaltigen Gesellschaft geführt. Fangen wir deshalb einfach noch einmal von vorne an. Für den gesunden Hausverstand ist die Art des Antriebs ein ganz zentrales Klassifikationskriterium. Beim Auto etwa unterscheiden wir zwischen einem Diesel, einem Benziner oder einem Elektrofahrzeug. In Bezug auf die Entwicklung menschlicher Gesellschaften hatten wir gesagt, ihre Triebkraft sei die Wechselwirkung zwischen Gier und Innovation. Wir wollen deshalb künftig ein wenig plakativ, aber sicher treffend von „Gier-Gesellschaften“ sprechen. Haupttriebkraft dieser Gesellschaften sind die oben skizzierten Formen der Gier bzw. ihre „Rückseite“ – die Angst, dass Zusammengeraffte wieder zu verlieren. Doch wenn alle bisherigen und gegenwärtigen Gesellschaften Giergesellschaften sind – dann wäre eine solche Begriffsbildung doch eigentlich nur dann sinnvoll, wenn es noch andere Gesellschaftsformen gäbe, die sich aus anderen Triebkräften speisen. Dieser Einwand ist berechtigt, und mit ihm berühren wir das Gebiet der Psychologie. Wie wir noch ausführlicher besprechen werden, hat die menschliche Psyche durchaus das Potenzial, auch kulturellen Inhalten den Zauber motivationaler Kraft zu verleihen. Die Ausbildung solcher „Kulturantriebe“ kann man gezielt fördern. Wenn das bei einer ausreichend großen Zahl von Menschen gelingt, wäre es durchaus denkbar, dass die Gesamtgesellschaft auf ein höheres Antriebsniveau springt, dass also eine kulturgetriebene Gesellschaft oder – in begrifflicher Kurzformel – eine „Kulturgesellschaft“ als Gegenmodell zur giergetriebenen Gegenwartsgesellschaft entsteht. Doch noch sind wir mit der Analyse dieser Giergesellschaft nicht am Ende.

Wenn wir oben einen möglichen Übergang in eine neue Gesellschaftsformation als einen „Sprung“ bezeichnet haben, so sollte das auf das Denkmodell der komplexen, nichtlinear-dynamischen Systeme verweisen. Zumindest in Teilbereichen lassen sich menschliche Gesellschaften als solche Systeme beschreiben und auch in ihrem Gesamtverhalten sind sie ihnen jedenfalls in bestimmten Aspekten durchaus ähnlich.

Keine Angst, unsere sich jetzt anschließenden Überlegungen sind nicht allzu kompliziert! Wir möchten lediglich auf den Aspekt der Attraktordynamik verweisen. Damit sind Musterbildungen aus dynamischen Interaktionen gemeint, die eine Art elastischer Rückstellkraft in Richtung auf bestimmte, exakt definierbare Zustände aufweisen. Wann immer sie durch Störeinwirkungen durcheinander gebracht werden, kehren sie wie durch eine geheimnisvolle Kraft angezogen in ihren Ursprungszustand zurück. Ein gängiges Bild hierfür ist eine Mulde, in der eine Kugel hin und her rollt. Wie oft auch immer die Kugel durch Störimpulse die Muldenwände hinaufgetrieben werden mag – am Ende rollt sie doch immer wieder an die tiefste Stelle der Mulde zurück und bleibt dort liegen.

Vielleicht kennen Sie Ähnliches aus ihren Beziehungen: Wiederholte Auseinandersetzungen über bestimmte kontroverser Reizthemen enden immer wieder im selben Argumentations-Patt: Jetzt das wieder! Das musste ja kommen! Es ist immer Dasselbe! Manchmal, wenn alle gut geschlafen haben oder man im Urlaub ist, gelingt es, das Muldentief zu umschiffen. Aber unter Druck schlägt die Kugel immer mit Wucht ganz unten ein, immer an derselben Stelle.

Und im Großen gilt in ähnlicher Weise: Werden in einer Gesellschaft die meisten Menschen von den Formen der Gier und der Angst angetrieben, und verbindet sich dieser Antrieb mit der metakognitiven Inkompetenz der Mehrheit, dann werden sich am Ende immer Muster nach Art der folgenden durchsetzen: Ausbeutung, Unterdrückung/Unterwerfung, Betrug, Intrige und Korruption, Gewaltanwendung und Raubbau, Expansion bis an die Grenzen des möglichen, Beschleunigung, Überdifferenzierung, exponentielles Wachstum, Erschöpfung der Ressourcen und schließlich Kollaps. Kollaps – am Ende immer. Und überall.

Aufgrund der Tendenzen in Richtung auf Konzentration und Ungleichverteilung gibt es immer wieder räumliche und/oder zeitliche Zwischenbereiche des Systems, in denen sich große Mengen an Wohlstand aufhäufen. Dort finden dann auch Luxusbildungen wie Ökologie, Nachhaltigkeit, Moral, Wirtschaftsethik und sozialer Ausgleich zwischenzeitlich Entwicklungsnischen. Doch das schädliche Wirken der Gier kommt dennoch nie zur Ruhe und treibt immer wieder zu Um- und Neuverteilungen rund um den Globus. Und außerdem gibt es essentielle Ressourcen, die sich unweigerlich und unwiederbringlich irgendwann erschöpfen. So müssen sich die Konkurrenzkämpfe zwangsläufig immer weiter verschärfen. Und dann wird es eng: es muss gespart werden – was in der Praxis meistens heißt, es wird weggenommen. Das allerdings nicht bei den Reichen und Mächtigen, sondern dort, wo der wenigste Widerstand zu erwarten ist. Von allem, was mit kulturellen Werten zu tun hat, wird zuerst weggenommen. Und dann müssen die Gier-Güter weggenommen werden. Was folgt, sind brutale Verteilungskämpfe und die Giergesellschaft entblößt aufs Neue jene hässliche Fratze, die sie in Europa zu Zeiten des Manchester-Kapitalismus zur Genüge gezeigt und die sie in anderen Teilen der Welt niemals abgelegt hat.

Vor der Erfindung des Brandbeschleunigers „Innovation“ gab es noch relativ stabile und lineare Phasen der Gesellschaftsentwicklung, in denen sich Veränderungen nur sehr langsam vollzogen haben. Aber seit der Institutionalisierung der Innovation in Gestalt von Wissenschaft und Technik im 18. Jahrhundert herrschen Nichtlinearität und Oszillation: exponentielles Wachstum bis zur Erschöpfung bestimmter Ressourcen oder bis zum kriegerischen Eskalieren zentraler Konflikte, dann der Kollaps, und schließlich der Neustart des exponentiellen Wachstums. Mit zunehmender Vernetzung und Beschleunigung infolge von IT-Technologie und Globalisierung wächst nun gemäß den Potenzgesetzen die Wahrscheinlichkeit immer größerer Crashs.

Die Finanzkrise der Jahre 2008-???? war und ist da wohl nur ein Vorbote, nur eine Ouvertüre.

Exponentielles Wachstum in Räumen mit begrenzten Ressourcen muss immer zu einer finalen Verschärfung der Konkurrenzkämpfe führen. Und die Verschärfung solcher Konkurrenzkämpfe wird, mit Ideologie aufgeladen, irgendwann mit Zwangsläufigkeit brutal und unmenschlich (sie „bestialisch“ zu nennen, wäre allerdings eine Beleidigung der Tiere, die weder Kreuzzüge noch Konzentrationslager kennen!). An einem bestimmten Punkt des Entwicklungsganges sind dann auch Basisressourcen wie fruchtbarer Boden, Öl, Süßwasser etc. erschöpft und es kommt zum finalen Kollaps, auf den nun keine Oszillationen mehr folgen: das Leben stirbt oder es kriecht über Jahrhunderte am Boden dahin, so wie es das in grauer Vorzeit über Jahrtausende getan hatte.

Solange Gier die Hauptantriebskraft bleibt, gibt es aus diesen Mustern kein Entrinnen. Wir sind gefangen im Attraktor der Gier.

Übrigens: Alle bisherigen Versuche, diesem Attraktor durch grundlegende strukturelle Veränderungen zu entkommen wie etwa Abschaffung von Privateigentum, Einführung von Planwirtschaft etc. sind letztlich gescheitert: Auch in den Gesellschaften des real existierenden Sozialismus sind am Ende alle Werte von der Gier aufgefressen worden: von der Gier der Funktionäre nämlich – in erster Linie der Machtgier, aber durchaus auch von der Konsumgier. Gier ist der entscheidende Faktor. Wenn wir die Gier nicht besiegen, sind wir verloren. Daran führt kein Weg vorbei. Am Ende gibt es auch keinen ökologischen oder sozialen Kapitalismus. Das Herz des Kapitalismus ist aus Stein, sein Antlitz ist der Totenkopf.

Im Kern sind unsere hier in einer Art von Faustskizze zusammengefassten Aussagen keineswegs neu – schon Mahatma Gandhi hat gesagt, die Erde biete genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.

Es könnte freilich wichtig und richtig sein, eine Vielzahl von wohlbekannten Hypothesen in dem hier bereits angedeuteten modernen systemtheoretischen Kontext zu reformulieren. Nur so wird ihre quasi naturgesetzliche Zwangsläufigkeit deutlich. Solange die Gier die Hauptantriebskraft der Gesellschaft bleibt, sind alle positiven Reformerfolge nur kurzzeitige Blüten, die vom nächsten sozialen Sturm wieder abgerissen werden. All Ihre Bemühungen um Mülltrennung, die Demonstration für Mindestlöhne, das neue Solardach etc. etc. – all das kann den Nieder- oder gar Untergang vielleicht etwas hinauszögern, am Ende aber wird es vergeblich gewesen sein. Der Vernichtungssog des Gier-Attraktors wird sich auf lange Sicht als weitaus stärker erweisen als jedes individuelle Bemühen. Oder anders herum formuliert: All die im Kern ja guten und richtigen Aktivitäten erhalten nur dann ihren vollen Sinn, wenn sie eingebunden sind in ein systematisches Programm zur Überwindung der Giergesellschaft. Alle an Humanität und Ökologie interessierten Kräfte können und sollen ihre speziellen Engagements sehr wohl fortsetzen, aber sie müssen, wollen sie langfristig und umfassend Erfolg haben, einen Teil ihrer Energie abzweigen und vereinen zu einer gemeinsamen Bildungsanstrengung, deren konkrete Inhalte Thema dieses Buches sind (und die das Ziel haben, Gier und metakognitive Inkompetenz zu überwinden).

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