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1 Die Quellen des Übels und ihre zerstörerischen Wirkungen

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Leben ist Expansion. Die expansivsten Formen des Lebens haben schon bald die Biosphäre dominiert. Das liegt im seelenlosen Mechanismus der Evolution begründet: Gene, die ein expansives Verhalten begünstigen, verbreiten sich stärker als alle anderen Gene. So musste das in die Welt kommen, dessen Entsprechung wir auf der psychischen Ebene „Gier“ nennen.

Diejenigen unserer Vorfahren, die eine Neigung hatten, Nahrung und andere Ressourcen an sich zu reißen und zu bevorraten, hatten größere Chancen, ihre Nachkommen durchzubringen – folglich verbreiteten sich die Gene, die diese Neigung erzeugen. Das gleiche gilt für die Neigung, in der Gruppe einen möglichst hohen sozialen Status und damit Macht zu erringen – das erleichtert den Zugriff auf Ressourcen und auf attraktive, genetisch fitte Sexualpartner, was im Sinne einer Selbstverstärkung wieder zu Statuserhöhung beiträgt (Luxusgegenstände und attraktive Partner als Statussymbole). Im Gehirn führte dies zu Bildung von alsbald weitervererbten Antriebssystemen („Erbantriebe“), die in der Psyche die Gier nach Luxus, Status und Macht wecken und wach halten. Eine vierte Form der Gier ist die Gier nach neuen Reizen und Erlebnissen, die Neugier. Bei Jungtieren und bei Kindern ist sie ein förderlicher Antrieb, die Umwelt zu erkunden und Neues über sie zu lernen. Während diese positive, kindlichspielerische Neugier mit dem Älterwerden abklingt, führt das Phänomen der Gewöhnung oft zu einer süchtig-verkrampften Neugier des Erwachsenen.

Gewöhnung ist ein biologisches Elementarphänomen, das uns auf vielen Ebenen begegnet. Schon bei einfachsten Lebewesen unterbleiben Schutzreflexe, wenn ein harmloser Störreiz häufig genug wiederholt wird. Wenn man eine Brille verordnet bekommt, drückt sie eine Zeitlang auf der Nase, um bald nicht mehr wahrgenommen zu werden. Allerdings gilt das auch für das positive Erleben: Wenn Sie Ihr Lieblingsgericht zu häufig essen, wird es fad. Konsumgüter wie Uhren, Schuhe oder Autos vermitteln eine Zeitlang ein gutes Gefühl, doch bald gewöhnt man sich an sie und giert nach Neuem: nach der noch teureren Uhr, nach den noch schickeren Schuhen oder dem noch schnelleren Auto. Vor allem durch die neuen Medien gewöhnen sich immer mehr Menschen, insbesondere immer mehr junge Menschen an immer höhere und intensivere Reizlevel. Dies ist dann Neugier im schlechtesten Sinne: permanentes Mailen, Simsen, Twittern, Chatten, immer brutalere Videos, ständiges Musikgedröhn in den Ohren, Internet-Abhängigkeit, Sensation-Seeking. Viele Jugendliche werden zu flackerblickigen Reiz-Reaktions-Automaten abgerichtet. Der Reizterror fixiert sie von Kindesbeinen an auf Lustgewinn durch Außenreize und lässt ihnen keine Chance zur Akkumulation kulturellen Reichtums, zum Aufbau innerer Quellen von Lebenszufriedenheit. Dieser verhängnisvolle Prozess ist von dem Philosophen Christoph Türcke in seinem Buch über die Kritik an der „Aufmerksamkeits-Defizit-Kultur“ treffend beschrieben worden (Türcke 2012).

Die wichtigste Kulturtechnik für die Aneignung kulturellen Reichtums, das Lesen anspruchsvoller Texte, wird immer weniger eingeübt. Auch wenn sich die Inhalte dieser Reizgier zunehmend dematerialisieren, wachsen infolge immer kürzerer Geräte-Lebensdauer die Berge des Elektronik-Schrottes.

Früher galt Gier als eine der sieben Todsünden. Heute ist sie „geil“. Früher wurde Gier gezähmt, heute wird sie durch den konsumfixierten Zeitgeist regelrecht herangezüchtet.

Auf allen Ebenen richten die vier Köpfe des Gierdrachens schweren Schaden an. Bevor wir uns dies mehr im Einzelnen betrachten, sei noch auf einen die Entwicklung verstärkenden Effekt hingewiesen. Wir nennen ihn die metakognitive Inkompetenz und verstehen darunter die Unfähigkeit unreflektierter Menschen, bewusst und angemessen mit den eigenen Erkenntnisinstrumenten umzugehen. Erst die begriffliche Erkenntnis macht es beim Menschen möglich, Sachverhalte in der Vorstellung auszuweiten, aufzusteigern, ins Reine und Ideale zuzuspitzen. Denken wir an Vorstellungen wie „der reichste Mann der Welt“ oder „der mächtigste Mann der Welt“ oder „die schönste Frau der Welt“, „das prächtigste Haus der Welt“ oder „der berühmteste Gelehrte des vom Licht erreichbaren Universums“ – Vorstellungen dieser Art können alle anderen Tiere nicht entwickeln, sie sind nur dem Homo rapiens möglich. Hinzu kommt die teufelskreisartige, wechselseitige Verstärkung von Gedanken und Gefühlen: Der Anblick eigenen Besitzes erzeugt Gedanken an und Vorstellungen von noch viel mehr Besitz, was Gefühle der Gier weckt, die dann ihrerseits Denken und Vorstellen noch weiter anstachelt usw. Und schließlich werden gedankliche Konstrukte verabsolutiert und zu Dogmen, zu absoluten Wahrheiten erklärt: Ich muss unbedingt – koste es, was es wolle! – dieses oder jenes haben oder erreichen, damit ich ein glücklicher Mensch sein kann. Dass meine Mitmenschen mir diese oder jene Möglichkeit einräumen, mir dieses oder jenes Verhalten zugestehen etc. – es ist für mich eine absolute Notwendigkeit. Diese oder jene Vorstellung – meine Vorstellung von der Welt, von richtiger Berufsausübung oder Lebensführung – erhält den Status einer absoluten Wahrheit: ich muss unbedingt Recht behalten, muss meine Interessen unbedingt durchsetzen. Es gibt nur Sieg oder Niederlage, Schwarz oder Weiß – die Nuancen und Schattierungen, die für die Lebensrealität so typisch sind, werden „planiert“, werden dem Gegensatz „Alles oder Nichts“ untergeordnet. Aber dieser Gegensatz entspringt dem Reich der Phantasie, dem Reich der Vorstellung. Und dies insbesondere dann, wenn unsere innere Welt, wenn unsere inneren Bilder dem Diktat der Gier unterworfen sind.

Viele Menschen haben keine kritische Distanz zu solchen Mechanismen, sie sind mit ihren gedanklichen Vorstellungen und Konstrukten unreflektiert verschmolzen. Sie halten die Landkarte für das Land. Für die Folgen haben wir Begriffe wie Rechthaberei, Engstirnigkeit, Dogmatismus, Fundamentalismus, oder Extremismus. Auf allen Ebenen führen diese Mechanismen zur Verstärkung innerpsychischer, zwischenmenschlicher und sonstiger Konflikte.

Werfen wir nun einen Blick auf die vielfältigen Schadensvariationen, die von Gier und metakognitiver Inkompetenz in vitiösem Zusammenwirken auf allen Ebenen angerichtet werden:

Individuum:

Die Gier treibt viele Menschen um und orientiert sie auf Lustgewinn, der primär aus äußeren Quellen stammt. Sind die äußeren Anreize von Anbeginn sehr stark, verhindert dies die Akkumulation kulturellen Reichtums als einer inneren Quelle von Lebenszufriedenheit. So entstehen zum einen Abhängigkeit und zum anderen eine innere Leere, die sich mit wachsender Halt- und Orientierungslosigkeit paart.

So kommt es zu einem ständigen Getriebensein. Was da antreibt, ist die Angst, etwas zu verpassen („Paradox of Choice“), und diese Angst wächst aufgrund der schnellen, weil gewöhnungsbedingten Abnutzung äußerlicher Reize weiter an („hedonische Tretmühle“). Dieses Getriebensein verunmöglicht dauerhaften inneren Frieden und nachhaltige Erfüllung. Egoistische Verhaltensweisen, Engstirnigkeit und Dogmatismus erzeugen soziale Konflikte und verhindern tiefe, tragfähige und belastbare menschliche Bindungen. All dies kann zur Entstehung psychischer Störungen beitragen, deren Inzidenz in den westlichen Ländern stetig steigt. Wir wollen Menschen, die in diesem Entwicklungsstadium stecken bleiben, als außengeleitete Ego-Menschen bezeichnen. Diese sich ständig verstärkende „Außenleitung“ hat der Soziologe David Riesman bereits in seinem Bestseller „Die einsame Masse“ in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts treffend beschrieben (Einzelheiten dazu bei Bastian 2012).

Beziehung und Familie:

Menschliche Beziehungen haben eine biologische und eine geistigkulturelle Ebene. Die biologische Ebene wird von Phänomenen geprägt wie vom Verliebtsein im Sturm von Hormonen und Sinnlichkeit, von Sexualität bis hin zu Sexsucht und Promiskuität, von Dominanz und Unterwerfung, Eifersucht und Kontrolle.

Die geistig-kulturelle Ebene konstituiert sich durch Ähnlichkeit, Resonanz und Koevolution bezüglich Werten, Grundanschauungen, Interessen und Lebenszielen. Sie verwirklicht sich in nichtbesitzergreifender Liebe, verleitet dazu, sich am anderen um seines puren Seins willen zu freuen, und macht es möglich, dem anderen Freiheit zu lassen, an seiner Entwicklung Gefallen zu finden und sie fördern.

Bei „Ego-Menschen“ in der oben skizzierten Bedeutung des Wortes entwickeln sich auch die zwischenmenschlichen Beziehungen nur wenig über die biologische Ebene hinaus. Das biologische Funktionsniveau bleibt führend und vergewaltigt fortwährend den zumeist ja doch vorhandenen geistig-kulturellen Kern der Partner: den anderen ständig bewerten und nach seinem Bilde formen wollen, Machtspiele von harmlosen Tricksereien über permanente verbale Verletzungen, Hass und Rache bis zur körperlichen Gewaltausübung (ca. drei Viertel aller Morde geschehen in einer Partnerschaft – die Hauptmotive sind Habgier und Eifersucht!), Missbrauch des anderen als Statussymbol, Fremdgehen, Intrigieren, Lügen, engherzige Feilschereien um den kleinsten Vorteil, tagelanges beleidigtes Sich-Anschweigen, verbohrtes Rechthaben-Müssen, Streit, schnelle Emotionalisierung und Unfähigkeit zur halbwegs sachlichen Konfliktklärung, Misstrauen, Kontrolle, Nötigung, – das und noch anderes mehr bestimmt leider den tristen Alltag in nicht wenigen Beziehungen.

Team/Firma:

Hier ist es sinnvoll, zwischen einer Beziehungsebene und einer Sachebene zu unterscheiden. Mit Beziehungsebene sei hier all das gemeint, was um Themen wie Selbstwert, Ego, Hierarchie oder gar Hackordnung kreist. Es handelt sich also um jene Ebene, auf der sich die biologischen Mechanismen der Beziehungsbildung manifestieren. Unter Sachebene wollen wir hingegen jene Prozesse und ihre kulturelle Eigenlogik verstehen, in denen sich die geistig-kulturellen Inhalte und Gegenstände formen, um deren Schaffung willen Menschen kooperieren: die Herstellung komplexer Produkte, die Erarbeitung von Konzepten und Planungen, die Realisierung von Projekten, das In-Gang-Halten geordneter Verwaltungsabläufe etc.

Für den Erfolg der Kooperation ist es entscheidend, dass sich die Eigenlogik der Prozesse auf dem geistig-kulturellen Niveau möglichst unverzerrt entfalten kann. Alle Einwirkungen vom Niveau der biologischen Beziehungsbildung sind störend und vermindern den Erfolg. Den Ursprung dieser Störimpulse bilden überwiegend die verschiedenen Formen der Gier (und ebenso ihrer emotionalen „Kehrseite“, der Angst). Einige Beispiele: jemand sagt etwas, das sachlich gar nicht erforderlich ist, weil er meint, dass auch er etwas gesagt haben sollte; ein anderer beharrt auf einer sachlich falschen Position, weil er glaubt, aus Statusgründen recht behalten zu sollen; der dritte drängt Entscheidungsprozesse in eine Richtung, die sachlich unangemessen ist, ihm aber zu einer höheren Stellung mit besserer Bezahlung verhilft; eine sachlich richtige Entscheidung wird verhindert, um einem Konkurrenten zu schaden, die Ingenieurs-Fraktion ist aus Prinzip gegen das, was die Designer-Riege vorschlägt; aus Angst vor dem cholerischen Chef macht jemand nicht auf einen gravierenden Fehler aufmerksam; eine Mitarbeiterin entwickelt eine tolle Idee, äußert sie aber nicht aus Angst, sich zu blamieren; und schließlich hievt noch einer einen guten Freund und Verbündeten auf einen Posten, für den dieser fachlich nicht geeignet ist, der aber eine strategische Schlüsselposition im Machtkampf bildet.

Sie werden aus eigener Erfahrung bestätigen können: All das und noch viel mehr steht oft genug auf der Tagesordnung innerbetrieblicher Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse. Wenn man sich das bewusst macht, liegt offen zutage: es kann am Ende nicht viel herauskommen, was wertvoll und von Dauer ist. Fast alle sozialen Organisationen, die wir persönlich kennengelernt haben, arbeiten höchst ineffizient. Es gibt studienbasierte Schätzungen, dass in Firmen bis zu 50% Produktivitätseinbuße durch interne Grabenkämpfe entsteht. In nicht wenigen Bereichen dürfte auch hier das altbekannte Pareto-Prinzip gelten: 20% aller Aktivitäten bewirken spürbare Effekte, 80% dienen der Selbstbeschäftigung und sind letzten Endes „für die Katz“. Natürlich spielen hier auch noch andere Faktoren eine ursächliche Rolle (vgl. Hansch 2010), aber die oben skizzierten Wirkimpulse der Gier und der metakognitiven Inkompetenz sind aller Wahrscheinlichkeit nach für den Hauptteil der hier nur grob umrissenen Schäden verantwortlich. Das mit Abstand größte Wachstumspotenzial, das es in dieser Welt gibt, liegt in der Verbesserung unserer Fähigkeiten zur Kommunikation und Zusammenarbeit.

Gesellschaft/Staat:

Die Entwicklung menschlicher Gesellschaften wird angetrieben durch das Wechselspiel von Gier und Innovation. Dieses Wechselspiel ist ein Prozess des sich selbst beschleunigenden Wachstums. Technische Innovationen ermöglichen die Schaffung von Mehrwert. Das facht die Gier maximal an und führt zu Investitionen zur Ermöglichung von noch mehr Innovation. Der neu geschaffene Mehrwert differenziert sich aus zu einem sich immer mehr verbreiternden Strom von Produkten, die an unterschiedlichste Bedürfnisse anknüpfen. Doch die Zahl der Menschen ist begrenzt und zumindest die angeborenen Grundbedürfnisse der Menschen sind es ebenso. Damit ist auch der Raum der Befriedigungsmöglichkeiten und der dies versprechenden Produkte begrenzt.

Im Bereich der wichtigsten Grundbedürfnisse verfügen wir schon heute über Produkte, die den genetisch fixierten Rahmen unserer Erlebnismöglichkeiten weitestgehend ausschöpfen. Aus Fett und Zucker wird sich kaum noch etwas kombinieren lassen, das ein Geschmackserlebnis verspricht, das deutlich über dem liegt, was heutige Supermärkte für moderate Preise im Angebot haben. Der Komfort und die Funktionalität moderner Kleidungsstücke, Wohnungen oder Automobile lassen keine wirklich relevanten Wünsche mehr offen (außer natürlich der noch nicht voll eingepreisten ökologischen Verträglichkeit). In immer mehr Bereichen beginnen sich die Märkte zu sättigen, das Wachstum verlangsamt sich und der Grenznutzen sinkt: immer mehr Aufwand bringt – ab einem bestimmten Punkt – immer weniger Ertrag. Gier und Angst als Antreiber der Marktwirtschaft mögen viel Leid unter die Menschen gebracht und der Umwelt schwerste Schäden zugefügt haben – man kann aber nicht leugnen, dass sie auf der anderen Seite den wissenschaftlich-technischen Fortschritt vorangetrieben haben. Das Ergebnis bilden etliche wertvolle Technologien und Produkte, die ein hohes Potenzial in sich tragen, auch einem ökologischen, sozialen und geistig-moralischen Fortschritt dienlich sein zu können (insbesondere Informations- und Umwelttechnologien).

In weiten Bereichen beginnt sich allerdings auch diese positive Seite der Gier in ihr Gegenteil zu verkehren. Die zunehmende Sättigung aller Märkte führt zu einer kontraproduktiven Überdifferenzierung – immer mehr Produktvarianten entstehen in immer unsinnigeren Ausformungen: um eine Chance zu haben, auch noch die 101. Sorte Zahncreme verkaufen zu können, muss man rot auf die Tube drucken: „Neu – mit Vitamin C!“ Um auf einem Buchmarkt mit einigen Zehntausend Neuerscheinungen jährlich überhaupt noch wahrgenommen zu werden, muss man in immer „feuchtere Gebiete“ hinabsteigen. Bei der Auswahl von Handytarifen gibt es inzwischen nichts mehr, was hilft. All das überfordert die Menschen und trägt zu Unübersichtlichkeit und Zersplitterung unserer Welt bei.

Diese Entwicklung betrifft nicht nur die Sphäre materieller Produkte, sondern auch den administrativen und geistig-kulturellen Bereich. Von allem gibt es immer mehr: Sachgebiete, Referate und Unterabteilungen, Wissenschaftsteildisziplinen, Kunstrichtungen und Musikstile, kulturelle Subgruppen und Internet-Communities. Um als Wissenschaftler wahrgenommen zu werden, muss ich immer schneller – und damit weniger gründlich und fundiert – mit immer spektakuläreren Neuigkeiten in immer mehr Publikationen auftreten. Um als Wissenschaftler an Drittmittel zu kommen, muss ich meine Forschungsrichtung mit großem Getöse in den Medien verkünden und dabei ständig unseriöse, unhaltbare Erfolgsversprechen in die Medien herausposaunen.

Zwei damit verbundene, besonders wichtige Konsequenzen seien kurz erläutert.

Erstens bewirkt die Überschwemmung der Märkte bis hin zu ihrer völligen Unüberschaubarkeit, dass der Kampf um mehr Qualität des Produktes sich immer stärker zu einem Kampf um die Aufmerksamkeit des Konsumenten wandelt. Wenn das zu lancierende Produkt nicht mehr deutlich besser ist als die anderen oder diese Tatsache aufgrund von allgemeiner Übersättigung niemanden mehr interessiert, bleibt nur eines: Auf irgendeine sachfremde und möglichst schrille Weise Aufmerksamkeit erregen: durch eine skandalöse Werbeidee, einen besonders prominenten Werbeträger u.a. Es gibt inzwischen Produktbereiche, in denen die Marketingkosten über den Herstellungskosten liegen – welch eine „postabsurde“ Konstellation! Auch hier sind die „normalen“ Möglichkeiten zunehmend ausgereizt und der unaufhörlich wachsende Konkurrenzdruck zwingt zu einer Primitivierung der Reize: Das Bemühen um das knappe Gut Aufmerksamkeit wird immer emotionaler, schriller, absurder, sexueller und gewalttätiger. Auf allen Ebenen erliegen Gesellschaft und Kultur einer Emotionalisierung, Personalisierung und Skandalisierung. Dies setzt zunehmend die gesunden Regulierungsfunktionen von Markt, Demokratie und kulturellen Werten außer Kraft, es fördert Verdummung, Verrohung, Demokratieverdrossenheit und einen gefährlichen Populismus.

Zweitens kommt es zu einer Konsequenz, die Sie von Ihrem Computer kennen: Um Daten mit anderen Computern austauschen zu können, müssen diese mit den gleichen Betriebssystemen bzw. Programmen ausgestattet sein. Computer verstehen sich nur, wenn sie funktionsgleich sind. Und mit den Menschen ist das nicht anders. Je ähnlicher wir einander in Alter, Geschlecht, Kulturhintergrund, Beruf, Weltbild oder Religion, geteilten Schlüssel-Erfahrungen usw. sind, desto besser können wir einander verstehen. Die oben skizzierte Zersplitterung unserer Lebens-, Kultur- und Geisteswelten untergräbt genau diese gemeinsame Basis. Je größer die Vielfalt geistiger Inhalte wird, desto seltener kann es geschehen, dass zwei Menschen, die sich zufällig im Zug begegnen, am Vortag die gleiche Fernsehsendung gesehen haben oder just eben das gleiche Buch lesen (und wenn doch, handelt es sich meist um sehr populäre und damit eher anspruchslose Werke!). Je größer die Vielfalt geistiger Inhalte wird, desto unterschiedlicher auch der „Seelengehalt“ der Menschen. Je unterschiedlicher die Menschen werden, desto schwerer wird es, sich zu verstehen und für die Lösung komplexer Probleme einen Konsens zu finden. Und je schwerer es wird, Konsens zu finden, desto schwerer wird es auf allen Ebenen, mit Erfolg zusammen zu arbeiten.

Parallel zu diesem giergetriebenen Prozess der Überdifferenzierung und Zersplitterung mit seinen genannten beiden Hauptfolgen vollzieht sich auch noch ein Prozess der Konzentration der wichtigsten universellen Wirkfaktoren: Reichtum, Macht und Popularität. Je besser man mit diesen Wirkfaktoren ausgestattet ist, desto größer sind die Möglichkeiten, sich giergetrieben diese Faktoren in noch größerem Maß anzueignen. Es handelt sich hier offenkundig um einen Prozess der Selbstverstärkung (forward feed back), der von einem bestimmten Punkt kaum noch etwas oder gar nichts mehr mit der persönlichen Leistung zu tun hat – zugleich schafft er extreme Unterschiede. Immer weniger Reiche werden immer reicher, immer mehr Arme immer ärmer. Immer weniger Mächtige gewinnen immer mehr an Macht, und alle anderen werden immer ohnmächtiger. Immer weniger Prominente werden immer bekannter und immer mehr Vergessene immer vergessener. All das ist in höchstem Maße ungerecht und häuft sozialen Sprengstoff an.

Gier und metakognitive Inkompetenz sind also jene Faktoren, die uns aufs Ganze gesehen in das folgende soziale Dilemma führen:

1. Die Konsens- und Kooperationsunfähigkeit wächst;

2. Die innergesellschaftlichen Spannungen infolge zunehmender Ungleichverteilung und Ungerechtigkeit wachsen ebenfalls;

3. Der äußere Druck (globalisierungsbedingte Konkurrenz, Ressourcenverknappung, Klimakatastrophe etc.) nimmt zu.

Dass dieser katastrophische Dreiklang einen üppigen Nährboden für eine Vielzahl potenzieller Konflikte bietet, liegt so klar auf der Hand, dass wir uns weitere Beispiele sparen wollen (es finden sich genügend z. B. bei Bastian 2011). In Zeiten wachsender innerer und äußerer Bedrohungen nimmt also zugleich die Konsensbildungs- und Kooperationsfähigkeit und damit die Problemlösekompetenz der Gesellschaft ab. Ungünstiger könnte die Konstellation innerer und äußerer Gefahrenpotenziale kaum sein.

Als ein wichtiges Resultat der genannten Entwicklungen ergibt sich, dass die psychischen Störungen in Form von Depressionen, Burnout-Erkrankungen und Angststörungen in den westlichen Wohlstandsgesellschaften erheblich zunehmen und immer jüngere Menschen betreffen. Arbeit, Wissenschaft und Technik sind einst entstanden, um das Leben zu erleichtern und zu verschönern – im Endeffekt aber haben sie zum Entstehen einer sozioökonomischen Megamaschine geführt, die eine Vielzahl von Menschen versklavt und unglücklich macht.

Weltgemeinschaft:

Auch in der Geschichte der Weltgemeinschaft haben menschliche Gier und metakognitive Inkompetenz verheerende Schäden angerichtet. Ungezählte Raub- und Glaubenskriege gehen auf ihr Konto. Dabei nahmen und nehmen sich Gier und intolerante Ideologien wechselseitig in Dienst: ideologische Eiferer spannen den Gierteufel vor ihren Streitwagen, um ausreichend große Massen für den Kampf zu mobilisieren, der oft genug unter dem Wahlspruch „koste es, was es wolle!“ geführt wird. Und umgekehrt wurden und werden Eroberungsgelüste immer wieder mit weltanschaulich-religiösen Maskeraden verhüllt.

Zum Glück für die Menschheit sind in den letzten Jahrzehnten Großkriege seltener geworden, auch deshalb, weil sich internationale Großorganisationen wie UNO, OECD, EU, WTO, IWF oder IPCC (Weltklimarat) gebildet haben, die viele Konflikte leidlich regulieren. Freilich: nationale Egoismen führen auch hier in immer noch viel zu hohem Maße zu Fehlentwicklungen und Blockaden. Oft genug werden Verträge offen oder verdeckt unterlaufen. So kommt es zum fortgesetzten Raubbau an Gütern, deren Nutzung nur schwer kontrollierbar und begrenzbar ist („Allmende-Problem“): Überfischung der Meere, Wilderei, Vernichtung der Regenwälder, Umweltverschmutzung, Trinkwasserverknappung, CO2-Anstieg etc.

Im nationalen und internationalen Rahmen treibt die Gier dazu, räumlich und zeitlich viel mehr Ressourcen zu verbrauchen, als statthaft wäre, würde nach dem Maßstab von Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit gemessen. Das trägt entscheidend zu Elend und Hunger in der „Dritten Welt“, das heißt auf der Südhalbkugel, bei und es wird mit größter Wahrscheinlichkeit auch zu massenhaftem Elend und Tod in naher Zukunft führen, und zwar weit über die menschliche Art hinaus, nämlich in der gesamten Biosphäre.

Es ist eine leider unleugbare Tatsache: Lässt man Giermenschen in Giergesellschaften unter der so oft beschworenen Ägide maximaler Freiheit leben und wirtschaften, so führt auch das zu Opfern – freilich vor allem in beruhigender räumlicher und zeitlicher Entfernung. Es ist ein bequemer Selbstbetrug oder ein zynisches, wählerfreundliches Machtkalkül, die Illusion zu propagieren, es könnten internationale Regelsysteme installiert werden, die es allen erlauben, sich in unbeschränkter Freiheit und ungebremster Gier zu entfalten und zu wirtschaften, weil diese Regeln ähnlich der unsichtbaren (weil in Wahrheit gar nicht existenten) Hand des Adam Smith die Folgen so kanalisieren, dass kein Schaden am Gemeinwohl entsteht oder dieses sogar gefördert würde.

So müssen wir ein Dilemma konstatieren: Diktatur, das hat die Geschichte erwiesen, funktioniert nicht – Freiheit aufs Ganze gesehen aber auch nicht! Wir kommen auf dieses Dilemma zurück.

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