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1.Tag

Die Entführung geschah am frühen Morgen des 2. Juni, als der Himmel seine Schleusen geöffnet hatte. Eine Flut von Regen klatschte auf den Asphalt, und auf dem Bürgersteig liefen Leute mit eingezogenen Köpfen unter den Schirmen Richtung Bushaltestelle.

Geplant war, dass Oliver und Alex mit einem Taxi zum Zielort fahren, Oliver nach Bad Homburg zu Eberts Villa, Alex nach Königstein zu Blüschs Anwesen. Nachdem sie die Banker überwältigt und zum Gehöft gefahren haben, bringen sie die beiden Edelkarossen zurück nach Frankfurt ins Parkhaus, fahren mit dem Taxi zu Olivers Wohnung, steigen in seinen VW-Polo und fahren dann zurück zu Jana ins Gehöft.

Ebert kam aus seiner Villa, spannte den Schirm auf und hastete zum Mercedes, den er aus irgendwelchen Gründen draußen stehen gelassen hatte. Oliver wartete in dem Telefonhäuschen. Er lief dann durch den kleinen Durchgang aufs Grundstück und passte genau den Moment ab, als Ebert den Schirm im Wagen wieder schließen wollte. Er öffnete die Beifahrertüre, stieg ein und presste dem erschrockenen Mann das chloroformierte Tuch ins Gesicht. Ebert wollte schreien, aber er zuckte nur noch ein paar Mal. Oliver verfrachtete ihn auf den Beifahrersitz und schnallte ihn an. Dann fuhr er den Mercedes auf die Strasse. Durch den Regenguss achtete kaum ein Mensch auf das blitzschnelle Manöver. Die Fahrt dauerte nicht ganz eine Stunde, weil es noch stärker zu regnen begann.

Alex wartete in Königstein auf dem Gelände von Blüsch. Plötzlich sah er eine große Gestalt aus dem Haus rennen, und durch den Regenguss konnte er nicht viel erkennen.

Aber Blüsch war es nicht, den sah er Sekunden später aus dem Haus kommen.

Der Banker ging in seine Garage, bei der die Türe offen war und stieg in seinen BMW. Dann fuhr er heraus, stieg wieder aus, weil das automatische Garagentor scheinbar defekt war, lief hin und schloss es mit der Hand. Er rannte zu seinem Wagen und erschrak, als jemand auf dem Fahrersitz saß. Alex drückte schnell ein chloroformiertes Tuch in Blüchs Gesicht. Der Mann war sofort im Reich der Träume und kippte zur Seite.

Dann sprang Alex aus dem Wagen, fing Blüsch auf und manövrierte den Banker auf den Beifahrersitz.

Dann lief er wieder um den Wagen und setzte sich erneut hinters Steuer. Diese Aktion barg ein hohes Risiko, aber auch hier achtete kaum jemand durch den strömenden Regen auf diese blitzschnelle Aktion.

Ein paar Kilometer weiter hielt er an und schnallte den hin-und-her-wackelnden Blüsch an.

Die beiden Wagen der Banker fuhren sie zurück nach Frankfurt und stellten sie im Parkhaus Börse in der obersten Etage ab, nachdem sie die noch immer bewusstlosen Herren auf dem Gehöft abgesetzt hatten, wo Jana sie mit Handschellen erwartete.

Die Aktenkoffer schickten sie unüberlegter Weise per Post an die Privatadressen, was sich später als ein weitreichender Fehler herausstellen sollte. Die Parkhaus Tickets behielten sie.

*

Als an diesem Abend Artur Ebert nicht nach Hause kam, dachte sich seine Frau Eleonore nichts dabei. Schließlich war sie es gewohnt, dass er öfters tagelang wegblieb und ihr keine Rechenschaft ablegen wollte.

Auch die Ehefrau von Harald Blüsch, Konstanze, sah ab Mitternacht jede halbe Stunde auf die Uhr.

Als Harald um zwei Uhr immer noch nicht ankam, griff sie zum Telefon und weckte Eleonore, die ihr sagte, dass auch ihr Mann noch nicht zu Hause war.

„Vielleicht haben die einen draufgemacht und sind in den Club „Red Angel“ gegangen.“

Die beiden vereinbarten, den nächsten Tag abzuwarten und dann die Bank anzurufen.

*

Das Gehöft….

Eingebettet in eine Landschaft von Obstwiesen, kleinen Gewässern und hochstämmigen Obstbäumen lag zwischen Nidderau und Hammersbach im Main-Kinzig-Kreis das einstöckige Haupthaus, das von einem alten Gehöft übrig geblieben ist. An den Hauswänden rankte der immergrüne Efeu, der einen Schutz gegen Regen und Verwitterung bot.

Unten befanden sich zwei große Räume von je 20 Quadratmeter, eine Küche und ein WC. Im ersten Stock waren 3 kleine Zimmer und ein kleines WC, das nachträglich eingebaut wurde. Es führte nur eine Treppe nach oben. Und eine in den Keller.

Im Dachgestühl hatten sich Fledermäuse ihr Quartier ausgesucht.

Jana war als Teenager oft bei ihren Großeltern. Sie beobachtete die hängenden Fledermäuse im Dachgebälk mit einer Mischung aus Faszination und Angst beim Anblick der Gesichter, die wie Mäuse aussahen, beim Anblick der großen Ohren und der gewaltigen Eckzähne. Sie hörte sie, wenn sie sich durch die Laute untereinander verständigten. Der Großvater erzählte ihr, dass die nachtblinden Tiere kurze Schreie ausstießen, um durch das Echo zu wissen, wo sich Wände oder Insekten befanden. Man nannte es eine „Echoortung“.

Außerdem haben sie ein sehr soziales Verhalten. „Was heißt das?“ fragte sie ihren Großvater. „Sie leben nur in Gruppen zusammen und haben einen engen Körperkontakt mit anderen Fledermäusen.“ Er spürte, dass sie nicht genau wusste, was das bedeutete. „Sie kuscheln sich aneinander an,“ sagte er, „sie verbrauchen dadurch wenig Energie, um ihren eigenen Körper aufzuwärmen.“

Sie kuscheln…. Sie dachte, dass es für sie jetzt ein Fremdwort war.

Jana hatte den Gebäudekomplex 1990 von ihren Großeltern geerbt, nachdem ihre Eltern 1988 durch einen Autounfall verunglückten. Der Hof lag ein paar Jahre brach. Ein Unternehmer hatte sich 1995 gemeldet. Er wollte dort eine Männerstriptease-Show in den umgebauten Stallungen veranstalten und rechnete sich aus, wissbegierige Damen zu Hunderten mit Bussen anzukarren. Aber die Gemeinden lehnten das Unternehmen aus „moralischen Gründen“ ab. Dann kam Jana auf die Idee, sie anderweitig zu vermarkten. Sie vermietete sie an eine Laienschauspielgruppe, die allerdings bald wieder aufhörte. Die umgebauten Stallungen fielen dann einem Brand zum Opfer, der niemals aufgeklärt wurde.

Im Laufe der Zeit wurde das Haupthaus Treffpunkt von Liebespaaren. Jana fuhr ab und zu hinaus, um nach dem Rechten zu sehen. Sie schrubbte die Fußböden, warf herumliegende Kondome weg, putzte Fenster und beseitigte Spinnennetze.

Jana wartete ängstlich im Wohnzimmer des Gehöftes. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf, und sie betete, dass nichts schiefging. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie tausend Tode sterben würde, wenn Oliver etwas passieren würde.

Draußen regnete es noch immer, und wie der Wetterbericht vorher gesagt hatte, zog ein breites Regenband auch über Bad Homburg und Königstein.

Endlich sah sie zwei Wagen auf das Gehöft zufahren und erkannte, dass es Edelkarossen waren. Zehn Minuten später öffneten Oliver und Alex die Türen und bugsierten die beiden bewusstlosen Banker aus den Autos und brachten sie ins Haus.

Jana atmete einmal kräftig durch und warf Oliver einen glücklichen Blick zu.

„Mir fällt ein ganzer Felsbrocken vom Herzen,“ sagte sie. Oliver nickte und nahm sie spontan in den Arm, als die beiden Banker auf den Stühlen saßen und ihnen Handschellen angelegt wurden.

„Gib ihnen noch ein Quantum Chloroform, bis wir zurück sind,“ meinte Alex. Dann fuhren sie den Mercedes und den BMW zurück nach Frankfurt.

Als die beiden aus der Betäubung erwachten und die drei Entführer sahen, schoss Ebert ein fürchterlicher Gedanke durch den Kopf. Es waren die Ereignisse aus dem Jahre 1977, als der Generalbundesanwalt Buback, der Arbeitgeberpräsident Schleyer und der Dresdner-Bank Chef Ponto von der RAF entführt und ermordet wurden. Er bekam plötzlich Todesangst.

Blüsch stellte noch keine Verbindung zu damals her, er war noch stark benommen.

Oliver und Alex tasteten die beiden nach Waffen ab.

Der kleine Blüsch mit seinem runden, freundlich wirkenden Gesicht, seiner tonsurähnlichen Frisur, seinem gewölbten Bauch, seinen Wurstfingern, erinnerte Alex an einen gemütlichen, Wein trinkenden Mönch; fehlten nur noch die braune Kutte und die Sandalen. So ein Ölgemälde hing in seinem Arbeitszimmer.

Ebert dagegen mit seiner drahtigen Figur, seinen schmalen, sehr gepflegten Fingern, machte den Eindruck eines asketischen Herrenmenschen, der das Befehlen gewohnt war.

Die beiden Banker sahen zwei Männer und eine Frau, die Sonnenbrillen trugen und Elektroschocker in den Händen hielten.

Sie starrten auf die auf sie gerichteten Elektroschocker, während Oliver und Jana ihre Fesseln lösten. Dann war es totenstill im Raum. Das alles hatte für einen Bruchteil von Sekunden den Anschein einer perversen Intimität.

„Was soll das?“ herrschte Ebert Oliver an und massierte sich seine Handgelenke, „seid Ihr die neue RAF?“

Jetzt dämmerte es auch bei Blüsch, und er wurde leichenblass im Gesicht.

Als er begriff, was Ebert meinte, überwältigte ihn die Angst so sehr, dass er seine Blase nicht mehr kontrollieren konnte. Als seine Hosen nass waren, bekam er einen roten Kopf und einen stummen Wutanfall, und ballte die Hände zu Fäusten.

„Wir haben Sie hier her gebracht, weil wir Sie verantwortlich für den Tod von vielen Menschen in Äthiopien machen,“ sagte Alex nach einer Weile, um den beiden Gelegenheit zu geben, sich zu akklimatisieren.

Blüsch erstarrte. Ebert hob die Augenbrauen an.

„Verantwortlich für was?“ stammelte Blüsch und zündetet sich mit zitternden Händen eine Zigarette an und wühlte in seiner Jackentasche. „Mein Handy ist weg!“

Oliver hatte bemerkt, dass Blüschs Hose nasse Flecken hatte und konnte sich den Grund denken. Er würde ihm neue Hosen besorgen müssen.

Auch Ebert fuhr mit einer Hand in seine Jacke. „Meins auch.“ Und an Alex gewandt:

„Wer seid Ihr? Was wollt Ihr? Was soll der Blödsinn? Verantwortlich für den Tod…?“ raunzte er. Dann stand er von seinem Stuhl auf; sofort war Alex bei ihm und hielt den Schocker hoch. „Hinsetzen!“

Ebert nahm langsam wieder Platz und starrte ihn und den Schocker an.

Dann sprang er wieder hoch. „Seid ihr verrückt? Nehmt das Ding da runter…“

Oliver stellte sich auf die andere Seite. „Setzen Sie sich hin, verdammt noch mal, sonst kriegen Sie eine Ladung ab.“

Ebert sah sich von beiden Seiten eingekreist. Er setzte sich wieder hin und schaute auf seine Armbanduhr, es war kurz nach elf am Vormittag.

„ Sollten Sie versuchen, uns die Sonnenbrille herunterzureißen, und sollten Sie versuchen abzuhauen, kriegen Sie was mit dem Schocker verpasst.“

Der Regen klatschte gegen die zwei Fensterscheiben in dem Raum mit der grün gemusterten Tapete aus den 70er Jahren, den alten Stühlen, dem durchgesessenen Sofa, dem großen Eichenschrank. Die Bilder waren abgehängt, an den Wänden blieben graue Schatten, nur nicht das große Kruzifix mit dem Christus ganz oben an der Wand.

Vor den beiden Stühlen, auf denen die Banker saßen, stand ein alter Holztisch mit einer Tischlampe. An der Decke hing eine Schirmlampe. Auf der gegenüber liegenden Seite des Tisches standen 3 Stühle und daneben auf einem fahrbaren Untergestell ein Fernsehapparat mit einem sehr großen Bildschirm, zur Rechten eine Videokamera auf einem Stativ.

„Wer wir sind, ist zunächst uninteressant. Was wir wollen, werdet ihr beide im Laufe der Zeit noch erfahren.“

„Was ist mit der Kamera? Was soll das?“ Blüsch inhalierte tief, und seine Hände zitterten.

Er erinnerte sich, als damals ein Foto im Fernsehen gezeigt wurde, auf dem Hanns Martin Schleyer in Gefangenschaft abgebildet war. Er assoziierte das damalige Bild mit der jetzigen Situation, und Angstschweiß lief ihm am Nacken herunter.

„Was ist mit der Kamera?“ fragte Blüsch noch einmal.

Er bekam keine Antwort.

*

Oliver wählte in einer öffentlichen Telefonzelle die Nummer des Senders, den sich die drei ausgesucht hatten.

„Radio Television, guten Tag.“ Im Hintergrund vernahm er die typischen Geräusche einer Redaktion, Stimmengewirr, Faxe, Telefonklingel, Tippen auf der Tastatur, Lachen einer Frauenstimme, Schritte.

Oliver bat die Telefonistin, mit dem Redaktionsleiter vom Dienst verbunden zu werden.

Eine dumpfe Stimme meldete sich, nachdem er eine Weile in der Warteschleife hing. „Brinkmann.“

„ Guten Tag, Herr Brinkmann. Mein Name ist Oliver.“

„Guten Tag, Herr Oliver…“

„ Auch Sie haben ganz kurz über die Frankfurter Weltfinanzbank berichtet, die die Spendengelder noch nicht an die Bedürftigen in Äthiopien weiter geleitet hat.“

„Ja, “ sagte er nach einem kurzen Moment. „Das haben wir, und…?“

„Das, was ich Ihnen jetzt sage, dürfte Sie sehr stark interessieren.

Wir haben die Verantwortlichen Doktor Ebert und Doktor Blüsch gefangen genommen. In der Amhara Region kann der Bau eines Kinderkrankenhauses nicht vorangetrieben werden. Dort sterben täglich Menschen vor Hunger und Krankheit. Das gespendete Geld ist noch immer nicht in Äthiopien angekommen.“

Am anderen Ende war es erst einmal still. „Sie haben was bitte?“ hörte er nach ein paar Sekunden den Redaktionsleiter. Und dann: „Franz, komm mal….“ Es klickte, und Oliver wusste, dass er die Mithörtaste gedrückt hatte. „Sind Sie noch da?“

„Ja,“ sagte Oliver, „ich bin noch da.“

„…und wer ist wir?“

„ Das erklär ich Ihnen später. Wir verlangen von den Bankern, dass das Geld sofort weiter geleitet wird. Die Unterhaltung mit diesen beiden Herren zeichnen wir auf. Es ist öffentliches Interesse, was hier passierte. Wenn Sie damit einverstanden sind, bekommen Sie als erster und einziger Sender diese Video-Aufzeichnugen.“

Es dauerte einen kurzen Moment, bis der Redakteur reagierte. „ Können Sie es mal wiederholen? Ich glaub, ich hab es nicht richtig verstanden.“

„ Noch deutlicher: Wir haben die Verantwortlichen für diese unglaubliche Schweinerei gekidnappt.“

„Gekidnappt…..“ wiederholte Brinkmann. Zu seinem Mithörer gewandt, sagte er: „Da ist eine Organisation, die hat den Blüsch und den Ebert von der Frankfurter Weltfinanzbank gekidnappt.“

Sekunden später fragte Oliver: „ Haben Sie mich verstanden? Sie werden als erster und einziger Sender diese Videoaufzeichnungen bekommen, wenn wir fertig sind mit den beiden feinen Herren.“

„Sagen Sie mir bitte, wer Sie sind.“

„Später, wenn Sie mit unserem Vorschlag einverstanden sind. Wenn nicht, wenden wir uns an einen anderen Sender. Wir wollen eine Publicity, die diese krankhafte Raffgier nach Geld an den öffentlichen Pranger stellt.“

„Verstehe jetzt. Was unternehmen Sie sonst noch?“

„Wir werden die Kriminalpolizei und die anderen Medien informieren. Wir fordern die Bank auf, die sieben Komma sieben Millionen Euro sofort nach Äthiopien zu überweisen.“

Er machte eine kurze Pause.

„ Hab verstanden. Und wie lange wird Ihre Aktion dauern?“

Oliver war sich sicher: in seinen Gedanken war der Redakteur bereits bei den Einschaltquoten.

„Kommt darauf an, wann die Bank das Geld überweist und die beiden Banker Blüsch und Ebert einsehen, was sie verbrochen haben.“

Oliver hörte Brinkmann schallend lachen. Und musste selber grinsen.

„Aber wir bekommen die Videos, wenn Ihre Aktion beendet ist. Als einziger Sender?“

„Wenn Sie unsere Bedingungen akzeptieren, ja. Das Spektakel garantiert Ihnen täglich hohe Einschaltquoten zur besten Sendezeit. Denn wir vermuten, dass sich diese Aktion eine Zeit lang hinziehen wird.“

„Ich muss natürlich erst meinen Chef informieren. Sagen Sie mir, wie viel Sie verlangen.“

„Wir verlangen kein Geld für uns. Wie ich schon betont habe, geht es um die gnadenlose Aufmerksamkeit, wie groß die Raffgier der Banker ist angesichts der Folgen für die in Afrika.“ Und nach einer kurzen Pause. „Und nicht nur dort.“

Oliver hörte, wie er flüsterte.

„ Ich werde meinen Chef sofort informieren… und rufe Sie zurück. Geben Sie mir Ihre Nummer?“

„ Um sechs ruf ich Sie zurück.“

Er hing den Hörer auf.

Später informierte er Jana und Alex über das Gespräch.

Am Abend meldete sich Oliver wieder über eine öffentliche Telefonzelle, weil noch nichts Konkretes vereinbart war.

„Guten Abend, Herr Brinkmann. Was sagt Ihr Chef?“

„Der ist einverstanden. Wir bekommen als einziger Sender die Aufzeichnungen.“

„Wenn Sie die Vereinbarungen unterschreiben.“

„Was sind das für Vereinbarungen?“

„Erstens, Sie dürfen unsere Identität nicht preisgeben. Zweitens, Sie spenden einen hohen Betrag an die Deutsch-Äthiopische-Hilfsorganisation.“

„Wie viel?“

„Fünf Millionen Euro.“

„Oh….“

„Wenn nicht, jeder andere Sender würde zustimmen, wenn er an die Werbeeinnahmen denkt… und das Spektakel kann ein paar Wochen dauern. Das hatte ich Ihnen schon gesagt.“

„Ist gut, natürlich…Aber, Sie wissen, dass wir in Teufels Küche kommen, wenn wir Leute decken, die eine…Straftat begehen. Freiheitsberaubung ist eine Straftat.“

„ Eine uneigennützige Straftat. Ich weiß, nach Paragraph zweihundertneununddreißig Strafgesetzbuch bis fünf Jahre…Sie werden es überleben.“

„Hm…“

„Außerdem berufen Sie sich auf den Quellenschutz, der zu den Grundsätzen der Pressefreiheit gehört, weil diese Aktion wirklich ein öffentliches Interesse hat. Aber das muss ich Ihnen ja nicht erklären.“

„Gut, wann können wir uns treffen, um alles perfekt zu machen?“

„ Ich komme zu Ihnen in die Redaktion.“

*

So begannen sie mit ihrer spektakulären Aktion.

Sie wollten demonstrieren, wie raffgierig, verantwortungslos, ja unmenschlich in diesem Fall die zwei Banker agierten. Sie wollen aufzeigen, dass sie bewusst indirekte direkte Schuld am Hungertod in Äthiopien auf sich nehmen.

Die drei hatten sich von humanitären Organisationen Videos anlässlich früherer Aufzeichnungen besorgt, auf denen hungernde Kinder, Frauen, Männer zu sehen waren. Außerdem hatte Alex genügend Filmmaterial von seiner Reise nach Äthiopien aus dem Jahr 2003.

Nachdem die zwei Banker die ersten Abendstunden unten damit verbracht hatten, sich Bilder und Filme über die Armut und die hungernden Menschen anzusehen, mussten sie in den ersten Stock. Auf dem schmalen Gang zu den Zimmern blieb Blüsch abrupt stehen und starrte im Halbdunkel auf den Boden. Dann schrie er auf und deutete auf den Käfig, in dem sich etwas bewegte. „Was ist das?“

Oliver antwortete nicht, aber Alex machte eine kurze Bemerkung. „Das sind Ratten.“

Ebert zuckte kurz zusammen. Blüsch wechselte die Gesichtsfarbe.

Die beiden wurden jeder in ein kleines Zimmer im Obergeschoss eingesperrt. Die Räume waren spartanisch nur mit einem Bett, einem Schrank, einer Kommode, einem Stuhl, einem kleinen Tisch und einem Waschbecken ausgestattet. Es gab kein Fernsehen, keine Internetverbindung, kein Telefon und keinen Zimmerservice in dieser Edelherberge.

Blüsch protestierte verzweifelt, lärmte herum und schrie Oliver und Alex an.

Die Türen wurden hinter den beiden geschlossen und der Schlüssel von draußen herumgedreht, nachdem man ihnen gesagt hatte, dass sie nachts nur zu klopfen brauchten, wenn sie aufs Klo mussten.

Blüsch trommelte mit den Fäusten gegen die Türe, und als keine Reaktion kam, setzte er sich auf das frisch bezogene Bett. Die Ratten gingen ihm nicht aus dem Kopf. So allmählich begriff er erst richtig, dass er gefangen war. Als er die neue Zahnbürste, das Wasserglas auf der Waschbeckenablage, die neue, noch verpackte Seife und die frisch gewaschenen Handtücher sah, ahnte er, dass er und Ebert so schnell nicht wieder herauskommen würden.

Von nebenan hörte er Eberts Schritte. Und wunderte sich, dass dieser Mann in so einer Situation nach außen hin keine Gefühle zeigte.

Draußen hörte er Alex und Oliver, als sie nach unten gingen.

Er klopfte aus lauter Verzweiflung gegen die Türe und schrie, dass er krank sei und Medikamente brauche.

Oliver kam zurück und öffnete die Türe. „Was ist los?“

Blüsch stand vor ihm, sein Gesicht war puterrot. „Ich sage Ihnen, dass ich Diabetiker bin. Ich brauch mein Insulin.“

Oliver nickte. Blüsch holte mit zitternder Hand ein Rezept aus seiner Jackentasche. „Ich wollte heute in die Apotheke gehen. Alles andere ist in meinem Aktenkoffer.“

Er überreichte Oliver das Rezept, der es einsteckte, wieder nach draußen ging und abschloss.

Blüchs und Eberts Aktenkoffer wurden nach der Entführung an ihre Privatadressen geschickt. Das war ein Fehler, wurde Alex jetzt klar.

Sie waren offensichtlich noch keine Profis.

Die Fensterläden waren oben von außen mit Querbalken verriegelt. Somit konnte man sie von innen nicht mehr öffnen.

Für die zwei gab es keine Chance auszubrechen. Abwechselnd hielten Oliver, Alex und Jana oben in einem Nebenraum nachts Wache.

Am Abend hielten sie eine kurze Besprechung ab. Sie atmeten auf; der erste Schritt war getan.

„Ich finde, die haben sich noch ziemlich human benommen,“ sagte Jana.

„Vielleicht hängt das mit dem Chloroform zusammen, oder sie sind sich noch gar nicht im Klaren darüber, dass sie eine Klausur für längere Zeit haben.“

„ Als ich auf Blüsch gewartet habe, geschah was Komisches. Bevor der Kleine aus dem Haus kam, sah ich einen ziemlich großen Kerl herauskommen und vom Grundstück rennen. Durch den Regen konnte ich nicht erkennen, wer es war,“ erinnerte sich Alex.

Jana und Oliver schüttelten den Kopf. „Dann müssen wir Blüsch halt fragen.“

Und so beließen sie es.

Oliver machte die erste Nachtwache bis ein Uhr, dann sollte Alex ihn bis sieben Uhr morgens ablösen. Jana sollte sich am zweiten Tag mit einem von ihnen abwechseln.

Die zwei Räume für die Gäste waren durch einen schmalen Flur getrennt.

Oliver saß oben in dem kleinen Wach-Zimmer gegenüber an einem Tisch und las in der Akte, die er mitgebracht hatte.

Gegen zwölf Uhr hörte er etwas. Er stand auf, ging leise in den Flur und horchte an jeder Türe. Bei Blüsch war es ruhig. Aus Eberts Zimmer kamen die Geräusche; Schritte, Klappern am Fensterladen. Oliver entsicherte den Schocker und öffnete schnell die Türe. Er sah Ebert vollständig angezogen am Fenster stehen. Er versuchte gerade, am Fensterladen zu hantieren. Erschrocken drehte der sich herum.

„Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mich von Euch Idioten einsperren lasse, verdammt noch mal,“ zischte er und ging bedrohlich auf Oliver zu.

„Ich habe Sie gewarnt…“ mit diesen Worten drückte Oliver den Schocker etwa zwei Sekunden in Eberts Seite; 75.000 Volt rasten durch seinen Körper und lösten ein heftiges Muskelzucken aus. Ebert schrie auf und ließ sich auf sein Bett fallen.

Jana und Alex rannten sofort nach oben.

„Er wollt es nicht glauben,“ sagte Oliver. Dann gingen sie aus dem Zimmer und Oliver schloss wieder ab.

Ebert fühlte den stechenden Schmerz. Dann erhob er sich. Von der rechten Seite hörte er ein Klopfen. Er erkannte, dass die Wand nur aus dünnem Material war, vielleicht aus Gipswandbauplatten, auf jeden Fall nicht aus Stein.

„Artur….“ Dann wieder ein Klopfen. Ebert legte sein Ohr an die Wand.

„Harald?“

„Ja. Was war das eben?“

„Der Typ hat mir eins mit dem Elektroschocker verpasst.“

„Was ist hier eigentlich los?“ fragte Blüsch mit ängstlicher Stimme, „was sind das für Typen?“

„Keine Ahnung.“

Als Blüsch draußen Schritte hörte, war ihm klar, dass sie nicht ungestört miteinander reden konnten.

*

JUSTITIAS BRUDER

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