Читать книгу JUSTITIAS BRUDER - Dietmar Kottisch - Страница 6
Оглавление2005
An einem nebligen Herbsttag des Jahres 2005, genau am 17.10. um 12 Uhr 40, bog Jana Johansson in Frankfurt mit ihrem alten VW-Käfer auf der Berliner Strasse links ab, näherte sich langsam dem Zebrastreifen, als plötzlich ein kleines, etwa zehnjähriges Mädchen in einer roten Hose und einem hellen Mantel und einer großen Puppe in der Hand hinter einem haltenden Bus auf den Zebrastreifen rannte, erschrak und abrupt stehen blieb. Für einen Bruchteil von Sekunden sah Jana in das erschrockene Gesicht des Kindes, bremste ab und kam vor dem Kind zum Stehen.
In dem Moment raste ein weißer Mercedes auf der Gegenfahrbahn auf den Zebrastreifen zu, erfasste das Mädchen und schleuderte es auf die Kühlerhaube und von dort gegen die Frontscheibe von Janas Wagen, von wo sie dann auf die Strasse fiel. Jana hörte den Schrei des Kindes und das hässliche Geräusch eines kleinen Körpers auf der Kühlerhaube und an der Scheibe ihres Wagens.
Das Fragment einer Szene erschien vor ihrem inneren Auge….und verschwand sofort.
Der Fahrer des Mercedes raste weiter.
Die umherstehenden Leute schrien auf.
Ein bärtiger älterer Mann in einem zerschlissenen Anzug und mit einer Einkaufstüte in der Hand starrte auf das Kennzeichen des Wagens und sah das Gesicht des Fahrers.
Jana war leichenblass aus dem Wagen gestiegen und kniete sich zu dem Mädchen herunter, das zitterte und aus den Ohren blutete. Und die große Puppe drückte sie fest an ihren kleinen Körper.
„Ist hier ein Arzt?“ rief sie verzweifelt, aber die Leute schüttelten den Kopf. Es schien, als hätten sie den Unfall noch gar nicht registriert.
Ein Mann im dunklen Trenchcoat ließ seinen Aktenkoffer fallen, nahm schnell sein Handy aus der Tasche und rief 112 an. Das Kind blutete weiter aus den Ohren und aus dem Mund, ihre Augenlider flatterten. „Gleich kommt Hilfe…“ flüsterte Jana ihr zu.
Zehn Minuten später kam ein Notarztwagen mit Blaulicht und Sirene, hinter ihm ein Polizeiwagen. Sofort wurde die Kleine von dem Arzt versorgt und in den Krankenwagen gehoben. Noch auf der Bahre schien sie Jana in die Augen zu schauen.
Blitzschnell erschien vor ihrem inneren Auge wieder das Fragment einer Szene….und verschwand ebenso schnell…
Die Sirenen und das Blaulicht des Notarztwagens bildeten den Abschluss einer Katastrophe und schien für Jana der Anfang eines neuen Lebensabschnittes zu sein.
Die Polizeibeamten befragten die Leute. Der alte Mann im zerschlissenen Anzug und mit der Einkaufstüte sagte ihnen, dass er sich etwas merken konnte am Nummernschild, nämlich HG—.95, dass es ein weißer Mercedes war, und Merkmale des Gesichts des Fahrers habe er auch gesehen: der hatte kurz geschnittenes weißes Haar und trug eine Brille. Sie nahmen seine Personalien auf.
Nachdem sie fertig waren, sagte er noch: „ Ich hab gesehen, wie er ankam, ich dachte noch, der müsste doch jetzt auf die Bremse gehen….“
Die Beamten nickten.
Dann nahmen sie Janas Personalien auf und ihre Schilderung des Vorgangs.
Sie lehnte sich zitternd an ihren Wagen, Tränen liefen aus ihren Augen, nachdem die Beamten wegfuhren.
Die Menschen verteilten sich wieder. Das Entsetzen dauerte ein paar Sekunden, aber war in Janas Leben von ganz entscheidender Bedeutung.
Ein Mann im mittleren Alter kam auf sie zu. Er hatte eine Glatze, trug Jeans und eine Lederjacke. „Ich heiße Oliver Pomerenke und bin Rechtsanwalt. Schöne Scheiße, das hier. Wenn Sie einen Anwalt brauchen, hier ist meine Telefonnummer.“ Er schrieb seine Nummer auf einen Kassenbon, den er aus seiner Hosentasche wühlte, und gab ihn ihr. Sie nickte nur und behielt den Zettel in der Hand. „Wollen wir uns irgendwo unterhalten?“ fragte er und sie nickte nur. „Gehen wir in ein Cafe,“ schlug er weiter vor. Sie schien wie paralysiert. Er führte sie auf die Beifahrerseite ihres VWs und öffnete die Türe und ließ sie einsteigen. Dann setzte er sich hinter das Steuer und fuhr in das Parkhaus Junghofstrasse. Er stellte den Motor ab und wartete, bis sie wieder in der Lage war zu reagieren. Eine Viertelstunde später saßen sie in einem Cafe an der Hauptwache und unterhielten sich.
„Haben Sie was gesehen?“ fragte sie und rührte mit ihrem Löffel in der Kaffeetasse, aber Oliver schüttelte den Kopf. „Nichts, außer einen hellen Mercedes, der an mir vorbei raste, kein Nummernschild, der hatte eine ziemliche Geschwindigkeit drauf…“
„Aber der alte Mann…“
„Gut, dass der alte Mann was gesehen hat. Die werden schon rauskriegen, wer das war. Es wird zur Anklage kommen, und Sie werden als Zeuge vernommen. Haben Sie ihn gesehen, wenn auch nur für ein paar Augenblicke?“
„Nein. Meine ganze Aufmerksamkeit war auf das Kind gerichtet, das vor meinem Wagen stehen blieb. Ich hab noch gedacht, Gott sei dank ist nichts passiert.“ Ihr kamen wieder die Tränen, und sie holte ein Taschentuch heraus.
„Wenn Sie wollen, bin auch ich im Gerichtssaal.“ Sie schaute ihn aus nassen Augen an. „Oh Gott, wie sie da stand. Das Kind, das Mädchen…. Dieses elende Schwein ..ist einfach abgehauen.“
Und dann war es wieder da, das Bild, dieses Fragment einer Sekunde, der Schrei ihres kleinen Bruders, das Geräusch seines aufklatschenden Körpers auf den Asphalt, als der Motorradfahrer ihn durch die Luft geschleudert hatte…das Entsetzen, das wie glühende Kohlen durch ihren Körper ging, sie sah ihn auf der Strasse liegen und er blickte sie an; die Schwester war das Letzte, was der Kleine in seinem Leben gesehen hat.
Ihr Bruder starb zwei Tage später im Krankenhaus.
Das Mädchen Annabell starb ein paar Stunden später im Krankenhaus.
Der Polizeibeamte gab in eine Datenbank die Informationen ein, die der Obdachlose ihnen gegeben hatte und wartete, bis der Computer einen Abgleich machen konnte: Kennzeichen aus Bad Homburg mit den Endziffern …95, ein weißer Mercedes.
Und schon spukte er das Ergebnis aus.
Als der Beamte den Namen des Besitzers am Monitor sah, hielt er abrupt inne. Dann vergewisserte er sich, dass er sich nicht vertippt hatte, gab noch einmal die Daten ein, und starrte lange auf den Bildschirm. Der Halter des Wagens war Heiner Praun, der Hessische Justizminister. Er leitete dies sofort an seinen Vorgesetzten, den Polizeipräsidenten weiter.
Daraufhin wurde der alte Mann im zerschlissenen Anzug noch einmal auf das Polizeipräsidium gebeten und befragt, ob er sich vielleicht nicht getäuscht habe; aber er blieb bei seiner Aussage. Als er den Raum verließ und die Türe noch nicht geschlossen hatte, hörte er noch, wie ein Beamter zu seinem Kollegen sagte, es sei ein "dicker Hund", dass der Hessische Justizminister ein Kind totfährt und Fahrerflucht begeht. Er blieb erschrocken stehen und schüttelte seinen Kopf, und seine Gedanken waren ihm anzusehen.
Der Journalist Manfred Troistorf, der sporadisch im Polizeipräsidium herumlungerte und auf Schlagzeilen aus war; stand zufällig im Flur hinter der Türe und hörte auch die Bemerkung des Beamten, sah dann den alten Mann aus dem Zimmer kommen und den Kopf schütteln.
Er lief mit dem alten Mann auf die Strasse. Dort hielt er ihn an, und der alte Mann, der Ludwig Very hieß und im Obdachlosenheim „Franziskustreff“ in Frankfurt wohnte, bestätigte die Kombination von Troistorf.
Es war gegen 15 Uhr, als der Polizeipräsident höchst persönlich mit einem Beamten in die Wohnung von Praun fuhr. Seine Frau sagte, er sei im Ministerium. Sie wollte wissen, was los ist, aber der Polizeipräsident verschwieg den Verdacht unter Berufung des Amtsgeheimnisses. Anschließend fuhren sie nach Wiesbaden ins Ministerium und fanden den Minister in seinem Büro vor.
Schon am nächsten Tag stand Heiner Praun in den Schlagzeilen der beiden größten Tageszeitungen von Frankfurt und am übernächsten in fast allen Blättern von Deutschland.
Überfuhr der Hessische Justizminister Heiner Praun ein Kind und beging Fahrerflucht?
Ein Obdachloser ist Zeuge.
Im Hessischen Landtag liefen die Drähte heiß, als das bekannt wurde. Im Büro von Praun saßen seine beiden engsten Mitarbeiter und ehemaligen Schulfreunde, Thorsten Glauburg und Reinhard Kammer. Glauburg war sein Privatsekretär und Kammer sein Justizstaatssekretär. Zu ihnen hatte Praun vollstes Vertrauen.
„Es ist unglaublich. Ein versoffener Penner meldet der Polizei, dass er ein paar Buchstaben und Zahlen gesehen habe … und schon verdächtigen die mich,“ schrie Praun erregt und setzte sich mit Wucht in seinen Sessel.“
„Was ist mit deinem Dienstwagen?“ fragte Glauburg.
„Der Dienstwagen ist in der Werkstatt, ich fahre zurzeit mit meinem.“ Er öffnete die unterste Schublade an seinem Schreibtisch und holte ein Glas und eine Flasche Cognac heraus.
Er beugte sich vor und flüsterte: „Mensch, Thorsten und Reinhard. Ich war bei meiner Lady…verdammt noch mal. Das kann ich doch nicht zugeben.“
„Bei was für einer?“ fragte Kammer grinsend.
„Lass das….“
„Das heißt also, dass du gegen zwölf Uhr vierzig bei deiner Freundin im Bett warst?“
„Genau.“ Er goss das Glas voll und trank einen großen Schluck, dann lehnte er sich zurück.
Glauburg und Kammer grinsten, Praun machte eine böse Miene.
„Und anschließend bin ich sofort hier her gefahren.“
Die beiden nickten.
„Ich brauch euch wohl nicht extra zu sagen, dass ihr meine Anwesenheit hier vor der Polizei bestätigt! Christine kann ich doch nicht mit hineinziehen, ist doch klar!“
Praun war ihr Steigbügelhalter auf der Karriereleiter nach oben. Beide schlugen nach dem Studium die Beamtenlaufbahn ein. Es dauerte nicht lange, bis Heiner Praun sie ins Ministerium holte.
„Wenn du uns die Adresse der Lady gibst, können wir ja mal drüber reden…“ feixte Kammer. Aber Praun fand das gar nicht lustig.
„Übrigens, dieser Penner, wo lebt der?“
„Kann ich rauskriegen,“ sagte Glauburg.
„Tu das, und biete ihm ein paar Euro, wenn er zugibt, sich getäuscht zu haben. Es wäre besser, wenn er erst gar nicht als Zeuge auftreten muss. Sicher ist sicher. Ihr wisst ja, wie schnell ein Gerücht zum Rufmord werden kann.“ Praun war aufs Äußerste erregt. Er trank das Glas aus und füllte es neu.
„Wo Rauch ist, ist auch Feuer, meinst du?“ sagte Kammer.
„Natürlich.“
„Wie viel?“
Praun winkte ab. „Der ist doch froh, wenn er Tausend kriegt. Aber der kann uns auch gefährlich werden. Erhöhe notfalls auf Dreitausend.“
Kammer und Glauburg registrierten die Bemerkung …kann uns…mit einem starken Unwohlgefühl.
„Wie soll ich das Geld verbuchen lassen?“
„Als Spende fürs Obdachlosenasyl…was denn sonst?“ Der Minister lachte, aber es war ein verstecktes Verzweiflungslachen.
Glauburg sagte später zu seinem Kollegen, als sie alleine waren: „ Ich hab ein Scheißgefühl dabei.“ Kammer zuckte nur mit den Schultern.
Ludwig Very bekam einen Tag später Besuch von einem jungen Mann im dunklen Anzug, weißen Hemd, bunter Krawatte, Bart und gefärbten Haaren, der sich als Johann Liedmann vorstellte. Er lud zu Verys Überraschung den alten Mann zu einem Mittagessen ein. Sie gingen in ein Restaurant in der Nähe des Heimes. Während des Essens bot Liedmann dem Obdachlosen tausend Euro an, wenn er seine Aussage zurücknehme. Very schaute den Mann intensiv an und schüttelte wortlos und widerstrebend den Kopf. Liedmann legte sein Besteck auf den Tisch, steckte sich eine Zigarette an und starrte Ludwig Very aus schmalen Augen an. „Haben Sie schlecht gehört? Oder gar nicht gehört? Tausend Euro, zweitausend Mark, bar und steuerfrei. Mensch Very!“
Very aß in aller Ruhe weiter, dann blickte er auf. „Nein.“
„Das ist wie ein Fünfer im Lotto…mit Zusatzzahl!“ Sein Ton wurde lauter und aggressiv. Einige Gäste blickten auf.
„Gut, Very. Sie sind ein verdammtes Schlitzohr. Ich mache Ihnen ein neues Angebot.“
Liedmann erhöhte auf dreitausend, aber Very schüttelte immer wieder den Kopf.
„Warum?“ fragte Liedmann und versuchte, seinen Zorn unter Kontrolle zu kriegen, „dreitausend Euro sind für dich wie ein Sechser im Lotto, verflucht….“
Er sah seine Mission als gescheitert an. In seinem Kopf blühten Ängste auf.
Very legte das Besteck zur Seite. „Sie sind sicher der Meinung, obdachlose Menschen sind wertlose und nutzlose arme Teufel. Ich weiß nicht, was sich der Herr Minister gedacht hat, als er beschleunigte und abhaute. Ich habe so was wie ein Ehrgefühl, ob Sie`s glauben oder nicht.“ Liedmann stand so abrupt auf, dass der Stuhl umfiel. Er warf einen Fünfziger auf den Tisch und ging wortlos hinaus.
Am 30. 10. 2005 holte die Ehefrau des Ministers ein Schreiben von der Ordnungsbehörde der Stadt Frankfurt aus dem Briefkasten. Praun wurde beschuldigt, am 17.10.2005 um 12. Uhr 35 mit dem Mercedes, amtliches Kennzeichen HG-MM-395, auf der Berliner Strasse die Geschwindigkeit um 43 km überschritten zu haben. Ein Beweisfoto lag dabei. Hanna Praun lief es eiskalt den Rücken herunter. Am 17.10. um 12 Uhr 40 verunglückte die kleine Annabell tödlich, als ein Mercedes mit hoher Geschwindigkeit auf einen Zebrastreifen fuhr….. Ihr Mann war also an diesem Tag mit dem Mercedes unterwegs…Fünf Minuten bevor er das Kind getötet hatte, wurde er wegen Geschwindigkeitsübertretung geblitzt…wahrscheinlich ein paar Meter vor dem Zebrastreifen…
Der Hessische Landtag wurde einberufen, um die Immunität des Ministers aufzuheben.
Praun wurde angeklagt.
Zwei Tage vor der Gerichtsverhandlung überfielen spät abends drei Männer Ludwig Very in seinem Zimmer und wollten ihn aus dem Heim schleppen. Weil der Mann so laut schrie, stürzten sich zehn oder elf Mitbewohner auf die Eindringlinge und verjagten sie.
In der Gerichtsverhandlung Anfang November, in der die Eltern als Nebenkläger auftraten, bestritt der Anwalt des Angeklagten alles.
Ein Beamter der Abteilung Datenbank sagte aus, dass der Computer auf Grund der Informationen einen Abgleich gemacht und es sich um den Privatwagen des Ministers gehandelt haben könnte.
Als der ganze Unfall noch einmal in allen Einzelheiten rekonstruiert wurde, weinte die Mutter leise, und der Vater hatte Tränen in den Augen. Die Eltern der kleinen Annabell trugen schwarz. Edmund Henrich war Angestellter in einem Fuhrunternehmen, sie war Hausfrau.
Dann sagten zwei Zeugen unter Eid aus, dass Heiner Praun an diesem Tag und zu dieser Stunde in seinem Büro saß und demzufolge an dem Unfall nicht beteiligt gewesen sein konnte. Sie hießen Thorsten Glauburg und Reinhard Kammer.
Der alte Mann als Zeuge sagte aus, dass er sich Teile des Kennzeichens gemerkt und das Gesicht des Fahrers gesehen hatte: ein großer, weißer Mercedes, der Fahrer habe weißes kurzes Haar gehabt und trug eine randlose Brille.
Schließlich habe ihn später ein Mann im Heim besucht und aufgefordert, seine Aussage gegen Geld zu widerrufen. Dieser Mann nannte sich Johann Liedmann.
Der Zeuge Ludwig Very wurde von dem Anwalt in die Mangel genommen und als obdachloser Penner unglaubwürdig hingestellt, ihm wurde nach suggestiver Befragung vorgehalten, so viel Alkohol getrunken zu haben, dass er nicht in der Lage gewesen sein kann, Teile des Kennzeichens und das Gesicht einwandfrei erkennen zu können. Er müsse die Zahlen und Buchstaben durcheinander gebracht haben.
Und der von ihm behauptete Bestechungsversuch sei reine Fantasie. Einen Johann Liedmann gäbe es gar nicht.
Der Staatsanwalt hielt sich sehr bedeckt und erhob keinerlei Einwände gegen diese offensichtlich suggestive und aggressive Vernehmung.
Dann versuchte der Anwalt, Jana fertigzumachen, indem er behauptete, dass sie sehr wahrscheinlich zu schnell gefahren sei und das Mädchen angefahren, und infolgedessen Schuld am Tod des kleinen Kindes habe.
Jana sprang auf und schrie den Anwalt an, es sei eine Unverschämtheit, die Tatsachen einfach zu verdrehen. Auch Lars war aufgesprungen: „Eine Frechheit ist das!“
Sie wurden vom Richter ermahnt.
Heiner Praun wurde nach kurzer Beratung im Richterzimmer mangels Beweise freigesprochen.
Jana war wie gelähmt, als sie das Urteil vernahm.
Sie gingen aus dem Gerichtsgebäude. Vor ihnen liefen die Eltern der kleinen Annabell. Sie hatten ihre Köpfe gesenkt. Jana holte sie ein und versicherte ihnen: „Ich werde das nicht gelten lassen.“ Edmund Henrich blieb kurz stehen: „Vergessen Sie`s, aber trotzdem vielen Dank.“
Der Kloß in ihrem Hals wurde immer größer, die Verzweiflung dieser Eltern wurde plötzlich zu ihrer eigenen Verzweiflung.
Dann gingen sie in ein Cafe und unterhielten sich über den Fall.
„Das war es schon,“ sagte sie. „Und jetzt gehen alle wieder zur Tagesordnung über, das Mädchen ist tot, die Eltern sind für ihr restliches Leben verzweifelt, und der Minister genießt diesen sonnigen Tag als freier Bürger.“
„Wie sollte wohl der Richter entscheiden, wenn zwei Zeugen unter Eid aussagen, dass der Minister in seinem Büro saß, wenn nur ein Zeuge behauptet, dass er der Fahrer war? Und dieser Zeuge auch noch ein Obdachloser ist?“ erläuterte Oliver.
„Aber er hat ihn gesehen, weißes, kurzes Haar, eine randlose Brille…ob Penner oder nicht, und er hat Teile des Kennzeichens gesehen, und der Computer hat daraufhin kombiniert, dass es Prauns Wagen war,“ sagte Jana.
„ Vorsicht…gehandelt haben könnte! Vielleicht hat den Wagen ein Bekannter gefahren, der so aussieht wie der Minister,“ gab Oliver zu bedenken.
„Das glauben Sie doch selber nicht…“ Jana wurde zornig. Lars schaute sie an: „Jana, bitte!“
„Seltsam ist natürlich, dass man den Zeugen bestechen wollte,“ gab Oliver zu.
„ Na also…“ sagte sie. Oliver setzte seine Kaffeetasse ab. „Klar ist, dass es für die Partei verdammt schlecht aussieht, wenn ihr Parteimitglied und Minister Praun verurteilt werden sollte. In ein paar Wochen stehen die Landtagswahlen an.“
Alle drei schwiegen. Jana stocherte mit dem Löffel in ihrer Kaffeetasse, Oliver umklammerte mit beiden Händen sein Glas, und Lars beobachtete die anderen Gäste im Lokal.
„ Ich komme mit dieser Ungerechtigkeit nicht klar, ich kann sie nicht akzeptieren, ich will sie nicht akzeptieren. Hier ein totes Kind, leidende Eltern und da ein Schuldiger, der nicht bestraft wird.“
Keiner kommentierte sie. Oliver nickte.
„Ich muss etwas unternehmen. Etwas, was die Leute aufrüttelt.“
Oliver beobachtete sie. Sie gefiel ihm. Er spürte ihren Zorn gegen diese unglaubliche, formale Ungerechtigkeit. Und er spürte seinen eigenen Zorn.
Gedanken kreisten in seinem Kopf, auch er kämpfte für diejenigen, die selbst keine Kraft mehr hatten. Er dachte an die Eltern, ihr Leiden und ihre Trauer. Und ihm wurde seine Erkenntnis wieder bewusst: es gibt den inneren großen Zusammenhang. Eins greift ins Andere über. Man ist sich dessen oftmals nicht bewusst, wie die unsichtbaren Fäden unser Schicksal bestimmen. Und deshalb hatte er eine Vorahnung, was Jana betraf.
„Ich kann mir vorstellen, dass eine Tageszeitung ein Interview mit mir macht, und ich den Verdacht äußere, dass im Büro des Politikers etwas oberfaul ist.“
Sie schaute Oliver an.
Oliver nickte. „Nicht schlecht, der Gedanke. Wäre zwar rechtlich gesehen eine Verleumdung, weil wir es nicht beweisen können und der Typ freigesprochen wurde, aber für die Publicity ist es gut.“
„Ich bekäme also eine Anzeige wegen Verleumdung.“
„Sehr wahrscheinlich.“
„ Ist mir egal, wenn es der Gerechtigkeit dient,“ bekräftigte Jana ihr Vorhaben. „Wäre es also machbar? Sie glauben auch, dass es der Minister war?“
Oliver sah ihr in die Augen. „Ich neige dazu. Warum, kann ich nicht sagen, aber vieles spricht dafür.“
„So eine Art Intuition?“
„Ja, würde ich sagen.“
Lars schaute seine Frau misstrauisch an. „Jana… du kriegst gewaltigen Ärger mit der Behörde.“
Irgendwie schien sich etwas zu wiederholen. Ein verdrängter, schrecklicher Gedanke schoss ihr ins Gedächtnis. Es war das Fragment einer Szene. „Als ich zwölf Jahre alt war, verunglückte mein fünfjähriger Bruder tödlich. Er wurde von einem Motorrad überfahren, der Fahrer verschwand spurlos. Es ist, als ob ich ein zweites Mal so was erleben muss. Damals wurde der Fahrer überhaupt nicht erwischt, aber diesmal….“ Ihre Augen wurden feucht.
Lars machte eine Bemerkung, die Oliver im Ton zum Kotzen fand. Ihr Mann sagte lapidar, sie solle diese alten Dinge nicht immer wieder aufwärmen.
Olivers Schweigen war Anteilnahme an ihren Gefühlen.
„Ich kenne jemanden bei der Tageszeitung, der würde sich bereit erklären, ein solches Interview mit Ihnen zu machen,“ sagte er.
Jana schaute ihm in die Augen. „Sie sind auch ein Mensch, der solche gravierende Ungerechtigkeiten nicht ertragen kann, ja?“
Oliver nickte.
Lars schaltete sich wieder ein. „Wäre das nicht die Sache der Eltern? Ihr Kind ist getötet worden.“
„Schau sie dir doch an, Lars, die sind am Boden zerstört, die haben keine Kraft, so was durchzuziehen.“ Sie spürte keine Lust mehr an dieser Unterhaltung, weil Lars wie ein Fremdkörper wirkte. Am liebsten würde sie sich mit Oliver alleine unterhalten.
Sie zahlte und sagte zu Oliver. „Ich rufe Sie an, okay?“
„Meine Nummer haben Sie. Aber warten Sie nicht zu lange, es muss schnellstens gemacht werden.“ Lars warf ihm einen kurzen feindseligen Blick zu.
Jana spürte, dass dieser Anwalt dieselben Gefühle hatte wie sie. Dass er gegen schwerwiegende Ungerechtigkeit war. Und dass er bereit war, etwas dagegen zu tun.
Noch am gleichen Spätnachmittag rief sie ihn an. Dann vereinbarten sie für den vierten November ein Treffen in seiner Wohnung in Frankfurt Sindlingen.
Als Jana erschien, war noch ein anderer Mann da. Er war untersetzt, hatte eine sehnige Statur, graublaue Augen und dunkle, kurze Haare.
„Das ist Alex Riemek. Er arbeitet als Journalist bei der Tageszeitung "Frankfurter Tages Journal". Ich habe ihm gesagt, um was es geht, und er ist einverstanden.“
Alex Riemek gab ihr die Hand, sie zuckte leicht zusammen unter seinem kraftvollen Händedruck.
„ Ich habe auch die Gerichtsverhandlung verfolgt,“ sagte er. „Ich mach jetzt ein Interview mit Ihnen über den Unfall und über den mutmaßlichen Fahrer, über den Zeugen, den alten Mann, und über die Aussagen unter Eid der beiden anderen Zeugen. Ich werde diese Gefälligkeitszeugen Glauburg und Kammer beim Namen nennen.“ Jana nickte. Oliver kam mit einer Kanne Kaffee und einer Kanne Tee ins Wohnzimmer.
Riemek steckte sich eine Zigarette an und trank einen Schluck Tee. „Sie werden sich dahingehend äußern, dass Sie das Gefühl hatten, es handelt sich um verdammte Gefälligkeitsalibis. Ich werde erwähnen, dass sich die Ehefrau des Ministers geweigert hatte auszusagen, ob ihr Mann im Büro oder privat im Mercedes unterwegs war.“
„Haben Sie die Ehefrau wirklich gefragt?“ wunderte sich Jana.
„Ja. Wenn er zu Hause war und privat mit dem Mercedes gefahren ist, dann müsste sie es eigentlich wissen.“
„Nicht unbedingt, aber das spielt jetzt keine Rolle,“ sagte Oliver.
„Warum?“ fragte sie.
„Wir wissen ja nicht, wie die beiden zueinander stehen,“ antwortete er.
„ Ich werde auch versuchen, die beiden Zeugen zu befragen. Wenn sie sich weigern, steht es in der Zeitung. Es ist vollkommen klar, dass im Amt darüber geredet wird und wenn Praun nicht im Büro war, na ja…..“ setzte er fort.
„Es muss besonders hervorgehoben werden, was ich sage. Nach meinem Eindruck waren die Aussagen zu Gunsten des Ministers abgesprochen,“ bemerkte Jana.
„Natürlich. Ich könnte noch erwähnen, dass der Staatsanwalt Herrschinger und der Justizminister Praun in derselben Partei Mitglieder sind…..“ er grinste. „Aber das wäre zu auffällig.“
Ein Tag später erschien im "Frankfurter Tages Journal" auf der ersten Seite ganz unten ein Bericht über den tödlichen Verkehrsunfall und die Gerichtsverhandlung gegen Praun:
Ein 10-jähriges Mädchen wurde am 17. Oktober gegen 12 Uhr 40 in Frankfurt auf der Berliner Strasse auf einem Zebrastreifen von einem heranrasenden weißen Mercedes angefahren und tödlich verletzt.
Auf der Gegenfahrbahn bremste die Fahrerin Jana Johansson (45) vor dem Zebrastreifen, auf dem das Mädchen vor Schreck stehen geblieben war.
Der Fahrer des Mercedes, der Fahrerflucht beging, soll der Hessische Minister der Justiz, Heiner Praun, gewesen sein. Seine Immunität wurde vom Landtag aufgehoben.
Gegen Praun wurde ermittelt und es kam zum Gerichtsprozess.
Praun bestritt alles und behauptete, zu dieser Zeit in seinem Büro im Wiesbadener Landtag gewesen zu sein.
Ein Zeuge hatte sich Teile des Kennzeichens sowie die Automarke und Farbe gemerkt und das Gesicht gesehen. Auf Grund eines Datenbankabgleichs geriet der Justizminister unter Verdacht.
Vor der Verhandlung wurde dieser Zeuge von einem Mann aufgefordert, gegen Zahlung von dreitausend Euro seine Aussage zu widerrufen.
Zwei andere Zeugen jedoch schworen unter Eid, dass ihr Chef zur selben Zeit im Büro war und demzufolge an dem Unfall nicht beteiligt gewesen sein konnte.
Es waren der Privatsekretär des Ministers Glauburg und der Staatssekretär Kammer.
Der Angeklagte Heiner Praun wurde daraufhin freigesprochen.
Die Ehefrau des Ministers wollte nicht sagen, ob ihr Mann zum Zeitpunkt des Unfalls im Büro oder privat mit dem Mercedes unterwegs war. Die beiden Zeugen Kammer und Glauburg waren auch nicht zu einem Interview bereit.
Jana Johansson teilte uns mit, dass sie den starken Verdacht hatte, die beiden Zeugen haben zu Gunsten des Justizministers eine Gefälligkeitsaussage unter Eid gemacht. Jana Johansson sei maßlos enttäuscht darüber, dass seitens des Staatsanwaltes auch bei den Zeugen Kammer und Glauburg nicht tiefer und genauer recherchiert wurde.
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Als die Anzeige von Kammer und Glauburg gegen Jana wegen Verleumdung in ihrem Briefkasten lag, war sie nicht überrascht, aber zornig. Zufällig fiel das Schriftstück Lars in die Hände, der sich am anderen Tag bei einem Anwalt schlau machte. Alleine die Aussicht auf eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder einer Geldstrafe brachte ihn so auf die Palme, dass er einen heftigen Streit mit Jana anzettelte. Die schon brüchige Beziehung bekam einen weiteren Riss.
Sie rief daraufhin Oliver an und teilte es ihm mit. Er tröstete sie und versprach, sie zu vertreten. Außerdem habe sie ja nichts behauptet, sondern nur ihren Eindruck geschildert.
„Ich kann das alles nicht auf mich sitzen lassen,“ sagte sie ruhig und entschlossen am Telefon. „Wir drei sind davon überzeugt, dass der Minister das Mädchen fahrlässig getötet hat. Da gibt es keinen Zweifel, oder?“
„Nein,“ bestätigte Oliver, „der Obdachlose hat sein Gesicht erkannt, sich Teile des Autokennzeichens und den Wagentyp gemerkt. Wahrscheinlich gibt es nicht so viele weiße Mercedeswagen mit diesen Endziffern. Und seine Mitarbeiter haben ihm aus loyalen oder anderen Gründen ein Alibi gegeben.“
„Und der Staatsanwalt hat im Grunde genommen nichts getan, um seinen Freund, den Minister, zu überführen. Weil sie alle beide in ein und derselben Partei sind.“
„Ich schlage vor, dass wir uns bei mir treffen, dann können wir über alles reden,“ sagte Oliver. „Entscheidend für meine jetzige Überzeugung war die Aussage des alten Mannes, dass sie ihn bestechen wollten. Ich bin auch der Meinung, dass wir es nicht einfach hinnehmen sollten.“
Sie vereinbarten den kommenden Mittwoch, Alex wurde auch informiert.
Alex und Jana saßen am Tisch und warteten auf Oliver, der in der Küche war, um Kaffee und Tee zu kochen. Als er serviert hatte, setzte er sich dazu.
„Also, ich denke, wir sind hier, um etwas zu unternehmen. Dein Artikel über Janas Bemerkung hat nicht die erhoffte Resonanz gehabt, wenn wir mal von dieser lächerlichen Anzeige absehen. Ein paar Leserbriefe über diese Sauerei, das war schon alles,“ leitete Oliver die Versammlung ein.
„Könnten die Eltern der Kleinen das Urteil anfechten, wenn es nicht der Staatsanwalt macht?“ fragte sie.
„Der wird es nicht tun, das steht fest. Und die Eltern haben nicht die Kraft, als Nebenkläger Berufung einzulegen; ich habe ihnen eine kostenlose Vertretung angeboten, die sie abgelehnt haben. Und ich bezweifle, dass sie diesen juristischen Leidensweg durchhalten würden.“
„Ich auch,“ sagte Alex, „…wir sollten die Sache in unsere Hände nehmen.“
„Wenn wir…, ich meine, …wenn wir einen der Meineidszeugen mal befragen, ob dessen Aussage wirklich stimmt….“ bemerkte Jana mit der Betonung auf das Verb befragen.
„Wie befragen? Freiwillig wird er uns wohl keine Auskunft geben,“ sagte Oliver.
Alex lachte. „Sie meint, wir sollten ihn zur Brust nehmen, Oliver.“
Jana konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Oliver lächelte zurück. „Hab verstanden.“
„Ich könnte zum Beispiel mal nachprüfen, ob Kammer was auf dem Kerbholz hat,“ schlug Alex vor.
Jana und Oliver nickten. „Also treffen wir uns morgen wieder hier,“ sagte Oliver.
Oliver studierte meistens abends die Fachbroschüren und die juristischen Neuigkeiten.
Er saß gemütlich in seinem Sessel. Die untergehende Sonne warf Schatten seiner am Fenster stehenden Yuka Palme auf die Wand. Eine CD spielte Antonio Vivaldi. Ein Glas Weißwein sorgte für seine innere Ruhe. Er war in Gedanken bei Jana.
In einem Bericht vom gestrigen Tag stutzte er, als er den Namen Reinhard Kammer las. Er schaute sich den Artikel genauer an. Kammer hielt in Berlin vor Juristen einen Vortrag über die Rechtsprechung in der Europäischen Union. Als Oliver das Datum sah, hielt er inne und sein Herz setzte für einen Schlag aus. Er trank einen Schluck Wein, las den Artikel noch einmal und spürte ein inneres Feuer auflodern, das in ein unbeschreibliches Glücksgefühl mündete.
Am nächsten Tag rief er das Hotel „ADAGIO“ an, in dem die Tagung stattfand und erkundigte sich, wann sie damals begann und um wie viel Uhr sie zu Ende war. Der Portier blätterte in einem Terminkalender und teilte mit, dass sie um acht anfingen und um dreizehn Uhr des gleichen Tages beendet war. Oliver bedankte sich.
Wenn das stimmte, musste Kammer vor dreizehn Uhr gesprochen haben und konnte nicht um zwölf Uhr vierzig in Wiesbaden sein. Berlin ist von Wiesbaden zirka 6 Stunden entfernt.
Er rief sofort Jana und Alex an. Innerhalb einer Stunde waren sie bei ihm. Er kochte zwischenzeitlich Kaffee, und als sie eintrafen, deutete er auf die Stühle. „Setzt euch.“
„Ich hab was gefunden,“ eröffnete er.
„Erzähl schon,“ bat Alex und zündete sich eine Zigarette an.
„Kammer war gar nicht in seinem Büro im Ministerium, sondern in Berlin auf einer Juristen Tagung….und ratet mal, wann.“
Jana stutzte. „Sagen Sie es…ich ahne da was!“
„Am siebzehnten Oktober um die Mittagszeit…“
„Nein!“ Sie sprang vom Stuhl auf und lief im Zimmer herum.
„Ja. Da kann er gar nicht bezeugen, dass sein Chef im Ministerium war. Das haut zeitlich und von der Entfernung her nicht hin.“
„Ich hab den Bericht hier.“ Er legte die Fachbroschüre auf den Tisch.
Jana setzte sich wieder und schüttelte den Kopf. “Das ist unglaublich.“
„Dieser Drecksack…“ bemerkte Alex. „Den holen wir uns.“
Dann sah er zu Jana: „Erfüllt sich doch Ihr Wunsch, von wegen befragen…“
„Mein Gebet wurde erhört,“ antwortete sie süffisant.
„Ich werde ihn gleich morgen anrufen,“ schlug Alex vor. Die zwei nickten. „Wir wollen mithören, du musst aber das Gespräch aufzeichnen,“ erinnerte Oliver.
„Mir fällt da was ein. Es wäre doch interessant, mit diesem alten Mann zu reden, der im Gerichtssaal behauptet hat, dass ihn jemand schmieren wollte,“ schlug er vor.
„Stimmt. Die Adresse war doch ein Obdachlosenheim.“
„Obdachlosenheim „Franziskustreff“ in Frankfurt,“ erinnerte sich Jana, „in der Nähe der Kleinmarkthalle.“
„ Ich fahre am besten gleich hin,“ sagte Oliver. „Es wäre besser, wenn ich ihn alleine besuche.“
Oliver betrat das Heim „Franziskustreff“. Man sagte ihm, Very teile mit drei Männern im zweiten Stock ein Zimmer. Oliver klopfte an. Nach dem „Herein“ betrat er den etwa 20 Quadratmeter großen Raum. Zwei Männer lagen auf ihren Betten, Very saß an einem Tisch und schrieb etwas. Oliver entschuldigte sich und fragte, ob er einen Ludwig Very sprechen könne. Der alte Mann musterte ihn. „Ich bin es, und ich kenne Sie. Sie waren damals bei dem Unfall dabei, oder?“ „Ja, aber ich habe leider nichts gesehen.“ Very schraubte seinen Füllfederhalter zu, Oliver staunte.
„ Und im Gerichtssaal waren Sie auch. Was möchten Sie von mir?“
„Man hat Sie im Gerichtssaal beleidigt, Ihre Aussage in den Dreck gezogen, sie bewirkte gar nichts.“
Der alte Mann nickte. Oliver fuhr fort. „Ich bin Rechtsanwalt. Ich möchte den Fall neu aufrollen, weil ich glaube, dass da einige Leute ein paar Leichen im Keller haben. Erzählen Sie mir doch bitte, wie das mit dem Bestechungsversuch vor sich ging.“
„Wenn es Ihnen hilft.“ Er deutete auf einen freien Stuhl, und Oliver nahm Platz. Die anderen zwei setzten sich auf.
„ Ich bekam Besuch von einem Mann, dessen falscher Bart und die gefärbten Haare mir gleich auffielen. Er hieß Johann Liedmann, wenn es sein richtiger Name war, was ich bezweifle. Er lud mich zum Essen ein und bot mir tausend Euro, wenn ich meine Aussage zurücknehme. Ich lehnte ab, er erhöhte auf dreitausend, ich lehnte ebenso ab.“
Die anderen beiden Männer schauten Very an, als habe er nicht mehr alle Tassen im Schrank.
„Das war alles. Aber zwei Tage vor Prozessbeginn wurde ich von drei Schlägertypen hier im Zimmer überfallen. Sie wollten mich heraus schleppen, aber meine Kollegen gingen dazwischen und die drei Typen gaben auf. Ich kann es nicht beweisen, aber da wollte jemand meine Aussage vor Gericht verhindern. Weiß der Teufel, was die Schlägertypen mit mir gemacht hätten.“
Oliver starrte ihn an. Unter den Barthaaren fand er feine Gesichtszüge. Dieser Mann hatte einmal bessere Zeiten gehabt, dachte er. „Der feine Herr Minister wurde freigesprochen, aber nachdem, was Sie eben gesagt haben, bin ich noch mehr überzeugt, dass die alle Dreck am Stecken haben.“
„Auch der Staatsanwalt. Der hat nichts unternommen, Praun zu überführen.“
„Ich weiß.“ Oliver bedankte sich bei ihm und ging.
Am nächsten Tag trafen sie sich wieder. Es war zehn Uhr.
Oliver berichtete, was Very gesagt hatte. Jana lief es kalt den Rücken herunter. Alex schüttelte betroffen den Kopf. „Drecksbande.“
Er hatte die Telefonnummer von Kammer im Ministerium herausgefunden. Dann drückte er auf den Aufnahmeknopf seines Kassettenrecorders und wählte.
„Kammer,“ hörten sie seine etwas belegte Stimme.
„Guten Tag, Herr Kammer. Mein Name ist Alex Riemek. Ich möchte mich gerne mit Ihnen unterhalten. Und ich zeichne das Gespräch auf.“
Der Hörer wurde am anderen Ende kommentarlos aufgelegt.
Alex grinste: „Na warte, mein Freund. So nicht.“ Er wählte neu, wartete. Dann legte er auf. Sekunden später wählte er wieder und wartete. Das Spiel ging so zehn Minuten lang, bis Kammer den Hörer nochmals abhob.
„Es hat keinen Sinn, wenn Sie immer wieder in der Versenkung verschwinden wollen, Herr Kammer. Wenn Sie nicht mit mir reden, komme ich ins Ministerium.“
Die drei hörten ihn atmen.
„Worum geht es?“ In seiner Stimme oszillierte ein leichtes Zittern.
„Um den Prozess gegen Ihren Chef….“
„Presse?“
„Ja.“
„Der Prozess ist abgeschlossen, was soll das?“
„Kann ich am Telefon nicht sagen. Also, können wir uns treffen?“
„Ich habe kein Interesse, mit Ihnen zu sprechen. Auf Wiederhören….“
„Haben Sie einen Zwillingsbruder?“ sagte Alex schnell, bevor Kammer aufgelegt hatte.
Am anderen Ende war es plötzlich ganz still.
„Wie meinen Sie das?“
„Nicht am Telefon, Herr Kammer.“
Es schien, als ob er nicht mehr in der Leitung wäre.
„Sind Sie noch dran?“ fragte Alex.
Es dauerte abermals viele Sekunden, bis Kammer reagierte.
„Wann und wo?“ fragte der Justizstaatssekretär.
Heute Nachmittag um fünf. Es gibt bei Ihnen um die Ecke ein Cafe, den "ALTEN RICHTER". Reservieren Sie vier Plätze.“
„Warum vier?“
„Das erfahren Sie dann.“
Alex legte auf. „Den haben wir. Alleine die Tatsache, dass er kommt, spricht doch Bände…“
„Deine Bemerkung vom Zwillingsbruder war es. Da muss bei ihm was geklingelt haben.“
Jana übernahm jetzt eine Art Lagebesprechung. „Wir wussten im Grunde genommen zunächst nicht genau, ob es Praun war. Wir haben nichts gesehen. Nur ein weißer Mercedes, der das Kind umgefahren hat und abgehauen ist.
Dann hören wir einen Zeugen, der sich Teile des Nummernschilds, den Fahrzeugtyp und das Gesicht des Fahrers gemerkt hat; und es sich später herausstellte, dass es der Wagen des Justizministers sein könnte.
Nun haben wir was Greifbares.
Und jetzt beginnt das Vabanque Spiel der Gegner. Versetzen wir uns in die Lage des Fahrers. Er weiß, dass er schuldig ist. Das sitzt in seinem Kopf so fest wie Granit. Aber er will nicht dafür büßen, weil er viel zu verlieren hat.
Ergo muss er zwei Zeugen gegen einen Zeugen auffahren, damit der Richter einen Grund zum Freispruch hat. In dubio pro reo. Er hat zwei Freunde im Amt, die ihm ein Alibi geben.
Zunächst versuchen sie, den Zeugen zu bestechen, weil der vor Gericht zu Lasten des Ministers aussagen wird; wie er es auch Oliver geschildert hat. Jetzt haben wir einen besseren Grund, dem Zeugen zu glauben.
Dann wollen sie den Zeugen verschleppen, was aber nicht gelingt.
Wir müssen uns vor Augen halten, was das bedeutet. Wenn es ihnen gelungen wäre, den alten Mann in ihre Gewalt zu kriegen, dann hätten sie ihn wahrscheinlich so sehr misshandelt, dass er keine Aussage mehr machen kann. Das sind kriminelle Methoden, das dürfen wir nicht unterschätzen.
Wir sehen das Gesicht des Ministers im Gerichtssaal und aus dem Zeitungs-Archiv: kurzes, weißes Haar, Brille.
Schließlich konnten wir das Alibi von Kammer zunichte machen. Und jetzt gibt es für uns keinen Zweifel mehr.“
„Du hättest Anwalt werden sollen,“ lachte Oliver. Und wurde sich bewusst, dass er sie eben geduzt hatte. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und ließ ein schwaches Lächeln erkennen.
„Wir wissen nicht, was herauskommt, wenn es zu einem Wiederaufnahmeverfahren käme. Wir wollen aber aufs Ganze gehen. Deshalb müssen wir psychologisch taktieren. Prauns Schuld sitzt tief in seinem Kopf, und er ist Choleriker, wie allgemein bekannt ist. Das sind die beiden wichtigsten Ansatzpunkte. Wir müssen also vor allen Dingen mit Praun sprechen.“
Sie trank einen Schluck Kaffee.
„Ich hab von meinen Großeltern ein Gehöft im Main Kinzig Kreis zwischen Nidderau und Hammersbach geerbt, das schon lange brach liegt. Wir könnten Kammer dort unterbringen.“
„Du meinst, wir sollten ihn dort mal in die Mangel nehmen?“ fragte Alex halb erstaunt und halb süffisant. Jana nickte. Oliver grinste sie an. „Ganz schön radikal, diese Lady hier…“
„Jetzt erst mal nach Wiesbaden. Aber behalten wir dein Gehöft im Auge.“
Gegen halb vier fuhren die drei nach Wiesbaden, die Fahrt dauerte anderthalb Stunden, weil der Berufsverkehr eingesetzt hatte. Während der Fahrt kam Jana der Gedanke, dass sie seit dem Unfall wieder etwas Wesentliches spürte, nämlich das tief verwurzelte Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Und diese beiden Männer dachten ebenso, denn beide traten in Aktion, wenn es darum ging, Unrecht aufzudecken. Der entscheidende Punkt war, dass sie persönlich nicht betroffen waren, dass sie es für andere taten, die sich nicht wehren konnten.
Sie trafen zehn Minuten vor fünf im Cafe ein und fragten nach dem reservierten Tisch.
Das Cafe war ein Altbau, es strahlte die Gemütlichkeit eines Wiener Cafehauses aus. Die Bedienung, ein junges Mädchen, führte sie an einen Ecktisch. Oliver und Jana bestellten Kaffee, Alex einen Tee. Oliver nahm ein Sandwich dazu, er hatte Hunger.
Punkt fünf Uhr betrat Kammer das Cafe. Er nickte, als er Jana sah, weil er sie wiedererkannte. Dann hing er seinen Mantel an den Gardarobenhaken. Er begrüßte die drei höflich, aber zurückhaltend per Handschlag und nahm Platz.
Kammer war blond, einen Meter achtzig groß und schlank, mochte etwa vierzig Jahre alt sein. Er hatte feine Gesichtszüge und schmale, kleine Augen. Er trug einen dunklen Anzug, blaues Hemd mit Krawatte.
„Sie waren doch am Unfall beteiligt….,“ bemerkte er. Jana schüttelte den Kopf. „Indirekt, aber das wissen Sie ja ganz genau.“
„Nein, ich weiß es nicht. Unser Anwalt hatte Sie ja in Verdacht…..“
Alex fuhr ihm barsch ins Wort. „Herr Kammer, Schluss damit. Sie sind nicht in der Position, haltlose Verdächtigungen gegen Frau Johansson auszusprechen. Kommen wir gleich zur Sache.“
Kammer warf ihm einen giftigen Blick zu. „Das müssen Sie mir erklären, dass ich nicht in der Position bin.“
Die Bedienung kam, und Kammer bestellte ein Bier.
„Sie haben unter Eid ausgesagt, dass der Justizminister am siebzehnten Oktober um zwölf Uhr vierzig in seinem Büro gewesen war und so den tödlichen Unfall mit Fahrerflucht nicht begangen haben konnte. Ist das richtig?“
Kammer nickte. „Fahren Sie fort, Herr Riemek.“
„Wie können Sie das behaupten, obwohl Sie gar nicht im Amt waren?“
„Fahren Sie fort, Herr Riemek,“ sagte er nach einer Sekunde Überlegung, aber um eine Nuance unsicherer.
„Beantworten Sie meine Frage.“
Die Bedienung kam und stellte das Glas Bier hin. Kammer ignorierte das Mädchen.
„Ich war an diesem Tag im Amt.“
„ Möglich, aber nicht um die maßgebliche Uhrzeit.“ Oliver übernahm, nachdem er sich die Finger mit einer Serviette abwischte.
„Wie können Sie das behaupten?“ Das Glas Bier stand vor dem Staatssekretär. Als er es in die Hand nahm und einen Schluck trank, konnte er das leichte Zittern nicht verbergen.
„Warum habe ich Sie wohl gefragt, ob Sie einen Zwillingsbruder haben?“ intervenierte Alex, und Kammer drehte seinen Kopf nach rechts und sah ihn mit einer belämmerten Miene an.
„Sie waren um diese Uhrzeit in Berlin im "ADAGIO" Hotel auf einer juristischen Tagung und hielten einen Vortrag. Diese Tagung endete um dreizehn Uhr. Muss ich mehr sagen?“ fuhr Oliver fort.
Dann wurde der Staatssekretär sehr still und wechselte die Gesichtsfarbe, seine Hände umfassten krampfhaft das Bierglas, er starrte aus dem Fenster. Draußen fiel Schnee. Oliver betrachtete seine Gesichtszüge, dann legte er demonstrativ die Fachbroschüre vor ihm auf den Tisch. Kammer bewegte seinen Kopf nicht.
„Sie haben einen Meineid geschworen, Herr Justizstaatssekretär,“ sagte Oliver in einem scharfen Ton. Seine Muskeln spannten sich, und Alex drückte ihm sanft den Arm.
Kammer zuckte zusammen und schaute sich im Cafe um, aber es waren weit hinten nur einzelne Tische besetzt. Er spürte, wie sich etwas Schlimmes zusammenbraute.
„Geben Sie mir Bedenkzeit, bitte….“ sagte er leise und schaute Oliver mit einem Hundeblick an. Der schüttelte seinen Kopf. „Wir entscheiden jetzt und hier. Und geben Sie mir ihre Wanze, oder wir zeigen Sie sofort an und erwirken einen neuen Prozess gegen Sie und Ihren Chef.“
Kammer wurde weiß im Gesicht.
Dann schaute er Alex und Jana kurz an. Er saß in der Falle und hatte keine Zeit zu irgendwelchen Spielchen. Die Bedienung kam und fragte, ob die Herrschaften noch etwas zu trinken wollten. Alex bestellte noch einen Tee, Oliver und Jana noch einen Kaffee, Kammer schüttelte den Kopf.
„Was verlangen Sie?“ fragte er leise.
„Zuerst die Wanze, dann reden wir weiter,“ wiederholte Oliver schroff und winkte mit dem Zeigefinger.
Kammer bekam einen hochroten Kopf und öffnete langsam die beiden obersten Knöpfe seines Hemdes. Dann holte er die Wanze heraus und legte sie langsam auf den Tisch.
„Schief gelaufen, das alles, oder? Wie kann man denn so dämlich sein, seinen eigenen Terminkalender nicht gefragt zu haben, als Ihr Chef Sie um das Alibi bat, oder anflehte.“
Der Justizstaatssekretär reagierte nicht. Schnell wurde ihm bewusst, dass er in einer gefährlichen Situation war. Meineid kann Gefängnis bedeuten. Seine Karriere wäre passé. Sein Ruf kaputt. Sein Freund, der Justizminister würde neu angeklagt, und auch dessen Reputation wäre dahin. Er begann vor Angst zu schwitzen, wurde blass im Gesicht, zitterte noch mehr unter den gnadenlosen Augen dieser drei. Er holte eine Packung Zigaretten aus der Jackentasche und steckte sich eine an.
„Was… wollen Sie?“ fragte er wieder mit leiser Stimme und blies den Rauch aus.
„Ob Sie es als Justizstaatssekretär glauben oder nicht,“ sagte Oliver in einem hämischen Ton, „wir wollen nichts weiter als Gerechtigkeit.“
Kammer rauchte nervös, holte ein Taschentuch aus der Hose und wischte sich die Schweißperlen ab, behielt das Taschentuch in der Hand.
„Und was wäre Gerechtigkeit?“ fragte er vorsichtig.
„Sie und Ihr sauberer Justizminister und Ihr Kollege gehören in den Knast. Das wäre gerecht.“
Kammer inhalierte hastig, zerquetschte den Zigarettenstummel im Aschenbecher und steckte sich eine neue an. „Wem dient das alles? Für wen arbeiten Sie?“ reagierte er in einem verzweifelten Ton.
„Zwei Fragen, zwei Antworten. Es dient der Gerechtigkeit. Und die Antwort auf die zweite Frage ist, dass in Ihren Vorstellungen als Justizstaatssekretär scheinbar kein Platz für die erste Antwort zu existieren scheint. Es ist eine Schande, sich nicht vorstellen zu können, dass "Bürgerinnen und Bürger" einen Gerechtigkeitssinn haben. Sonst hätten Sie diese unverschämte Frage nicht gestellt.“
„Kann ich wenigstens mit Praun sprechen?“
Oliver antwortete, sie würden alle in Prauns Villa fahren und könnten dort weiter verhandeln. Das Cafe würde bald schließen, und die Nacht würde sehr lang werden.
„In seine Villa? In die Wohnung des Justizministers? Jetzt sofort?“
„Ja. Rufen Sie ihn an, dass wir unterwegs sind.“
Kammer erschrak. Aber letztendlich hatte er keine andere Wahl. Zu viel stand auf dem Spiel. Und Praun würde vielleicht mit seiner Autorität den Karren aus dem Dreck ziehen. Vielleicht.
Er holte sein Handy aus der Jackentasche und wählte eine Nummer. Während er wartete, schaute er zu Boden. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Minister abnahm. Hastig zog er an seiner Zigarette.
„Hier ist Reinhard. Du musst nachher zu Hause sein….nein…ich kann jetzt nichts sagen, in einer halben Stunde komme ich mit drei Leuten.. …ja, es ist was passiert…sei bitte auf jeden Fall zu Hause….“ Er drückte den Zigarettenstummel im Aschenbecher aus.
Dann wählte er neu. „Warte nicht auf mich, Waltraut, es wird spät werden….ja, ich liebe dich auch….“
Nachdem bezahlt wurde, stiegen sie alle in Alex` Wagen. Kammer saß auf dem Rücksitz und schaute aus dem Fenster. Draußen war es dunkel geworden. Während der Fahrt dirigierte er sie zu Prauns Wohnung. Dann wagte er einen neuen Versuch. „Mit Geld kann man das kleine Mädchen nicht wieder lebendig machen, das weiß ich, aber mit Geld kann man armen und hilfsbedürftigen Menschen helfen. Und der Familie der Kleinen.“
Jana, die neben ihm saß, reagierte. „ Ein Kind tödlich überfahren, Fahrerflucht begehen, Bestechungsversuch eines Zeugen, vielleicht noch Mordversuch, einen Meineid schwören, und jetzt noch der Bestechungsversuch bei uns. Was sagen denn die Juristen zum Strafmaß für diese Ansammlung von Vergehen?“
„Was heißt hier Mordversuch?“ fuhr er sie an.
„ Wir meinen den Überfall auf den alten Mann zwei Tage vor der Verhandlung. Er sollte mundtot gemacht werden,“ schnauzte Oliver und drehte sich um.
Jetzt wagte Kammer keine Widerworte mehr, jetzt wusste er, dass die drei genau recherchiert hatten und dass es sehr eng werden wird.
Im Ministerium hatte Glauburg noch mitgehört, wie Kammers Alibi geplatzt war und dass er die Wanze abliefern musste. Aber er sollte auf keinen Fall reagieren und sich bei Kammer melden.
Glauburg wusste, dass Praun nicht im Hause war, er selbst saß ja in seinem Büro.
Klar, Praun war bei einer Lady. Aber keiner von ihnen wollte daran denken, dass ihr Chef das Kind überfahren hat und dann abgehauen ist. Denn dann wären ihre Alibis sehr schwer zu ertragen.
Glauburg verdrängte immer wieder seinen furchtbaren Verdacht, dass Praun bereits früher von der Lady weggefahren ist und um zwölf Uhr vierzig das Kind überfahren hat; und dann erst um fünfzehn Uhr im Ministerium erschien.
Als dieser Journalist am Telefon das Stichwort „Zwillingsbruder“ sagte, lief es dem Staatssekretär kalt und heiß den Rücken herunter. Glauburg sollte also mitkriegen, was die drei vorhatten; und das konnte er nur, wenn er verwanzt war und mithören konnte.
Nach dem damaligen Gespräch, in dem Praun von ihnen gefordert hatte, ihm das Alibi zu geben, waren sie sich im Klaren darüber, dass sie sich nicht verweigern konnten. Ihre ganze Existenz war von Praun abhängig. Er brauchte zwei Zeugen gegen die Aussage dieses Penners.
Er hatte in dem Moment nicht an Berlin gedacht. Er rechnete mit dem Freispruch und der Vergessenheit der Menschen.
Als sie in Prauns Villa in Kronberg ankamen, war es zwanzig Uhr. Der weiße Mercedes stand in der Garage, deren Tor offen war.
Der Minister stand im hell erleuchteten Entree, die Büsche und Bäume waren mit Schnee bedeckt und schwankten leicht unter der Last.
Er hatte einen zornigen und fragenden Gesichtsausdruck. Er begrüßte Kammer mit einem Händedruck und klopfte ihm auf die Schulter. Die drei empfing er mit einem griesgrämigen „Kommen Sie herein.“
Praun war mittelgroß, hatte weiße, kurzgeschnittene Haare. Er trug eine helle Bundfaltenhose und ein dunkelbraunes Hemd darüber.
Als sie in seinem Arbeitszimmer waren, das zugleich als Bibliothek diente, musterte er Jana. „Ich kenne Sie…von der Verhandlung…Sie sind doch Frau Johansson?“
„Ja, und das sind Alex Riemek und Oliver Pomerenke. Alex ist Journalist, Oliver Rechtsanwalt. Dürfen wir uns setzen?“
„Bitte.“ Er deutete auf eine dunkelgrüne Sitzgruppe aus Leder neben dem Kamin. Er selbst nahm neben Kammer Platz. Symbolische Fronten.
„Was wollen Sie?“ fragte er in einem aggressiven Ton. Vom oberen Stockwerk hörten sie Stimmen. Jana betrachtete die exklusive Ausstattung des Arbeitszimmers.
„Zunächst soll ich Ihnen Grüße ausrichten von den Eltern der kleinen Annabell Henrich,“ sagte Oliver laut.
Es herrschte für ein paar Sekunden Stille, dann fragte Praun: „Wer ist Annabell Henrich?“
„Das zehnjährige Mädchen, das am siebzehnten Oktober totgefahren wurde von einem Mercedesfahrer mit Bad Homburger Kennzeichen.“
Die Augen des Ministers wurden schmal. Dann stand er auf.
„Was soll das?“
Oliver stand ebenfalls wieder auf.
„Wo waren Sie am siebzehnten Oktober um zwölf Uhr vierzig?“ brüllte er ihn an.
Praun erstarrte, war es nicht gewohnt, dass man ihn anschrie.
„Im Büro,“ rief er spontan, bevor ihm einfiel, dass er wie in einem Verhör reagierte.
„Wir glauben Ihnen kein Wort,“ brüllte Oliver weiter.
Praun machte einen Schritt auf Oliver zu, Alex sprang schnell aus dem Sessel.
Kammer wurde weiß im Gesicht.
„Verschwinden Sie, sofort!“
„Sie haben in dem Mercedes gesessen, und das kleine Mädchen auf dem Zebrastreifen totgefahren, weil Sie wie ein Irrer gerast sind.“
„Eine Unverschämtheit…“
Als Praun sich wieder setzte, nahmen Oliver und Alex ebenfalls wieder Platz.
Praun zitterte. „Wer gibt Ihnen das Recht, hier her zu kommen und so etwas zu behaupten? Ich bin freigesprochen worden.“
„Sie werden verstehen, dass wir auf das Attribut "Minister" verzichten, Herr Praun, denn nach unserer Auffassung haben Sie es nicht mehr verdient……“ bemerkte Alex.
Praun sprang erneut auf und brüllte ihn an: „Was fällt Ihnen ein, mich so zu beleidigen?“
Olivers Muskel spannten sich, Alex blieb ruhig sitzen und fuhr fort: „ …denn wir fragen uns, warum Sie es nötig hatten, zwei getürkte Alibis dem Gericht zu präsentieren.“
Praun wurde vor Zorn rot im Gesicht, kehrte den Choleriker raus, für den er bekannt war.
„…wenn Sie doch verdammt noch mal so unschuldig am Tod des Kindes sind.“
Im oberen Stockwerk verstummten plötzlich die Stimmen.
„Ich habe mit dem Unfall nichts zu tun. Ich war in meinem Büro. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren!“ Der Minister stemmte demonstrativ die Hände in die Hüften.
„Das war keine Antwort auf Alex` Frage.“
„Die Alibis waren nicht getürkt. Warum auch? Mein Justizstaatssekretär Kammer und Herr Glauburg waren im Ministerium in meinem Büro. Wir hatten eine Besprechung.“
Alex schaute demonstrativ auf Kammer: „Los, sagen Sie es ihm.“
Kammer hob seinen Kopf und blickte seinen Chef an. Und schwieg. Praun wartete.
„Los, Herr Kammer, machen Sie den Mund auf,“ befahl ihm Alex.
Im Raum herrschte eine angespannte Stille. Der Minister stand immer noch und schaute seinen Sekretär fragend an.
„Sie haben… sie haben rausgekriegt, dass ich …in Berlin war….“ antwortete er kleinlaut.
Praun biss die Zähne aufeinander, dass es knirschte. Dann bewegte er die Lippen zu einem eindeutigen Ausdruck und nahm langsam wieder Platz.
„Ihr Zeuge Kammer hat einen Meineid geschworen, Herr Praun,“ setzte Oliver noch einen drauf.
Die Sekunden zogen sich in die Länge, bis Praun in einem gemäßigten Ton sagte: „Dann hat er sich im Datum geirrt, dann war er eben am achtzehnten oder neunzehnten Oktober in Berlin.“ Er schien sich äußerlich ein wenig beruhigt zu haben.
„Natürlich.“ Oliver warf die Fachzeitschrift auf den Tisch, und Praun nahm sie und überflog sie.
„Genauso wie sich der Zeuge Very mit seinen Beobachtungen geirrt hat,“ konterte Oliver.
„Siebzehnter Oktober, Hotel ADAGIO in Berlin,“ bemerkte Jana.
„Und warum haben Sie den Zeugen bestechen wollen?“ setzte Oliver das Verhör fort, ohne eine Reaktion von Praun abzuwarten. Er sah, wie Praun schluckte.
„Was kann ich dafür, wenn ein versoffener Penner so einen Mist erzählt? Keiner hat ihn bestechen wollen, keiner, es gab keinen Grund, ihn zu bestechen.“ Praun legte die Zeitschrift zurück, und es entstand der Eindruck, dass er froh war, den Alibivorwurf nicht noch mehr kommentieren zu müssen.
„Und warum haben Sie diesen Zeugen von drei Schlägertypen verschleppen lassen wollen?“
„Was soll nun wieder dieser Blödsinn? Keiner wollte den Penner verschleppen. Und jetzt hören Sie mit den verdammten haltlosen Vorwürfen auf.“
Praun war so erregt, dass er am ganzen Leib zitterte und wieder einen roten Kopf bekam.
Er wechselt die Farben wie ein Chamäleon, dachte Jana in dem Moment.
„Wir wollen eines klarstellen. Wir sind überzeugt, Ihr hättet den Zeugen so lange behandelt, dass er keine Aussage mehr machen kann.“
Der Minister sagte nichts.
„Und weshalb hat Herr Kammer uns auf der Fahrt Geld anbieten wollen?“
„Das hat er bestimmt nicht getan.“ Irgendwie schien der Minister noch immer nicht in der Realität angekommen zu sein, war Alex` Eindruck. Oder er versuchte sinnlos zu pokern.
Kammer wurde immer kleiner in seinem Sessel.
„So? <Mit Geld kann man das kleine Mädchen nicht wieder lebendig machen, das weiß ich, aber mit Geld kann man armen und hilfsbedürftigen Menschen helfen. Und der Familie der Kleinen> waren seine Worte.“
Praun schaute seinen Freund an, Kammer nickte unauffällig, Praun kratzte sich am Hinterkopf.
„Wie können Sie sich noch im Spiegel anschauen?,“ rief Jana dazwischen.
Der Minister warf ihr einen gefährlich gehetzten Blick zu.
Niemand bemerkte die Gestalt, die leise und langsam von oben die Treppen herunterkam.
Oliver spürte, dass sich der Minister jetzt in einer Phase höchster Erregung befand. Plötzlich stand er auf, stellte sich vor Praun hin und schrie ihn an: „Seien Sie froh, dass Sie nicht noch den anderen kleinen Jungen auf dem Zebrastreifen totgefahren haben, Sie verdammter Idiot!“
Praun sprang vor Schreck wieder auf, jetzt standen sie sich erneut gegenüber, und Praun schrie Oliver an: „Was reden Sie da für einen Scheißdreck, ich weiß, da war kein anderer Junge, nur das kleine Mäd...“
Es hatte funktioniert. Es dauerte einen sehr langen Moment, bis Praun begriff, was er eben in seinem cholerischen Zorn zugegeben hatte. Wie zur Salzsäule erstarrt stand er da.
Kammer starrte ihn mit offenem Mund an.
Oliver nickte nur: „Na also. Warum nicht gleich?“
Er griff in die Innentasche seiner Jacke und holte das kleine Tonband heraus und stoppte es ab.
Praun ließ sich langsam wieder neben Kammer nieder und schaute zur Decke, als ob da die Lösung stand.
„Scheiß Gerechtigkeit, was?“ bemerkte Alex sarkastisch.
„Oh Scheiße….“ flüsterte Kammer leichenblass, …“oh verdammte Scheiße…oh Gott!“ Plötzlich war er sich der ganzen Tragweite seines Meineides bewusst.
Praun stand wieder auf, ging zu einem Wandschrank, öffnete ihn und holte eine Flasche Cognac heraus. Dann dreht er sich um: „Darf ich Ihnen auch einen Cognac anbieten?“
Oliver, Jana und Alex verneinten, Kammer nickte.
„Darf ich?“ fragte er und holte eine Zigarettenschachtel heraus, Praun sagte „ja“ und wandte sich an die drei: „was darf ich Ihnen zu trinken anbieten?“
„Ein Glas Wasser bitte,“ sagte Alex. Als er sah, dass sich Kammer eine Zigarette ansteckte, holte auch er seine Packung heraus. Gleiches Recht für alle.
Oliver setzte sich wieder.
Praun goss zwei Gläser Cognac ein, gab Kammer eins, stellte seins auf den Schreibtisch und verließ sein Arbeitszimmer.
Kammer wagte nicht, den dreien in die Augen zu sehen. Sie hörten die Geräusche von der Küche, wie eine Wasserflasche geöffnet wird. Dann kam er mit drei Gläsern zurück und gab sie ihnen. Er setzte sich abseits von Kammer in einen Sessel und nahm einen großen Schluck Cognac. Dann umfasste er den Cognacschwenker mit beiden Händen.
„Warum treten Sie als Moralapostel auf?“ fragte er leise und hob den Kopf an.
„Sind wir das?“ fragte Oliver. „Ein kleines Mädchen ist durch Sie getötet worden, das das ganze Leben noch vor sich hatte, seine Familie leidet unter einem unsäglichen Schmerz.
Sie selber haben eine Tochter. Stellen Sie sich vor, jemand hätte sie überfahren und wäre abgehauen. Sie hätten Himmel und Hölle bewegt, um den Mistkerl zu kriegen, oder?“
Praun stierte auf den Boden.
„ Wenn wir der Sache nicht nachgegangen wären,“ sagte Jana, „ hätte niemand mehr nach der Schuld gefragt. Warum gerade wir als Moralapostel auftreten, haben Sie gefragt. Nun, die Eltern der Kleinen sind auch mental nicht in der Lage. Sie haben nicht nur das Kind getötet, sondern auch die Seele der Familie schwer geschädigt. Diese Familie ist kein Gegner für Sie, aber wir sind es.“
Praun blickte in sein Cognacglas. Kammer rauchte Kette, sein ganzer Körper bebte.
„Wir wissen, dass Politiker keine Vorbildfunktion ausüben, im Gegenteil. Auf der Beliebtheits- und Vertrauensskala stehen sie ganz unten. Deswegen trauern wir nicht unbedingt, wenn der eine oder andere von der Bildfläche verschwindet. Und zwar so schnell wie möglich.“
Praun schaute auf. Er sah alt aus. Er atmete schwer. Er hatte scheinbar den Wink mit dem Zaunpfahl kapiert.
„Letztendlich ist Ihr Tonband gerichtlich nicht verwertbar, das wissen Sie als Anwalt.“ Ein jämmerlicher Versuch, doch noch die Kurve zu kriegen. Dann stand er auf und ging im Zimmer hin und her, das Cognacglas in der Hand.
Oliver schüttelte den Kopf.
„Du wirst zurücktreten, Heiner, das garantiere ich dir.“
Alle drehten sich zum Treppenabsatz um, dort stand seine Frau. Sie hatte ein Schriftstück in der Hand und gab es ihm. Zu Oliver gewandt sagte sie: „Das Unglück geschah um zwölf Uhr vierzig auf der Berliner Strasse, um zwölf Uhr fünfunddreißig wurde er auf der Berliner Strasse geblitzt, weil er die Geschwindigkeit um dreiundvierzig Kilometer in der Stunde überschritten hatte, fünf Minuten und ein paar hundert Meter, bevor er auf den Zebrastreifen zuraste.“
Praun blieb abrupt stehen und stierte seine Frau an. Er las die Anzeige und setzte sich wieder.
„Was jetzt?“ flüsterte er und schaute Oliver fast flehend an.
„Sie treten zurück.“
Der Minister sagte nichts, Kammer blickte zu seinem Chef. Auch der Staatssekretär sah jetzt sehr alt aus.
„Und bekennen sich schuldig….“ setzte Alex fort.
Es herrschte eine bedrückende Atmosphäre in seinem Arbeitszimmer. Praun saß vorn übergebeugt in seinem Sessel, immer noch das Glas in der Hand. Dann trank er es mit einem Zug aus. Allmählich mussten sich alle Fakten zu einer grausamen Vorstellung zusammenfügen.
Plötzlich sprang er auf. „Wie können Sie mein Leben so kaputtmachen,“ schrie er mit einer entsetzlich kehligen Stimme.
Alle zuckten zusammen, nur seine Frau nicht. Sie sah ihn mit einer eiskalten Miene an.
„Wie können Sie mein Leben so kaputtmachen,“ wiederholt er sich, jetzt aber mit einer leisen, flehenden Stimme und setzte sich wieder.
„Wir haben alle Informationen und Erkenntnisse bei einem Notar hinterlegt. Sollte uns was passieren, vielleicht eine Verschleppung, wie die des Zeugen Very, oder gar ein Unfall mit Todesfolge, der nicht aufzuklären ist, dann hat der Notar die Anweisung, die Unterlagen an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten,“ sagte Oliver seelenruhig.
„Gibt es denn keine verfluchte Möglichkeit, die Sache so zu Ende zu bringen, dass …dass… verflucht, es macht das Kind nicht mehr lebendig.“
Keiner sagte etwas.
„Wir zahlen der Familie hunderttausend Euro und Sie haben Ihre verdammte Gerechtigkeit, so müsste es doch gehen….“ Seine Stimme war eine Mischung aus Hoffnung und Hoffnungslosigkeit am Rande des Abgrundes.
„Sie dürfen ruhig zahlen, aber Sie treten zurück und bekennen sich schuldig,“ forderte Jana.
„Im Übrigen sind wir der Meinung, dass Gerechtigkeit nicht käuflich ist.“
Praun warf Jana einen sehr gehässigen und vielsagenden Blick zu. Dann murmelte er: „So?“
Dann schrie er: „Mein Gott, was soll aus meiner Familie werden? Ich habe eine Tochter!“
„Die Familie Henrich hatte eine Tochter.“
„Ich hab es ja nicht mit Absicht getan….!“
„Über das Maß der Schuld soll das Gericht entscheiden.“
Praun starrte zu Boden. Dann stellte er das leere Glas auf den Tisch, stand auf und ging.
Jana, Oliver, Alex und seine Frau schauten ihm nach, Kammer schien in Gedanken versunken.
„Wo gehen Sie hin?“ fragte Oliver. Praun gab keine Antwort, dann hörten sie seine Schritte im Flur, dann fiel eine Türe zu.
Seine Frau schaute plötzlich Oliver aus aufgerissenen Augen an: „Der wird doch nicht….“
Sekunden später krachte ein Schuss.
Sie schrie auf und rannte auf den Flur. Oliver und Alex liefen hinterher. Jana blieb sitzen, sie konnte keine Leichen sehen. Aber ihr war kotzübel, und sie suchte eine Toilette auf und übergab sich.
Kammer war auch aufgesprungen.
„Da soll mal einer sagen, es gäbe keine Gerechtigkeit auf der Welt“ bemerkte Alex sarkastisch, als er Praun mit aufgeplatztem Schädel auf dem Boden liegen sah.
Zwei Tage später meldete die Presse, Justizminister Heiner Praun habe Selbstmord begangen. Wie aus seiner Familie bekannt wurde, litt er unter schweren Depressionen.
Aber die Wahrheit sickerte durch; und es dauerte nicht lange, da trat die Presse in Aktion und bescherte der Bevölkerung ihre Skandalgeschichte. Ob Kammer oder Glauburg geredet hatten, kam nie heraus. Auf jeden Fall arbeiteten sie nach der Verurteilung wegen Meineides, sie bekamen ein Jahr mit Bewährung, in der Postabteilung des Ministeriums.
*
Jana war tief bestürzt. „Ich komm nicht darüber hinweg, dass der Kerl sich erschossen hat,“ sagte sie, als sie sich einen Tag später wieder bei Oliver in seiner Wohnung trafen.
Lars hatte ihr schwere Vorwürfe gemacht, dass durch ihr Handeln ein Mensch zu Tode gekommen ist. Sie war außer sich vor Zorn. Ihre Gefühle liefen Amok, weil sie sich Trost und Verständnis erhofft hatte und stattdessen Ablehnung und Verurteilung von ihrem Mann erfuhr.
„Schuldgefühle?“ fragte Oliver. Sie nickte. „Schuldgefühle, dass sich ein Mensch unseretwegen umgebracht hat.“
Oliver hatte Kaffee und Tee gekocht. Er setzte sich neben Jana und legte eine Hand um ihre Schulter. Sie zuckte leicht zusammen, hatte so eine intime Geste nicht erwartet, empfand es jedoch als sehr angenehm. „Das ist normal. Du musst sie verarbeiten, musst dir bewusst machen, dass ein Gegengefühl vorhanden ist, nämlich das der Gerechtigkeit.“
Sie drehte ihren Kopf herum und schaute ihm in die Augen. Auch das „du“ kam unerwartet, aber letztendlich wurde sie dadurch bestätigt, dass alle drei dasselbe empfanden und dafür gekämpft haben.
„Das sagst du so leicht,“ flüsterte sie. Oliver konnte nicht wissen, dass sie mit einer Menge Schuldgefühle zu kämpfen hatte, die mit dem damaligen Erlebnis zusammenhingen. Ihre Eltern gaben ihr die Schuld am Tod ihres kleinen Bruders, der von einem Motorrad überfahren wurde, weil sie einen Moment unaufmerksam gewesen war, und er sich von ihrer Hand losgerissen hatte.
„Das Gegengefühl wäre, an die Kleine und an ihre Familie zu denken, wie es denen erging. Damit bleibst du in einer gewissen seelischen Waage.“ Er hat Recht, dachte sie.
„Andererseits, wenn wir das nicht gemacht hätten, wäre der Kerl ungeschoren davon gekommen. Überleg mal, welche kriminelle Energie er aufwenden musste, um sein Ziel zu erreichen.“
Seine Hand fühlte sich warm an. Sie nickte und spürte in diesen kurzen Momenten ein behagliches Gefühl.
Dann beugte sie sich nach vorne, um die Tasse Kaffee in die Hand zu nehmen, und seine Hand verlies ihre Schulter. Auch er beugte sich vor und nahm seine Tasse und trank einen Schluck.
„Wir konnten ja nicht ahnen, dass er sich umbringt,“ meinte Oliver und stellte die Tasse wieder ab. Der kurze Augenblick der Intimität war vorbei und jetzt nicht wiederholbar.
„Ich weiß nicht, aber als er plötzlich aufsprang und vor Verzweiflung fast heulte, hatte ich blitzschnell eine Ahnung, dass was Schlimmes passieren wird…“ sagte sie.
In dem Moment klingelte es und Oliver stand auf. „Das wird Alex sein,“ sagte er und ging zur Türe.
Alex erschien im Wohnzimmer und nickte Jana zu.
„Sie hat Schuldgefühle,“ bemerkte Oliver, als Alex sich gesetzt hatte, Tee einschenkte und sich eine Zigarette aus der Packung holte.
„Keiner hat ihm gesagt, dass er sich umbringen soll…“ kommentierte er sarkastisch, und zündete sich die Zigarette an.
„Das hört sich sehr ...zynisch und fast schon …unmenschlich an. Da steckt `ne Menge Verbitterung dahinter, glaub ich,“ bemerkte sie.
„Du hast nicht ganz Unrecht.“ Automatisch und wie selbstverständlich kam das du.
„Sie schwören beim Amtsantritt das Blaue vom Himmel. "Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe". Basta.“
Jana grinste. „Du kennst den Amtseid auswendig?“
„Ja, damit ich sie immer dran erinnern kann, wenn sie den Eindruck erwecken, dass er nur eine hohle Phrase ist. Sie verabschieden manchmal Gesetze, da kannst du nur staunen über so viel Flickschusterei, man bekommt dann unwillkürlich den Eindruck, dass sie sich von den Lobbyisten bezahlen lassen. Sie sorgen mit ihrer Arbeit dafür, dass gefährliche Randgruppen links und rechts Land gewinnen, weil die Leute die Schnauze voll haben von so viel Lügen und Korruption. Sie wollen erreichen, dass die Lügen vor der Wahl vom Volk stillschweigend akzeptiert werden, führen also eine vollkommen andere Sprache ein, eine Politiker-Sprache."
Nach einem kurzen Augenblick bemerkte Alex: „Im Übrigen muss ich sagen, dass wir großartig harmonieren, oder?“
Dann reichte er Jana die Hand: „Ich bin Alex, wie du sicher schon weißt…“
Eine Träne lief aus ihrem Augenwinkel. Und dann lächelte sie. „Jana, wie du sicher schon weißt…“.
Dann kam Alex noch einmal auf das Thema zurück. "Andererseits muss ich sagen, dass ich so eine Verantwortung nicht übernehmen möchte. Wenn sie ihre Aufgabe sehr ernst nehmen, ist es eine enorme Belastung. Sie müssen sich manchmal systembedingt gegen ihr eigenes Gewissen oder gegen die Parteidisziplin entscheiden, wenn es um elementare Fragen oder ethische oder religiöse Werte geht."
Später kam ihr ein Gedanke: „Es war unsere Wut. Aber war sie nicht auch stellvertretend für die ohnmächtige Wut der Betrogenen, die nicht in der Lage sind, etwas dagegen zu unternehmen, die stumm und zornig und hilflos der menschlichen Ungerechtigkeit und der perversen Geldgier ausgeliefert sind!?“
Es war die Unerträglichkeit des ungerechten Seins.
Kurze Zeit später verließ Alex die Tageszeitung "Frankfurter Tages Journal" und begann mit den Vorbereitungen, ein Magazin zu gründen, das sich ausschließlich auf das Aufdecken von Missständen, Korruptionen, Betrug spezialisierte und nannte es „Transparent“
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