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2006

>Dann kamen wieder die Schuldgefühle hinzu, die sich wie eine Kralle um sein Herz presste. Wie Keulenschläge trafen ihn die Sätze: „Sie haben weiter morden lassen im Namen des Geldes, haben noch mehr Menschen abschlachten lassen. Sie haben Ihren Sohn dadurch immer wieder sterben lassen.“<

*

Heinrich Michels, der Kreditsachbearbeiter, betrat am 30. März 2006 das Büro mit dem schweren Eichen-Parkett, den wertvollen Orient Teppichen und den Designer Möbeln.

Doktor Artur Ebert, Vorstandsvorsitzender der kleinen "Frankfurter Weltfinanzbank" mit dem Slogan "IHR GELD IST UNS WICHTIG" saß in seinem Chefsessel.

Sein Kreditsachbearbeiter nahm ihm gegenüber Platz und schlug die Akte „Kreditanfrage Lohmann“ auf.

Es war zehn Uhr dreißig. Es klopfte, Ebert rief „Ja!“, die Türe ging auf und die Sekretärin kam mit einem Silbertablett herein, auf dem zwei Tassen und eine Kanne standen, und stellte es auf dem kleinen Nebentisch ab.

Michels sah aus dem Fenster, draußen prasselte eine Regenflut auf die Scheiben.

Ebert fragte ihn, ob er eine Tasse Kaffee wollte, aber er lehnte dankend ab.

Das Telefon klingelte, Ebert nahm den Hörer und sagte etwas. Dann legte er wieder auf.

Die Sekretärin goss Kaffee ein und stellte die Tasse vor Ebert hin und ging hinaus.

Michels hatte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.

Baldur Lohmann war sein Schwager und der brauchte Geld.

Die beiden kannten sich seit acht Jahren, als seine Schwester Baldur Lohmann geheiratet hatte. Baldur hatte 2002 eine kleine Erbschaft von 50.000 Euro gemacht und sich seinen Wunsch nach einem eigenen Geschäft erfüllt, weil er als Verkäufer in der Computerbranche zu wenig Gehalt bezog, und außerdem große Schwierigkeiten mit seinem Chef hatte.

Und er wollte endlich auch sein eigenes Haus haben. Also setzten sich die beiden zusammen und planten.

25.000 Euro brauchte er für den Anfang seines Betriebes, in dem er mit Computer und Teile handelte.

Dann fanden sie ein Einfamilienhaus in Neuberg, das 130.000 Euro kosten sollte. Die Immobilie erwarben sie von der "Frankfurter Weltfinanzbank, also jener Bank, in der Michels arbeitete. Die Bank hatte das Haus aus der Insolvenzmasse einer Familie erstanden.

Die beiden kalkulierten Erwerbskosten ein und ein paar Tausend für eine notwendige Renovierung, so dass sich die Investition auf 150.000 Euro belief abzüglich 25.000 Euro aus der Erbschaft. Lohmann musste also 125. 000 Euro finanzieren.

Er bekam ein Annuitäten Darlehen auf 10 Jahre, somit konnte er mit zirka 1.040 Euro monatlicher Belastung rechnen, die er seiner Meinung nach spielend aufbringen konnte, weil Katarina auch noch als Angestellte arbeitete.

Als Sicherheiten marschierte die Bank ins Grundbuch und verlangte noch die Rückkaufswerte beider Lebensversicherungen. Außerdem mussten sie noch eine Risikolebensversicherung abschließen und Katarina ihr Nettogehalt verpfänden. Als die beiden auch noch ihre Rentenversicherungen abtreten sollten, sagte Baldur „nein“.

Die Bank gab sich trotzdem zufrieden.

Das Gewerbe wurde angemeldet und das Geschäft lief auch gut an.

2005 wurde Katarina schwanger. Als der Junge zur Welt kam, stellten die Ärzte eine sehr seltene lebensbedrohliche Krankheit fest, deren Kosten von zirka 40.000 Euro die Krankenkasse nicht übernahm, weil eine notwendige Operation nur von Spezialisten in Amerika durchgeführt werden konnte.

Zahlreiche Anträge an die Krankenversicherung wurden abgelehnt.

Nebenbei bemerkt, bezahlte diese Krankenkasse zu diesem Zeitpunkt zigtausend Euro für Wellness und Massage-Behandlungen, und nicht nur für die Gattinnen der Direktion.

Die Katastrophe zog unmittelbar ins Haus der Lohmanns ein.

Lohmann bat seinen Schwager, bei der Bank vorzusprechen, weil er dieses Geld nicht hatte.

Die Bank lehnte erst einmal ab.

Der Arzt drängte auf eine Lösung, weil die Krankheit schnell fortschritt und der Kleine operiert werden musste.

Lohmann bat seinen Schwager noch einmal, bei Ebert vorzusprechen, weil sonst der Junge stirbt, wenn er nicht operiert wird. Es war nur eine Frage von Wochen.

Ebert schaute seinen Kreditsachbearbeiter missmutig an und nahm einen Schluck Kaffee. „Wir haben doch schon vor ein paar Tagen darüber gesprochen, dass wir das Risiko nicht eingehen können. Was ist jetzt schon wieder?“

„ Lohmann ist ein zuverlässiger Kunde, Herr Doktor Ebert, er hat immer pünktlich getilgt und konnte die Zinsen bezahlen. Sein Geschäft läuft ganz gut….“

Es läutete schon wieder, Ebert hörte, nickte, gab Anweisungen. Dann legte er auf.

„ Da hab ich was anderes gehört. Laut seiner neusten Betriebswirtschaftlichen Auswertung ist sein Gewinn zurück gegangen. Außerdem haben wir noch keinen Abschluss vom vorigen Jahr. Was wollen Sie mir erzählen?“

Michels holte ein Blatt aus der Akte. „Das stimmt so nicht. Sein Steuerberater hatte ein paar Fehlbuchungen gemacht. Er hat ihn daraufhin gefeuert und einen neuen Steuerberater beauftragt. Die Auswertung ist in Arbeit; und wie er mir gesagt hat, kommt er auf ein ganz beträchtliches positives Ergebnis.“

Er legte das Berechnungsblatt vor Ebert hin, aber Ebert schaute noch nicht einmal drauf.

Es läutete erneut. Ebert hörte, nahm wieder einen Schluck Kaffee, sagte etwas, dann legte er auf.

Seinem Mitarbeiter vermittelte er mit diesem Gehabe das Gefühl, lästig zu sein; dass die Sache nicht wichtig genug war, um ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen.

Ebert lehnte sich in seinem Sessel zurück. „ Wir beide wissen doch, wie so was läuft. Der neue Steuerberater produziert ein gutes Ergebnis, bekommt ein paar Euro mehr, der Kunde bekommt sein Geld und nach einem Jahr geht alles den Bach herunter. Noch bevor wir den Steuerbescheid in der Hand haben. Den Steuerberater können wir nicht haftbar machen, er beruft sich darauf, dass er nur die Belege bearbeiten kann, die ihm sein Mandant zur Verfügung stellt. Ergo bleibt alles an Ihrem Schwager und im Endeffekt an uns hängen. Und an den Kundengeldern, die wir verwalten.“

Michels wollte etwas erwidern, aber Ebert stoppte ihn mit einer Handbewegung.

In dem Moment klopfte es an der Türe, und ein junger Mann betrat das Büro, ohne das „Herein“ abzuwarten.

Ebert stand auf und stellte sich zu dem jungen Mitarbeiter, der ihm etwas ins Ohr flüsterte. Dann verließ er das Büro und Ebert setzte sich wieder.

„ Vergessen Sie Eines nicht: wir verwalten fremde Gelder,“ argumentierte der Banker erneut.

Michels lag das Schlagwort „Schneider Immobilien Pleite aus dem Jahr 1994“ auf der Zunge, als er das immer wieder gepredigte Argument von Ebert hörte und das seiner Meinung nach in vielen Fällen weit ab von der Realität kaum Berechtigung hatte.

„ Übrigens, wir brauchen eine neue Bewertung seines Hauses,“ fuhr Ebert fort, als habe er Michels Gedanken gerade lesen können.

Sein Herz raste. Er ahnte etwas. Und das war nichts Gutes für seine Schwester und seinen Schwager.

„Das Haus war damals bankbewertet, Herr Doktor Ebert, von unseren eigenen Spezialisten.“

Zweifel an den betriebswirtschaftlichen Zahlen, Neubewertung des Hauses trotzt eigener Bankbewertung, und die Tatsache, dass ihnen die Zeit davon lief, weil der Junge operiert werden muss, damit er nicht stirbt; das alles verursachte bei Michels Katastrophengefühle, die er noch nie gehabt hatte.

„ Was soll denn in der Zwischenzeit passiert sein, was den Wert beeinflusst haben kann? Wir stehen im Grundbuch, wir haben die Rückkaufswerte beider Lebensversicherungen. Wir haben ihre Risikolebensversicherungen, haben die Gehaltsabtretung meiner Schwester.“

Plötzlich wurde ihm bewusst, welch Sprache er sprach, nämlich jenes "wir" der Loyalität mit der Bank. Eine Loyalität, die er zwar aussprach, aber jetzt plötzlich als absurd empfand, weil er instinktiv spürte, dass sein Schwager keine Chance hatte, das Geld zu bekommen. Und wenn er jetzt weiter von einem "wir" sprach, so musste er sich als mitverantwortlich fühlen für die Katastrophe in der Familie, die unweigerlich bevorstand.

Ihm lief der kalte Schweiß aus den Poren.

„Die Lebensversicherungen haben nur dann einen Wertzuwachs, wenn sie laufend bedient werden; außerdem sind solche Absicherungen heute nicht mehr allzu gefragt, weil die Renditen in den Keller gehen. Und damit wir den Wert des Hauses richtig taxieren können, brauchen wir eine neue Bewertung.“

„Der Junge wird sterben, Herr Doktor Ebert.“ Er flüsterte es fast.

„Hinzu kommt, dass Ihre Schwester kein Geld mehr verdient.“

Es trat eine eiserne, kalte Stille ein. Ebert starrte seinen Mitarbeiter aus schmalen Augen an. „Wollen Sie damit ausdrücken, dass ich daran Schuld habe? Wollen Sie das?“

Auffällig war, dass Ebert von einer Ich-Schuld sprach, er hätte die Erwiderung anders formulieren müssen, nämlich, <dass wir, die Bank, daran Schuld habe>.

Er starrte seinerseits den Banker an. „Natürlich nicht,“ log er, und im selben Moment schämte er sich für diese Lüge. Und dann ergänzte er: „Er hat noch nicht mal einen Namen….“

Wieder läutete das Telefon. Ebert horchte, dann legte er auf.

Nach diesem Telefonat kam die nächste Hiobsbotschaft. „ Ihr Schwager ist mit zwei Annuitäten im Rückstand, hat man mir eben gesagt.“

Er hätte gerne argumentiert, dass sein Schwager ein willkommener Kunde und Käufer war, aber er brachte keinen Ton mehr heraus.

Er spürte das Blut aufwallen, er sah die Szene vor sich, in der er ihnen mitteilen muss, dass die Bank abgelehnt hat. Er sah Baldur zusammenbrechen, sah Katarina hysterisch werden, sah sich selber als hoffnungsloses Häuflein Elend in dessen Wohnung auf der Couch sitzen.

Dann tauchten Erinnerungsbilder auf, als seine Schwester überglücklich vom Frauenarzt gekommen war und verkündete, dass sie ein Baby bekommen wird. Er sah das Bild, wie beide vor Glück im Wohnzimmer tanzten und eine Flasche Champagner köpften.

Genauso wie sie damals tanzten, als die ganzen Kreditverhandlungen abgeschlossen waren und das Haus gekauft werden konnte.

Er hatte sehr oft erlebt, wie Ebert Kunden abgewiesen hatte, die einen Aufschub, aus welchen Gründen auch immer, ihrer Tilgungen erbaten.

Aber das hier hatte eine andere Qualität, eine tödliche Qualität für seine Schwester und seinen Schwager und für den Jungen ohne Namen, der erst noch getauft werden musste und dann Miguel heißen sollte, weil er im Urlaub in Spanien gezeugt wurde.

Er wagte einen letzten Versuch. „Herr Doktor Ebert, welche Chance hat mein Schwager denn, an das Geld zu kommen? Welche Chance hat der kleine Junge, dem Tod von der Schippe zu springen? Es kann doch nicht sein, dass ein Leben von ein paar Euro abhängt, die man ruhigen Gewissens leihen kann….“

Ebert sagte ohne Überlegung den Namen „Herrschinger“. „Versuchen Sie es bei Herrschinger.“

Michels musste plötzlich würgen, weil er das Gefühl hatte, sein Magen wird zerquetscht. „Herrschinger ist ein Kredithai. Zwanzig und mehr Prozent Zinsen. Knochenbrecher, die denen die Daumen abhacken, die nicht mehr zahlen können. Gesindel, Abschaum, Herr Doktor Ebert…..“

Ebert sah nach draußen, als der Regen gegen die Scheiben prasselte.

Der Druck kam plötzlich von innen. Michels sprang vom Stuhl auf und lief Richtung Türe, aber er schaffte es nicht mehr. Er fiel auf die Knie und kotzte einen Schwall Essen und Galle auf einen wertvollen Orient Teppich.

Ebert sprang auch auf und brüllte: „Hejjjjjjjjj“

Die Sekretärin stolperte herein, erstarrte, als sie den Mann am Boden kniend sah.

„Holen Sie einen Eimer und Lappen und ……“ schrie Ebert.

Heinrich Michels rappelte sich auf, wischte sich den Mund mit dem Taschentuch ab, warf Ebert noch einen Blick zu und lief aus dem Büro.

Sofort fiel ihm sein Freund Michael Glanz ein, der Reporter im „ Frankfurter Tagesjournal“ ist. Michael sollte einen Artikel schreiben über die Finanzgebaren der Bank, über die Rücksichtslosigkeit von Ebert und über die für diese Familie bevorstehende Katastrophe. Es bestand überhaupt keine Notwendigkeit, seinen Schwager zu überprüfen, um ihm den Kredit zu verwehren. Michels konnte aber seine bevorstehenden Ahnungen nicht verkaufen, und Michael Glanz wusste das.

Er fuhr in ihre Wohnung. Er konnte sich vor Aufregung kaum auf den Straßenverkehr konzentrieren, baute beinahe einen Unfall, weil er bei Rot über die Ampel fuhr. Er traf seine Schwester an. Baldur war im Laden.

Katarina sah es an seiner Miene und brach in Tränen aus.

*

Eine Stunde, nachdem Heinrich Michels in Eberts Büro seine Enttäuschung heraus gekotzt hatte, betrat Doktor Harald Blüsch, Aufsichtsratsvorsitzender derselben Bank, das Büro seines Freundes.

„Hier stinkt es, Artur!“ sagte er. Ebert verzog das Gesicht. „ Michels hat sich übergeben, weil wir den zusätzlichen Kredit seines Schwagers Lohnmann in Neuberg abgelehnt haben.“

Blüsch setzte sich in den Besuchersessel.

„ Er heißt Lohmann und nicht Lohnmann. Apropos Neuberg. Ich habe mit den maßgebenden Leuten gesprochen. Die Aussichten stehen gut, dass in Neuberg das Einkaufszentrum in Kürze gebaut wird. Das bedeutet, dass die Grundstückspreise in die Höhe gehen. Wenn wir also das Häuschen von Lohmann gekauft haben, können wir es mit einem Gewinn von nahezu hundert Prozent über Umwege wieder verkaufen.

„ Was schlägst du vor, Harald.“

„Wir verkaufen das Darlehen von Lohmann an unsere GH-Group; die kündigen es auf, setzen Lohmann die Daumenschrauben an, weil er im Rückstand ist, Lohmann muss raus und wir warten ab, bis die Grundstückpreise in die Höhe schießen. Dann können wir das Häuschen zum weit höheren Preis verkaufen oder abreißen und weiter warten. So stehen wir nach außen hin mit weißer Weste da und niemand ahnt, wer hinter der GH-Group steckt.“

Ebert musste schmunzeln, hinter der Abkürzung GH-Group verbarg sich das englische Wort „Grasshopper“ für Heuschrecken, das eigene Kapitalmanagement der Bank. Harald hatte manchmal sehr originelle Einfälle, aber gute. Aber nur manchmal.

„ Lohnmann könnte die Medien anrufen…“ erwiderte Ebert.

„Wenn schon. Wir haben die Forderung verkauft, wie es andere Banken auch tun, weil wir Risikoobjekte aus unserer Bilanz haben wollen. Was die GH-Group macht, ist eine andere Geschichte. Lohmann ist doch kein Risiko, oder?“ meinte Blüsch süffisant.

„Doch. Er ist mit zwei Raten im Rückstand.“

Nach einer Weile klopfte Ebert mit dem Fingerknöchel auf die Schreibtischplatte. „Könnte funktionieren. Lohnmann ist angeschlagen durch die Krankheit seines Sohnes, der in Lebensgefahr schwebt. Er hat kaum Abwehrkräfte; und wenn der Junge stirbt, ist er ganz unten, er ist psychisch am Ende und als Unternehmer nichts mehr wert.“

„Da fällt mir ein, dass wir diesen Michels beobachten müssen. Wenn einer schon kotzt, nur weil wir ein Haus neu bewerten wollen, dann riecht das verdammt noch mal nach sozialistischer Einstellung.“

*

2. April 2006. Ein kleines Dorf in der Amhara Region, 400 km nördlich von Addis Abeba in Äthiopien. Eines der ärmsten Dörfer dieses Bezirkes. Neben den schlammigen Strassen stehen grasbedeckte Rundhütten, vor denen vereinzelt Frauen sitzen, die ihre nackten unterernährten Babys entweder auf dem Arm halten oder sie auf den Boden abgelegt hatten. Ihre Blicke sind leer, ohne Hoffnung, ohne Sinn, als warten sie nur auf den Tod.

Frauen und Männer und ihre Babys leiden am Hunger, am Durst und an Tuberkulose oder Malaria.

Es herrscht eine tropisch heiße Luft um die Mittagszeit.

In der Mitte des Dorfes sitzen Männer und backen Fladen. Weil es kein Mehl und keine anderen nahrhaften Zutaten gibt, nehmen sie einfach Lehm, um dem Magen Völlegefühl zu verschaffen.

Die "Deutsch-Äthiopische-Hilfsorganisation" hatte den Dorf Ältesten Amare davon unterrichtet, dass für diese Region eine Veranstaltung in Deutschland stattfindet, und sie Hilfe für die Beschaffung von Lebensmitteln, den Bau eines Kinderkrankenhauses und Medikamente erwarten können.

Zur gleichen Zeit im zirka 5.300 Kilometer entfernten Frankfurt am Main tanzen in einer Benefizveranstaltung in der "Commerzbank-Arena" Artisten, spielen internationale Bands und begleiten weltbekannte Stars, werden Vorträge über den Hunger in der Welt gehalten, berichten Hilfsorganisationen über ihre Arbeit. Politiker halten Reden und versprechen unmittelbar Hilfe, falls sie an die Regierung kommen. Oder falls sie an der Regierung bleiben…

Auf einer riesigen Leinwand sind Bilder von hungernden, bis zum Skelett abgemagerten Einwohnern in einem Dorf in Äthiopien zu sehen.

Und Millionen von Zuschauern vor den Fernsehapparaten spenden Geld. Genau genommen 7,7 Millionen Euro. Der Moderator jubelte am Ende der Veranstaltung: „Vielen Dank meine Damen und Herren, sieben Komma sieben Millionen können wir diesen armen Menschen da unten überweisen. Vielen vielen Dank!“

Die Bilder auf der riesigen Leinwand und auf den Fernsehschirmen geben den emotionalen Impuls für eine schnelle Überweisung.

So erhielt die "Frankfurter Weltfinanzbank" auf ihr Konto sieben Komma sieben Millionen Euro.

Ebenfalls zur gleichen Zeit und in der gleichen Stadt verfolgt der siebenundfünfzig Jahre alte Anwalt Oliver Pomerenke vor dem Fernsehapparat die Benefiz-Veranstaltung.

Er ist einen Meter sechsundsiebzig groß, hat eine Glatze, und seine dunklen Augen strahlen Sympathie und Vertrauen aus.

Er ist schon lange geschieden, und lebt alleine in einer 4-Zimmer-Wohnung im Frankfurt am Main im Stadtteil Sindlingen.

Nach der Sendung bearbeitet er einen neuen, besonders gravierenden Fall. Er vertritt den Sohn eines früheren Freundes, der gegen seine Krankenkasse klagt, die daran Schuld tragen soll, dass er in seinem Betrieb nicht ins Top-Management aufsteigen konnte.

Auch am 2. April zur selben Zeit sitzen der fünfundfünfzig Jahre alte Alex Riemek und seine vierundvierzigjährige Lebensgefährtin Saskia auf der Couch und schauen sich im Fernsehen die Veranstaltung an, die er initiiert hatte.

Saskia arbeitet als Psychologin in einer Praxis für Konflikt-Beratung.

Alex ist einen Meter neunundsechzig groß, hat volles, dunkles Haar, graublaue Augen.

Er arbeitet als recherchierender Journalist an seinem Magazin „Transparent“, das er im nächsten Jahr gründen wird, nachdem er beim „ Frankfurter Tagesjournal“ aufgehört hatte.

Die beiden wohnen in Frankfurt Höchst in einem Loft.

Und ebenso zu diesem Zeitpunkt schreibt Jana Johansson an ihrem Buch über Kindesmisshandlung.

Sie ist fünfundvierzig und Schriftstellerin, die unter anderem zwei Bücher über körperliche und seelische Misshandlungen geschrieben und veröffentlicht hatte. Von der ersten Auflage von 200 Stück wurden 51 verkauft, zumeist an Sozialarbeiter, Psychologiestudenten oder Streetworker. Die restlichen Exemplare hatte der Verlag der "Selbsthilfegruppe schlagender Männer" zur Verfügung gestellt.

Jana ist einen Meter sechsundsechzig groß, hat schulterlange rote Haare, tiefblaue Augen, eine leicht füllige Statur. Sie ist verheiratet mit Lars, einem Kameramann beim Hessischen Rundfunk. Sie wohnen in Frankfurter Stadtteil Schwanheim in einem Reihenhaus.

Dann stellte sie den Fernseher an, ruft ihren Mann, und beide verfolgen das Spektakel in der Arena.

*

In einer Meldung vom 28. Mai, also 56 Tage nach dieser Benefiz-Veranstaltung, erfuhren die Leser des „ Frankfurter Tagesjournals“, dass diese Frankfurter Weltfinanzbank die eingenommenen Spendengelder in Höhe von sieben Komma sieben Millionen Euro immer noch nicht in die Region transferiert hatte.

Der Reporter Michael Glanz, Alex` ehemaliger Kollege vom „ Frankfurter Tages Journal“ hatte herausgefunden, dass die "Deutsch-Äthiopische-Hilfsorganisation" einen Brief an die Bank geschickt hatte, in dem sie um Nachweis des Geldtransfers bat. Glanz hatte es in seiner Tageszeitung auf Seite 4 veröffentlicht, und die Information auch an die Fernseh- und Radiosender weitergegeben. Auch Glanz wusste, wie dringend die Menschen da unten das Geld benötigten.

Die Meldung verursachte jedenfalls nicht die von ihm erhoffte Resonanz bei allen Medien.

Daraufhin folgte die Pressekonferenz in den geheiligten Räumen der Bank mit dem Vorstandsvorsitzenden Dr. Ebert, 45 und dem Aufsichtsratsvorsitzenden Dr. Blüsch, 50, die für die Abwicklung der Spendenaktion verantwortlich zeichneten.

Ein paar Reporter von verschiedenen Zeitungen und zwei Regional und TV-Sender hatten sich eingefunden. Ab und zu zuckten ein paar Blitzlichter auf, wurden ein paar Fragen gestellt, wurde in Handys gesprochen und Notizen gemacht. Alles in allem wenig Publicity, und Ebert und Blüsch handelten die Angelegenheit im Nu ab.

Zeitverschwendung.

“Wir widersprechen der Meldung, dass das Geld noch nicht überwiesen wurde. Das Geld ist nicht mehr bei uns. Das kann ich Ihnen versichern,“ sagte Dr. Blüsch. Aus dem Ton war zu ersehen, dass jegliche weitere Frage überflüssig erschien; und mit einer eindeutigen Geste signalisierte er seinen eigenen Abgang.

„Ich hab nur eine Frage, Herr Doktor Blüsch,“ hielt ihn Glanz vom „Frankfurter Tages Journal“ auf, „kann es sein, dass Sie einen Geldboten mit den sieben Komma sieben Millionen per Fahrrad auf den langen Weg nach Addis Abeba losgeschickt haben? Es sind immerhin über fünftausend Kilometer, und dass der arme Kerl immer noch unterwegs ist?“

Die Journalisten brachen in ein schallendes Gelächter aus. Blüsch schüttelte den Kopf und verließ kommentarlos den Raum.

„Ich selber habe mich davon überzeugen können. Bereits nach wenigen Tagen wurden die sieben Komma sieben Millionen überwiesen,“ bestätigte Dr. Ebert mit schneidender, überheblicher Stimme. Keine weitere Diskussion.

Somit war die Pressekonferenz beendet, weitere Fragen wurden nicht mehr zugelassen.

Als Ebert in sein Büro ging, fand er auf seinem Schreibtisch einen Briefumschlag mit einem schwarzen Rand vor. Er öffnete ihn. Dann holte er 2 Trauerkarten heraus. Es waren Todesanzeigen. Er warf einen Blick darauf. Eine Frau namens Katarina Lohmann teilte mit, dass ihr kleiner Sohn Miguel und ihr Mann Baldur Lohmann am 1. Juni beerdigt werden. Er, Doktor Artur Ebert, wurde zur Trauerfeier eingeladen.

Dann fand er einen Zeitungsausschnitt vom 23. April, in dem stand, dass ein Baldur Lohmann mit seinem Auto gegen einen Brückenpfeiler gerast sei und sofort tot war. Es ist zu vermuten, dass es Selbstmord gewesen ist, weil keine Bremsspuren vorhanden waren.

Der Banker suchte mit seinem zweiten Blick den Papierkorb.

*

Als Alex die Nachrichten verfolgt hatte, lehnte er sich langsam in seinem Sessel zurück und schloss die Augen. Er arbeitete bei seinen Vorbereitungen zur Gründung seines eigenen Magazins, als er die Pressekonferenz mit den beiden Bankern sah. Und das Adrenalin schoss ihm ins Blut, als er Ebert erblickt hatte.

Glanz hatte ihn vorgestern angerufen und über seine Mitteilung vorab informiert. Dann wies er ihn auf die Pressekonferenz hin, die im Fernsehen im Regionalsender übertragen wird. Alex hatte schon geahnt, dass sich kaum jemand für die Angelegenheit interessieren wird. Kein Stoff für Top-Meldungen, kein Stoff für Schlagzeilen, keine Rede wert.

Insofern war er nicht einmal enttäuscht, was seinem Zorn jedoch mehr Power gab.

Er steckte sich eine Zigarette an und erinnerte sich an seine Reportage über Äthiopien vor 3 Jahren. Er war damals schockiert über das Elend der Menschen, über die Armut, über den Hunger, den sie erlitten. Er sah immer wieder diese ungeheure Diskrepanz: Dort verhungern Menschen, hier verschwenden welche mit unglaublicher Dreistigkeit Wasser und Lebensmittel. Und er wollte in seiner infantilen Naivität nicht begreifen, dass und wie das möglich war und warum.

Er verfiel damals in eine kurze und heftige Depression angesichts der Aussicht, nicht genügend helfen zu können. Hinzu kam die Tatsache, dass seinerzeit von den laufenden Spendengeldern nur ein Teil ankam, der Rest verschwand in diffuse Kanäle, die "Bearbeitungsgebühren", "Bankspesen", "Provisionen" genannt wurden.

Später setzte er sich mit seinem Freund, dem Veranstalter Hubert Franklin zusammen und schlug ein Benefiz für die hungernden und kranken und hoffnungslosen Menschen in Äthiopien vor. Franklin war einverstanden; und nach entsprechender Organisation wurde sie am 2. April in der Frankfurter Commerzbank Arena veranstaltet.

Im Geiste sah Alex Riemek wieder dunkelhäutige, bis auf das Skelett abgemagerte Menschen. Aus den in tiefen Höhlen liegenden Augen warfen sie Blicke von unendlicher Leere in die Kamera. Mütter sahen auf ihre Kleinkinder, die in ihren Armen lagen. Eine vor Hunger geschwächte Frau torkelte mit einem toten Baby im Arm durch das Dorf.

Dann kam ein anderes Bild: Er sah ein Büfett voller Fleischberge, Hummer, Kaviar, Lachs, erlesenes Obst, Champagner, Weine, Kanapees. Um das Büfett standen Männer und Frauen, in den Händen hielten sie Teller mit den Köstlichkeiten und Champagner-Kelche. Es war die Fernsehberichterstattung über die 100-Jahrfeier der "Frankfurter Weltfinanzbank" am 30. April.

Diese komprimierten gegensätzlichen Bilder lösten in ihm wieder eine unbeschreibliche Wut aus; und diese Wut wurde immer größer und wuchs zu einem Buschfeuer. Sie war ein Gefühl, das in seinen Eingeweiden brannte und nach einer Reaktion schrie.

Er wusste, dass Glanz nie das Ergebnis seiner Recherche veröffentlichen würde, wenn irgendein Zweifel bestand. Glanz hatte überall seine Quellen, natürlich auch bei den Banken.

Er hatte ihm gesagt, dass Ebert und Blüsch die Verwaltung der Spendengelder „höchstpersönlich“ in die Hand genommen haben. Heinrich Michels hatte ihm das mit der Bitte um absolutes Stillschweigen gesteckt.

Am Abend würde Alex mit Saskia darüber sprechen. Zunächst aber fuhr er in die Stadt, um noch mal mit Glanz zu reden.

Dann fuhr er nach Hause, stellte seinen BMW vor der Loftwohnung ab, schaute zum Fenster und sah, wie Saskia ihm zuwinkte.

Dann aßen sie eine aufgewärmte Kleinigkeit.

„Was gibt es Neues?“ fragte sie, als sie fertig waren und er das Geschirr in die Geschirrspülmaschine stellte. Sie blieben am Esstisch sitzen.

„ Ich hab so einen Zorn auf das, was sich diese beiden Banker geleistet haben.“

„Ja,….“ sagte sie. „Und du gehst wirklich davon aus, dass sie die Spendengelder tatsächlich noch nicht nach Äthiopien transferiert haben?“

„Ja. Überleg doch. Am zweiten April war das Benefiz, an diesem Tag haben die Leute angerufen und ihre Kontendaten und Beträge durchgegeben. Ein paar Tage später sind die Beträge per Lastschrift eingegangen. Es sind fast acht Wochen vergangen, und die da unten haben noch keinen Cent.“

Er steckte sich eine Zigarette an und stemmte die Ellenbogen auf den Tisch.

Saskia schüttelte den Kopf. „ Es ist diese maßlose Gier nach Geld. Ich glaub, die können gar nicht anders, es sitzt ihnen im Blut. Wenn es zum Beispiel hunderte von Millionen wären, könnte man es noch nachvollziehen, das würde sich bei dieser Raffgier-Mentalität lohnen, aber das hier sind doch Peanuts für die. Geld, das für die Armen der Ärmsten bestimmt ist. Denen noch das bisschen wegzunehmen, ist unfassbar. Unsere Kultur geht langsam vor die Hunde.“

Er schüttelte resigniert den Kopf.

„ Langsam…?“ fragte er sie und sich selber.

Alex besprach am nächsten Tag die Sache mit seinem alten Freund Oliver, einem eigensinnigen Zeitgenossen von einem Rechtsanwalt, der unter anderem die Opfer und Angehörigen von Gewaltverbrechen vor Gericht vertrat, manchmal auch kostenlos. Sie hatten sich vor zirka zehn Jahren kennen gelernt, als er einen Rechtsanwalt brauchte.

Und er sprach mit Jana Johansson, der Schriftstellerin.

Sie hatten sich dann in Olivers Wohnung im Frankfurter Stadtteil Sindlingen getroffen. Auch seine beiden Freunde waren erwartungsgemäß enttäuscht, als sie die Pressekonferenz mitverfolgten.

„Ich glaub den beiden kein Wort,“ argwöhnte Oliver.

„Und ich glaub dasselbe, was du glaubst,“ sagte Jana.

„Und weshalb haben die anderen Journalisten nicht nachgehakt?“ fragte Oliver in Anspielung auf die sarkastische Bemerkung von Glanz.

„Weil das keine Schlagzeilen ergibt,“ vermutete Jana.

„Betrachten wir zunächst mal die Fakten,“ begann Alex und zündete sich eine Zigarette an, „…die Bank hat seit dem achten April oder ein paar Tage später sieben Komma sieben Millionen Euro auf dem Spendenkonto. Glanz hat herausgefunden, dass die "Deutsch-Äthiopische-Hilfsorganisation" am siebenundzwanzigsten Mai angefragt hat, wo das Geld bleibt. Mir kann keiner erzählen, dass ein Geldtransfer so lange dauert. Das geht heute innerhalb von Sekunden.“

„Es sei denn, der Bote ist immer noch unterwegs…“ grinste Oliver.

„Dann behaupten die Kerle, das Geld wäre überwiesen worden,“ setzte er die Aufzählung fort.

„Lächerlich,“ sagte Jana, „ …bei diesem Betrag. Sieben Komma sieben Millionen für ein paar Tage, was bringt das? Für eine Bank doch nur Peanuts, wie dieser Kopper sagen würde.“

Es entstand eine Pause, die drei saßen da und tranken. Dann meldete sich Oliver wieder: „Muss das nicht alles auch von einem Notar überwacht werden?“

Alex nickte: „Sicher.“

„ Die Pressemeldung hatte keinen Sensationswert. Wollen wir dafür sorgen, dass sich das ändert? Wäre ja auch Material für dein künftiges Magazin „Transparent“, nicht wahr, Alex!“

„Schon sehr eigenartig und untypisch, dass die zwei die Geldüberwachung und Verwaltung an sich gerissen haben. Vermutlich teilen die sich den Profit, wenn sie das Geld erst mal gewinnbringend anlegen. Vermutet Glanz.“

„Das ist eine kleinere Privat-Bank mit 15 Angestellten– und Ebert und Blüsch sind die Chefs.“

Es trat eine längere Pause ein. Alex holte ungewöhnlich bedächtig und in Gedanken versunken eine Zigarette aus der Packung, Oliver nahm langsam einen Schluck Kaffee und Jana schaute aus dem Fenster. Gleich einem Brainstorming waren diese Minuten der Stille die Initialzündung, für gewaltige Schlagzeilen zu sorgen. Gläubige Christen würden sagen, dass der Heilige Geist über die drei gekommen ist und ihnen einen Auftrag gegeben hat.

Das ganze Drama für die beiden Banker Ebert und Blüsch begann mit Olivers Frage:

„Was machen wir mit den beiden Herren im feinen Zwirn? Ich denke, die sollte man nicht mit Samthandschuhen anfassen“.

„Das werden wir auch nicht,“ sagte Alex spontan.

Jana sah Oliver direkt in seine Augen und erwartete, dass er ihren Blick erwiderte, was er auch tat. Blitzschnell tauchte bei ihr die Szene wieder auf, als er wie selbstverständlich seinen Arm um ihre Schulter gelegt hatte.

„Wir sollten für Schlagzeilen sorgen….“ sagte Alex.

Dann zündete er die Zigarette an.

„Dasselbe denke ich auch,“ ergänzte Oliver. Jana nickte.

„ Das ist Zündstoff, sag ich euch. Die typische Ausgeburt der Raffgier auf Kosten anderer. Lassen einfach die armen Teufel da unten zugrunde gehen,“ wetterte Alex, „ sie lassen sie einfach weiter hungern und verhungern, weiter an Krankheiten krepieren.“

Jana stand auf und stellte sich mit dem Rücken an die Fensterbank.

Oliver erhob sich und ging in seine kleine Küche. „Ich mach neuen Kaffee.“

Jana schüttelte den Kopf. „Es ist unglaublich, mit welcher Kaltblütigkeit die das Geld einfach einbehalten.“

„ Ich selbst hab schließlich erlebt, wie die da unten dahinvegetieren,“ sagte Alex, „und wie nötig die Hilfe brauchen.“

„Wenn wir nichts unternehmen, verläuft alles im Sand. Morgen ist die Sache bereits vergessen, weil andere Schlagzeilen die Medien beherrschen. Und wen juckt es um ein paar Schwarze irgendwo in Afrika, die leiden und kaputt gehen, weil sie nichts zu essen und keine Medikamente haben. Die Benefizveranstaltung war ein unterhaltsames Spektakel, das den Leuten momentan an die Nieren ging, deshalb auch die sieben Komma sieben Millionen Gesamt-Spenden. Hat sie zu Tränen gerührt, die schwarzen Babys mit ihren Glubschaugen, die am Hungertuch nagten, die abgemagerten Frauen und Männer, deren Blick starr ins Leere ging,“ sinnierte Jana, „und ich war überrascht, dass eine solche Summe zusammen kam.“

„Also, wenn wir nichts tun, bleibt das Geld da, wo die Kerle es hingebracht haben. Und irgendwann, noch ein paar Wochen später, wenn die "Deutsch-Äthiopische-Hilfsorganisation"

wieder mal mahnt und die Meldung wieder an die Presse geht, rücken die vielleicht das Geld raus. Und in der Zwischenzeit sterben wieder viele an Hunger und Krankheiten.“

Oliver kam mit den zwei neuen Kannen auf einem Tablett zurück.

„Ist das Gehöft noch frei?“ fragte er, und stellte das Geschirr auf den Tisch.

Jana nickte. „Immer.“

„Wir holen uns die beiden,“ sagte er. „Das Gehöft ist der ideale Ort für unsere Besprechungen.“

„ Wir fordern sie auf, das Geld zu überweisen. Und wir unterhalten uns mit ihnen,“ verkündete Alex.

„Und wir bieten den Medien dieses Spektakel an,“ setzte Oliver die Idee fort.

„Was meinst du?“

„Wir nehmen die Unterhaltung mit den beiden auf Video auf und bieten einem Sender das Material an.“

„Du meinst, wir sollten denen das Video zur Verfügung stellen, damit sie es senden?“

„Ja. Ich bin sicher, dass so etwas die Einschaltquoten erhöht, wenn die es mit genügend Publicity ankündigen.“

„Und sie dürfen dafür zahlen.“

Sie brauchten nicht lange, um der Aktion zuzustimmen. Und sie mussten sich nicht anstrengen, um den Gefühlslevel der kalten Wut aufrechtzuerhalten. Der war latent in ihren Köpfen vorhanden.

„Ich muss sagen, dass wir im vorigen Jahr ganz gut zusammen gearbeitet haben, nicht wahr?“ bemerkte Oliver und goss Jana und sich Kaffee und Alex Tee ein.

„Es gibt zu viele Ungerechtigkeiten,“ meinte Jana.

„ Das, was wir voriges Jahr erlebt haben, ist typisch.“

Nach einer Gedankenstille wiederholte Oliver: „Ich sehe keine andere Möglichkeit für unsere Aktion als das Gehöft.“

„Die Mittel heiligen den Zweck. Sozusagen.“

„Gibt es eine Alternative für unsere Zwecke? Die Deutsch-Äthiopische-Hilfsorganisation würde viel Wind machen, aber nicht allzu viel erreichen. Die Medien hatten kein besonders großes Interesse. Das ist fast dieselbe Ausgangsposition wie vor einem Jahr, als der Minister die Kleine überfuhr. Mit dem Gerichtsurteil schienen die Wogen geglättet,“ erinnerte Jana.

„Und auf die Meldung, dass die Spendengelder noch immer nicht überwiesen wurden, reagierte auch niemand besonders.“

„ Es ist wie mit dem jährlichen Schwarzbuch, das unglaubliche Skandale aufdeckt, aber es ändert sich gar nichts! Zumindest wissen wir nichts.“

„Wie machen wir es?“ fragte Oliver nach einer kurzen Pause, in der sich die drei ein Szenario ausmalten. Alex drückte die Kippe im Aschenbecher aus. „ Chloroform.“

„Wessen Vergehen machen wir uns eigentlich schuldig?“ fragte Jana.

„Zwoneununddreißig Strafgesetzbuch, Freiheitsberaubung. Zwodreiundzwanzig Körperverletzung,“ addierte der Anwalt.

„Willst du sie foltern?“

„Nein, aber wenn sie flüchten wollen, müssen wir das verhindern.“

„Wie?“

„Elektroschocker.“

„Nur so erreichen wir was.“

*

Alex erklärte Jana und Oliver am frühen Morgen die wichtigsten Handhabungen der drei Elektroschocker mit 75.000 Volt.

„ Den Schocker nie auf den Kopf oder den Hals oder in der Nähe des Herzens drücken. Bei den Schultern, den Weichteilen, den Lenden und Schenkeln hat er die beste Wirkung.“

„ Wie lange soll man ihn an den Körper halten?“ fragte Jana.

„ Ein kurzer Schlag, dann erschreckt der Lump und die Muskeln verkrampfen sich. Original Betriebsanleitung.“

„Wie kurz?“ fragte Oliver, „`ne halbe Stunde?“

„ Eine halbe Sekunde. Bei ein bis drei Sekunden kippt er um, es wirkt aber nicht lange genug, er kann gleich wieder aufstehen. Dann kommt der volle Schlag bei drei bis fünf Sekunden. Der Lump verliert die Orientierung und kriegt einen kräftigen Schock für ein paar Minuten.“ Jana nickte, und Oliver meinte, den Rest würde er auf seine Art besorgen.

Ohne Original Betriebsanleitung.

Als Alex außer Reichweite war, flüsterte Oliver Jana ins Ohr: „ Je mehr Angstschweiß ein solcher Lump absondert, desto wirkungsvoller ist der Schocker.“

Sie begannen, die tägliche Routine von Ebert und Blüsch auszukundschaften.

Der eins fünfundsiebzig große Ebert trat jeden Morgen um acht Uhr fünfzehn aus seiner Bad Homburger Jugendstil-Villa und begab sich mit seinem Aktenkoffer zur Garage. Das Tor öffnete sich nach dem Knopfdruck. Er ging hinein, setzte sich in den silberfarbenen Mercedes 500 SE, fuhr heraus, und das Tor schloss sich wieder. Dann fuhr er langsam den langen Kiesweg auf seinem Grundstück zum schmiedeeisernen Haupttor, das automatisch aufging. Am Eingang des Areals stand ein Telefonhäuschen, und ein paar Meter entlang der Einfriedung entdeckte Oliver einen kleinen Durchgang, den Bauarbeiter hinterlassen hatten.

Der eins vierundsechzig große oder kleine Blüsch verließ fünfzehn Minuten später seine Landhaus-Villa in Königstein und ging auch zur Garage, in der der taubenblaue 7er BMW stand. Er warf seinen Aktenkoffer auf den Rücksitz und stieg ein. Er fuhr, nachdem sich das Garagentor automatisch wieder geschlossen hatte, vom Grundstück.

Am Abend saßen Jana und ihr Mann Lars nach dem Essen im Wohnzimmer. Lars war ein großer, schlanker Mann mit einer Halbglatze, grauen Augen und einem schmalen Oberlippenbart. Der Fernseher lief, und Jana stellte den Ton ab. Er spürte, dass ihm seine Frau etwas sagen wollte, und drehte sich zu ihr um.

Draußen ging gerade die Sonne unter und verwandelte den Himmel in eine farbenprächtige Leinwand.

Sie setzte vorsichtig an. „Du hast sicher von diesen Bankern gehört, die das Geld noch nicht überwiesen haben…!“

„Ja, zufällig, und?“ Er ahnte etwas, auf seiner Stirn erschienen Querfalten.

„Du weißt ja, dass wir uns voriges Jahr für die kleine Annabell eingesetzt haben, weil die Eltern sich nicht wehren konnten.“

„Ja.“

„Wir kümmern uns jetzt um die beiden Banker, weil sie sich diese Ungeheuerlichkeit geleistet haben, das Geld immer noch einzubehalten. Und wenn keiner was dagegen unternimmt,…“

„…dann macht ihr es, fuhr er ihr barsch ins Wort und stand auf. „Erst im vorigen Jahr habt ihr dafür gesorgt, dass es einen Toten gab.“

Sie erschrak, obwohl sie geahnt hatte, dass Widerstand kommen musste; aber mit so einem Argument hatte sie nicht gerechnet.

„Das meinst du doch nicht im Ernst, Lars.“.

„Wenn ihr euch nicht eingemischt hättet, wäre das nicht passiert, Jana. Und dann der Ärger mit den Behörden, die Strafanzeige.“

„Die im Sand verlaufen ist dank Oliver.“

„Egal.“

„ Egal? Der Typ hat Fahrerflucht begangen. Der Typ hat Meineidszeugen auffahren lassen, der Typ hat versucht, Zeugen zu bestechen, ja sogar Zeugen zu verschleppen versucht. Soll ich dich daran erinnern, welche Leichen er und seine Freunde im Keller hatten? Wir wollten nur relative Gerechtigkeit für die Eltern.“

Er verschränkte die Arme und blieb stehen. „Das ist Sache der Behörden, des Staates. Ich kann ja noch verstehen, dass ihr damals was unternommen habt, weil du darin verwickelt warst, aber dieses Mal habt ihr nichts damit zu tun. Ihr könnt nicht Weltpolizei spielen.“

„ Alex war vor ein paar Jahren in Äthiopien und kennt das Drama; deswegen hat er die Benefiz-Veranstaltung initiiert.“

Sie schaute ihn an, als wäre er ein Fremder. „Und wenn diejenigen, die den Staat vertreten, korrupt sind? Wenn der Staatsanwalt und der Angeklagte in ein und derselben Partei sind und sich gegenseitig nicht wehtun möchten? Und wenn die beiden Zeugen nur deswegen einen Meineid geschworen haben, weil sie ihre Karriere nicht aufs Spiel setzen wollten.“

Sie war auch aufgestanden und ging im Zimmer hin und her. Sie war zornig über seine Einstellung, nur keinem auf die Füße zu treten. Lars setzte sich wieder.

„ Lassen wir das. Und warum kümmert sich diese Deutsche…Hilfsorganisation

nicht darum?“

Sie blieb vor ihm stehen.

„Alex sagt, dass sie tun, was sie können, dass sie hervorragende Arbeit leisten, aber jetzt muss mal eine Bombe platzen.“

Dann setzte sie sich wieder an den Tisch.

„ Eine Bombe? Was habt ihr vor?“ Er wurde blass im Gesicht.

Sie war sich jetzt nicht mehr sicher, ob sie es ihm sagen sollte. Im vergangenen Jahr hatte er sich derart über ihre Aktion aufgeregt, dass sie bei ihm eine Art Gefühlsarmut erahnte, die sie nie wahrhaben wollte. Verdrängung war es, das wusste sie; und sie ahnte auch, weshalb.

„Wir planen etwas, um die Leute auf die elende Raffgier und zugleich auf die armen Kreaturen da unten aufmerksam zu machen.“

„ Die Raffgier ist allgemein bekannt, die Armut da unten auch. Und ihr kommt gegen die Banker nicht an. Die sind viel zu mächtig, das weißt du.“

„So denken die meisten. Und deswegen wird nichts getan.“

Sie war so zornig, dass sie heftig atmen musste. „Und deswegen lassen sich zu viele Leute viel zu viel gefallen.“

„Was genau habt ihr vor?“

Sie hatte wieder das Gefühl, ein ganz tiefer Riss ging jetzt durch ihre 8-jährige Beziehung. Ihr wurde mit einem Mal übel. Da geht etwas verloren, was einmal schön gewesen war, dachte sie unwillkürlich. Oder sollte es nur schön sein!?

*

JUSTITIAS BRUDER

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