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Drehmaschinen und Waschmaschinen
ОглавлениеIn der Unterstufe hatten wir Werken, um zu verstehen, wie Holz, Plaste und Metalle bearbeitet werden. Ab der siebten Klasse wurde aus dem Werkraum die Fabrikhalle und das Fach heißt UTP – Unterrichtstag in der Produktion. Eine Woche Theorie, das nennt sich ESP – Einführung in die sozialistische Produktion. Interessant, wenn es um technische Dinge geht und langweilig, wenn die Stunde der Versuche ist, Marx und Planwirtschaft so zu erklären, dass eine scheinbare Schlüssigkeit entsteht. Interessanter ist da TZ – Technisches Zeichen, das gefällt mir. Werkstücke perspektivisch darstellen, Maßstäbe beachten, das hat was mit Exaktheit zu tun, die ich faszinierend finde. In dieser Woche ist PA – Praktische Arbeit – im Patenbetrieb der Schule. Jeden Wochentag garantieren zwei Klassen, eine vormittags, die andere nachmittags, die Planerfüllung. Die Arbeit fängt um sieben Uhr an und das für uns am Montag. Wir sitzen in Arbeitsklamotten im Aufenthaltsraum. Der Meister kommt und teilt uns den einzelnen Abteilungen zu. Ein nicht zu durchschauendes Lotteriespiel. Wer bei der Einteilung Pech hat, muss die neue Maschinenhalle fegen. Über mich hält jemand sein schützendes Händchen. Ich arbeite in der neuen Maschinenhalle immer an derselben Drehmaschine. Die ersten beiden Mal hat es noch Spaß gemacht. Aber jetzt, Teil aus der Kiste nehmen, dann einspannen, Maschine an, vier Minuten warten, Teil ausbauen, wieder von vorn anfangen. Der Lärm der Maschinen ist in der ganzen Halle zu hören und der Geruch von Fett, Öl und heißem Metall liegt in der Luft. Ein Gabelstaplerfahrer lässt mit ohrenbetäubendem Lärm und aus einigen Zentimetern Höhe eine Kiste am Arbeitsplatz neben mir fallen. Lässig kurbelt er am Lenkrad des Staplers, lädt eine andere Kiste auf die Gabel und rast in Richtung Lager davon.
Silkes Laune ist im Keller, als sie lustlos neben meinen Kisten steht. Ich versuche, sie zumindest mit einem Lächeln aufzuheitern.
„Silke, einer muss die Halle fegen und heute hat es dich erwischt.“
„Ha ha, du hast gut lachen und wann bist du mal dran?“
Die Antwort verkneife ich mir. Wenn Silke böse ist, kneift sie ihre großen Augen zusammen und kleine Falten stehen auf ihrer Stirn. Die Drehmaschine ist fertig mit dem Teil. Ich spanne den nächsten Rohling ein und schalte die Maschine wieder an. Nach wenigen Augenblicken fliegen die ersten Späne unter die Maschine. Silke setzt sich auf die Kiste mit den Rohlingen und hält sich am Besen fest.
„Suchst du jemand?“, frage ich sie, weil ihre Blicke durch die Halle schweifen. Sie nickt mit dem Kopf.
„Ich muss aufpassen, wenn sich der Meister blicken lässt. Efpi hat beim letzten Mal Ärger bekommen, weil sie mit Simone gequatscht hat.“
Der Arbeiter neben uns blättert geräuschvoll in der FuWo.
„Scheiß BFC!“, flucht er, als er die Auswertung der Fußballoberliga liest. Mit Wut knüllt er die Zeitung zusammen und wirft sie in die Ausschusskiste. Die Zigarette im Mundwinkel stellt er die Maschine neu ein und sitzt wenige Augenblicke später gelangweilt neben ihr.
„RIAS Berlin, eine freie Stimme der freien Welt!“, ist leise durch die Geräuschkulisse zu hören. Die Stimme kommt aus dem kleinsten Kofferradio, was ich kenne, dem Kosmos. Nicht viel größer, als zwei Seifenschachteln. Es gehört zum Arbeiter an der Drehbank hinter mir.
„Und morgen wird uns die Miera in Stabü wieder etwas über die führende Rolle der Arbeiterklasse beim Aufbau des Sozialismus in der DDR erzählen“, meint Silke und schüttelt mit dem Kopf.
„Und nächste Woche ist Leistungskontrolle in Stabü!“, ergänze ich.
„Das stört mich weniger, ich lerne den Stoff einfach auswendig“, erklärt sie. Sie schaut immer noch nach dem Meister, bevor sie ihren Kopf zu mir dreht.
„Weißt du, ich habe kein Problem damit, mir meine Hände schmutzig zu machen und an einer Drehmaschine zu arbeiten. Was mich ärgert, dass das, was ich an den Vormittagen beim UTP erlebe und mir dann die Miera in Stabü erzählt, hinten und vorn nicht zusammenpasst. Entweder kann mir das oder will mir das keiner erklären, warum da Theorie und Praxis nicht übereinstimmen. Da ist mir Physik oder Chemie viel lieber.“
„Weil es Experimente und Beweise gibt?“, frage ich sie.
„Genau deshalb“, antwortet sie mir.
„Am liebsten mache ich Experimente, wenn wir beide zusammen in einer Gruppe sind“, setzt sie ihren Satz fort. Ich bin verlegen. Silke macht mir einfach Komplimente und mir ist noch nie eines für sie eingefallen.
„Du bist immer ganz exakt, bei dir muss das Ergebnis stimmen. Wenn nicht, suchst du nach einer Erklärung. Du erinnerst mich ... .“
Hier stockt sie, ganz plötzlich, als würden ihr die Worte fehlen oder als wollte sie mir etwas nicht sagen wollen. Verdammt, damals am Waldsee hat sie den Satz auch so abgebrochen.
„An wem oder was erinnere ich dich?“, frage ich sie. Ihr Gesicht verfinstert sich. Sie überlegt eine Weile, bevor die Traurigkeit wieder aus ihrem Gesicht verschwunden ist.
„Du erinnerst mich an Wissenschaftler, die große Entdeckungen gemacht haben. Ich glaube, das sind auch so exakte Menschen wie du.“
Das Teil in der Drehbank ist fertig. Silke beobachtet jeden meiner Handgriffe, bis ich die Maschine wieder einschalte. Sie springt auf und fängt an, zwischen den Kisten zu fegen.
„Ich komme gleich wieder, der Meister ist im Anmarsch.“
Mit gespielter Begeisterung häuft sie Metallspäne und Dreck zusammen. Kommentarlos zieht der Meister an ihr vorbei und verschwindet aus der Halle.
„Hilfst du mir heute Nachmittag?“, fragt sie mich.
„Heute Nachmittag, was war da?“, grüble ich. Silke rollt mit den Augen.
„Holger, du hast ein Gedächtnis wie ein Kaffeesieb mit einem großen Loch“, wirft mir Silke vor, „wir haben uns doch erst gestern drüber unterhalten. Ich sage nur Waschhaus. Meine Eltern habe die Wäsche heute früh hingebracht und ich muss sie mangeln und abholen.“
Das Wort Waschhaus aktiviert meine Erinnerungen. Ich habe Silke versprochen mit zukommen, alleine ist die Heißmangel schwer zu bedienen. In unserer Familie habe ich diesen Job an Peggy abgegeben, ich kann die Waschweiber im Waschhaus nicht ausstehen.
„Kann ich das Teil auswechseln?“, unterbricht Silke meine Gedanken.
„Okay, ich passe auf“, meine ich und trete einen Schritt von der Drehmaschine zurück. Sie lehnt den Besen gegen die Kisten und beginnt das fertige Teil auszubauen. Silke ist konzentriert. Auch wenn sie zum UTP immer ein verwaschenes, kariertes Hemd, eine ausgebleichte, zu kurze Arbeitshose anhat und ihre Haare unter einer Schirmmütze versteckt, sieht sie einfach gut aus. Ich könnte sie ewig so ansehen.
„Fertig! Maschine einschalten?“, meint sie. Ich schrecke aus meinen Gedanken auf, schaue prüfend über das eingespannte Teil und finde keinen Fehler.
„Klar, einschalten!“, fordere ich sie auf. Sie drückt auf den Startknopf und der Meißel hebt nach wenigen Augenblicken den ersten Span ab. Es wird ruhiger in der Halle. Nach und nach gehen die Maschinen aus. Die Frühstücksverpflegung für die Arbeiter rollt an. Silkes Teil ist fertig und sie legt es zu den anderen.
„Aha, einen Haltebolzen habe ich hergestellt“, bemerkt sie, als sie die Laufkarte in der Kiste studiert. Wir müssen zum Frühstück in den Pausenraum und der liegt am anderen Ende der Halle. Ich bin in guter Stimmung, lege meinen Arm um Silkes Schulter und drücke sie an mich. Ein kleines Lächeln kommt als Dankeschön zurück.
„Eh, Kleine, kannst du deinen Freund nicht mal wegschicken!“, ruft jemand aus der Warteschlange. Ich streiche über ihren Arm und ich möchte sie beschützen.
„Gehst du wieder zu deiner Flamme Silke?“, fragt mich Peggy neugierig.
„Ich entflamme dir gleich dein Hinterteil, wenn du frech wirst“, erwidere ich und schaue ernst in ihre Richtung.
„Wann kommt’n deine Kirsche wieder mal mit zu dir. Ihre langen Haare fetzen.“
„Deine kurzen Fransen kannst du voll stecken lassen“, provoziere ich sie.
„Ich habe keine Fransen. Ich habe mich bloß heute früh nicht gründlich gekämmt.“
Sie überlegt einen Moment.
„Wie kann sich denn Silke hinsetzen? Da klemmt sie sich doch immer die Haare ein. Das ziept doch ganz doll.“
Peggy lehnt an ihrer Zimmertür und schaukelt damit hin und her. Ihren Blicken ist nicht recht anzusehen, denkt sie über das Problem der langen Haare und des Hinsetzens nach oder heckt sie schon wieder eine neue, freche Frage aus.
„Habt ihr euch schon mal richtig geküsst? Kann sie gut mit Zunge küssen?“
Wo hat meine Schwester denn das schon wieder aufgeschnappt – Zungenkuss und so,
„Schwesterlein, mache deine Hausaufgaben und frage nicht Dinge, für die du noch viel zu jung bist.“
Das hat gesessen, denn eines kann Peggy nicht ausstehen, das Wort Schwesterlein.
„Ich bin nicht dein Lästerschwein. Knutscht bloß nicht so viel rum, das gibt Knutschflecken und die kann man nicht abwaschen.“
Knurrend und mit grimmigem Gesicht schließt sie die Tür zu ihrem Zimmer.
Ich nehme meinen Schlüssel vom Schlüsselbrett, schaue noch mal zu Peggy ins Zimmer.
„Tschüss Peggy! Schau nicht so verbiestert!“
„Selber Biest!“, kommt von ihr zurück, ohne dass sie sich umdreht.
Ein helles Ding-Dong ist zu hören und wenige Augenblicke später öffnet Silke die Wohnungstür.
„Los, komm rein, wir haben noch etwas Zeit.“
Sie umarmt mich und drückt die Wohnungstür zu. Wir stehen zwischen Schuhschrank, Spiegel und Kommode. Ich wühle in den langen Haaren, meine Finger suchen nach ihrem Ohr und streicheln über das Ohrläppchen. Silke schmiegt sich wie eine Katze an mich und der Kuss wird noch leidenschaftlicher.
„Du bist gemein Holger, du weißt genau, wie du deinen Willen durchsetzen kannst“, sie schaut mich an, „aber mir gefällt es. Es ist wunderschön.“
Aus Silkes Zimmer ist ein Titel von Manfred Mann zu hören. Ihr Zimmer sieht toll aus. Ich war erstaunt, als ich es vor einigen Monaten zum ersten Mal gesehen habe. Ich hatte ein Zimmer wie bei Rita erwartet – eine Horde Plüschtiere auf der Liege; Poster von der Gruppe Kreis, Bee Gees, Abba und Middle Of The Road, wenn es hoch kommt, von The Sweet und Möbel, die aus den Kinderjahren gerettet wurden.
Silkes Zimmer sieht ganz anders aus – erwachsener eingerichtet. Die Poster kleben nicht mit ein paar durchsichtigen Klebestreifen oder Gänsehautband an der Wand, sondern sind gerahmt und exakt aufgehängt. Ein Poster ist mir gleich aufgefallen – Omega. Schulbücher und Hefter liegen auf dem Tisch und davor steht ein Stahlrohrstuhl. Die Grünpflanzen bekommen bestimmt jeden Tag Wasser, ich vergesse das manchmal. Die Leitermöbel sind die gleichen, wie bei mir, aber die Ordnung ist nicht mit meiner zu vergleichen - Kinderbücher, Jugendbücher, Fachbücher und – nicht zu vergessen „Weltall – Erde – Mensch“ – das Buch zur Jugendweihe. Die Schallplattensammlung ist nicht zu verachten, so viele habe ich nicht. Schallplattenspieler und ein Stern-Recorder stehen neben dieser.
Wir sitzen über Eck auf Silkes Liege. Silkes Kopf liegt an meinem. Die beiden Teddys schauen uns mit gutmütigen Augen an. Einer lehnt lässig am Schrank. Die alte Wanduhr tickt neben dem kleinen Regal. Auf dem Regal liegt neben Sküs-Kosmetik eine Bernsteinkette. Ein runder Spiegel hängt über einem kleinen Tisch, auf dem ein Kerzenständer mit zwei großen Kerzen steht. Da kommt es schon wieder, das Von-Silke-Träumen-Kribbel-Gefühl; Kerzenlicht, guter Musik und zärtlich mit Silke kuscheln.
„Von was träumst du“, fragt mich Silke. Ich schiebe eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht.
„Von dir“, und nach einem Kuss, „von unserer Schülerband; in dieser Reihenfolge.“
Ihre Fingerspitzen berühren meinen Hals, ihre Augen leuchten sanft.
„Du bist lieb, Holger. Ich mag dich sehr.“
Meine Blicke streifen über ihre Poster.
„Welches Poster schaust du so interessiert an?“, fragt mich Silke. Ich blicke kurz in ihr Gesicht.
„Das von Omega. Die möchte ich unbedingt live im Budapester Kis-Stadion sehen und meinen Lieblingstitel hören.“
Ihre Augen leuchten spitzbübisch.
„Darf ich raten, welcher es ist?“
Ich nicke mit dem Kopf und sie überlegt, zumindest habe ich den Eindruck.
„Dein Lieblingstitel ist bestimmt ‚Das Mädchen mit den Perlen im Haar’. Habe ich recht?“
„Stimmt!“, meine Finger gleiten über eine Haarsträhne, „deine langen Haare gefallen mir.“
Ein verlegenes Lächeln huscht über ihr Gesicht.
„Danke“, sagt sie leise. Meine Fingerspitzen schieben ein paar Haare über die Bluse, finden den Weg zu einem Knopf und versuchen dahinter zu verschwinden. Silkes greift nach meiner Hand, legt sie wieder auf die Haarsträhne zurück. In ihren Augen ist für einen kurzen Augenblick eine Spur Traurigkeit. Sie setzt sich im Schneidersitz auf ihre Liege, lehnt sich an die Wand und der Teddy verschwindet unter ihren Haaren.
„Nach Budapest möchte ich auch“, und in ihren Augen ist Fernweh zu sehen. „Budapest, das ist für mich wie ein kleines Stück große, weite Welt. Nur mit Zelt und Schlafsack und, um Forinten zu sparen, auf der Margareteninsel wild campen.“
Ihre Abenteuerlust steckt an, so stelle ich mir auch Budapesturlaub vor.
„Hauptsache, du wirst beim Campen nicht erwischt“, meine ich, „mein Bruder Jan kann da tolle Storys erzählen.“
Silkes Fernweh verschwindet mit einem Schlag aus ihren Augen und wird durch Neugier ersetzt.
„Du hast noch einen Bruder?“, fragt sie.
„Ja, Jan ist fünf Jahre älter als ich und meine Schwester Peggy fünf Jahre jünger“, erkläre ich ihr und erschrecke – wieder huscht eine Spur von Traurigkeit über ihr Gesicht. Oder täusche ich mich? Ich komme nicht weiter zum Nachdenken. Silke schaut auf ihre Uhr und springt mit einem Satz von der Liege.
„Mann, wir müssen los, sonst keifen die Waschweiber wieder rum!“
Die Sonne empfängt uns zwischen den dreigeschossigen Häusern, die ein bisschen verloren neben den Hochhäusern wirken. Silke bleibt stehen und kramt aus der Jackentasche die Schirmmütze von heute früh hervor.
„Wir haben jetzt aber nicht PA“, meine ich zu ihr.
„Das stimmt, aber mich hat so’n Waschweib schon mal dumm angemacht, wegen meiner langen Haare, Arbeitsschutz an der Heißmangel und was weiß ich noch alles“, erklärt Silke und zwängt ihre Haare unter die Schirmmütze.
Das Waschhaus sieht hässlich aus, als hätte der Architekt es vergessen und dann mit dem vom Häuserbauen übriggebliebenem Material etwas zusammenschustern müssen, was nicht einstürzt. An Fenstern muss es gemangelt haben, durch die winzigen Luken fällt kaum Licht. Ich öffne die Tür zum Waschhaus und sie schabt laut über die Fliesen. Lärm und aufdringliche Wärme empfangen uns. Links neben uns wuselt eine Waschfrau zwischen riesigen Wäschepaketen herum. In den einäugigen, in die Wände eingelassenen, stählernen Waschmaschinen kreiseln Wäschestücken. Die Feuchte, vermischt mit Waschmittelgeruch, wabert durch das Gebäude und versucht durch eine offene Dachluke zu entweichen. Kleine, wie Leiterwagen aussehende, Holztröge sind vollgestopft mit tropfender Wäsche und ein schmales Wasserrinnsal strebt auf unsere Füße zu.
Eine Frau, groß, schlank, hässlich, mit weißem Kittel, Haarnetz und schwarzen Gummistiefeln kommt auf uns zu.
„Ich will die Wäsche von Rechlin mangeln“, fordert Silke.
Die Frau verschwindet im verglasten Verschlag links neben uns, blättert im Kalender, zieht hastig einen Zug an der Zigarette, die im Aschenbecher liegt, und geht zielstrebig auf einen Holztrog zu. Ihn vor sich herschiebend läuft sie platschend durch die kleinen Wasserpfützen und stellt ihn neben einer Mangel ab.
„Los geht’s“, meint Silke zu mir und wir einigen uns, wer auf welcher Seite steht. An der Mangel hinter Silke arbeiten zwei Frauen aus dem Waschhaus; Kittel, Haarnetz und schwarze Gummistiefel wirken wie eine Uniform. Die eine klein, mehr breit als hoch und wenn sie sich bewegt, schwabbelt ihr ganzer Körper. Die andere in die Höhe geschossen, mehr hoch als breit und ihre Bewegungen sind staksig. Die Lampe über einer Waschmaschine signalisiert durch wildes Blinken, dass die Wäsche fertig ist. Lustlos strebt aus irgendeiner Ecke eine Frau auf die Maschine zu, öffnet die Luke, bekommt noch einen Schwall Wasser ab und zerrt die Wäsche in einen Trog. Mit quietschendem Geräusch rollt sie damit zu den Schleudermaschinen und wuchtet alle Wäsche mit einem Mal durch die Öffnung. Wie ein Roboter drückt sie auf irgendwelche Knöpfe und dann surrt die Schleuder los. Aus einem riesigen Wäscheberg rafft sie dreckige Wäsche, stopft sie in den Trog und trabt roboterhaft zur Waschmaschine zurück. Das Waschhaus und die Waschweiber sind gruselig für mich. Selten wechseln sie ein Wort und ihre Gesichter sind kein bisschen schön. Entweder haben sie ihre Schönheit verraucht, versoffen, nie welche gehabt oder soviel Schminke im Gesicht, dass die Gravitation ausreicht, sämtliche Gesichtszüge entgleisen zu lassen. Nur ein Mann arbeitet im Waschhaus – der Chef der Truppe, dürr, als würde es noch Lebensmittelkarten geben. Hier will ich nie arbeiten, auch nicht in den Ferien. Ich habe hier immer das Gefühl, auch bei uns gibt es ein Oben und Unten.
„Holger, träumst du!“ ruft mir Silke zu, „man, das ist mein Bettlaken, denkst du, ich will auf einem Faltengebirge schlafen!“
Das Laken verschwindet mit etlichen Falten in der Mangel und kommt auf Silkes Seite genauso wieder aus der Maschine.
„Warten Se’ mal!“, und die dicke Frau von der Nachbarmaschine schwabbelt mit einer Sprühflasche auf mich zu.
„Danke!“, sage ich zu ihr und Silkes Bettlaken verschwindet ohne Falten in der Mangel, während die Frau wieder zurück schwabbelt. Der Trog ist fast leer, noch ein paar Handtücher und die Waschhausfolter ist vorbei.
Endlich, wieder im Freien, tief durchatmen, um den Waschhausgeruch loszuwerden.
„Warte mal Holger!“, und Silke setzt den Wäschekorb ab. Sie greift zur Schirmmütze, zieht sie vom Kopf und ihre Haare fallen breit über ihren Rücken.
„Auf meine langen Haare bin ich unheimlich stolz, da kommt keine Schere ran“, meint sie und ich muss ihr recht geben – Silke hat wunderschöne, lange Haare.
„Und, wie war das Waschhaus?“, fragt Silkes Mutter aus der Küche.
„Mutti, die Frage kannst du stecken lassen, du weißt doch genau, dass ich die Waschweiber nicht ausstehen kann“, antwortet Silke.
„Aber es muss auch Frauen geben, die solche Arbeiten machen“, belehrt sie Silke und bemerkt mich.
„Holger kann die Waschweiber auch nicht ausstehen“, meint Silke.
„Guten Abend, Holger“, begrüßt mich Silkes Mutter. Ich gebe ihr die Hand und schaue in ihr Gesicht. Es ist Silkes Gesicht, nur ein klein wenig älter, aber genauso freundlich. Die Haare fallen bis auf die Schultern und sind genauso blond wie Silkes.
„Bleibst du zum Abendbrot?“, bittet mich Silke und blickt kurz zu ihrer Mutter. Warum eigentlich nicht? Meine Eltern werden mich schon nicht vermissen. Ich werde von Silke in die Küche geschoben und bekomme von ihr die Teller in die Hand gedrückt.
„Welchen Tee willst du trinken?“, fragt mich Silkes Mutter.
„Tee?“, frage ich ungläubig. Tee gibt es bei uns bloß, wenn ich erkältet bin. Zum Glück fällt mir der letzte FDGB-Urlaub mit meinen Eltern ein, da gab es früh Tee, den ich genießbar fand.
„Wenn Sie Hagebuttentee haben, den nehme ich.“
Mein Wunsch wird erfüllt und Silke bedroht mich mit einer Gabel.
„Ab ins Wohnzimmer, Teller verteilen!“, ordnet sie an und geht mit mir los. Eine tolle Schrankwand und eine gemütliche Sesselecke gegenüber vom Buntfernseher ist das erste, was mir auffällt.
„Was sind deine Eltern eigentlich vom Beruf?“, will ich wissen und verteile die Teller auf dem Tisch. Silke legt das Besteck daneben.
„Meine Mutti ist Lehrerin, Deutsch und Musik, und Vati projektiert bei der Reichsbahn alles Mögliche, Brücken, Bahnhöfe“, erklärt sie mir. Die Eltern als Lehrer, daran denke ich lieber nicht, manchmal lasse ich auch alle Fünfe gerade und Schule egal sein.
„Muss du deine Hausaufgaben abends immer vorzeigen?“
Silke wirft mir einen bösen Blick zu.
„Nein, das muss ich nicht. Meine Eltern vertrauen mir!“, antwortet Silke. Meine dumme Bemerkung hätte ich lieber stecken lassen sollen.
„Entschuldige, ich habe das nicht so gemeint.“
Silke schaut mich an, verdammt, jetzt muss ich was tun. Ich gehe auf sie zu, umarme und drücke sie an mich. Meine Finger sind schon wieder auf dem Weg zu ihrem Ohr. Ihre Hand bewegt sich langsam über meinen Rücken. Mein Blick fällt auf ein Foto in der Schrankwand. Silke, bisschen älter als Peggy und neben ihr ein Junge, nein eher ein junger Mann, vielleicht fünf oder sechs Jahre älter als sie, der seinen Arm um ihre Schulter legt und sie schaut ihn ganz lieb an. Wer ist das? Silke hat doch keine Geschwister. Ich bin neugierig. Kann ich sie fragen? Lieber nicht, ich bin gerade in ein Fettnäpfchen getreten und habe keine Lust auf das nächste.