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Wie jedes Jahr seit ungefähr dem Urknall fing auch 1962 mit dem 1. Januar an. Neujahr hätte als 1. Mai durchgehen können. Nur Wölkchen am Himmel, falls überhaupt, und Temperaturen, die Eis und Schnee zu Fremdwörtern machten.

Die Atombombenversuche der Amis und Russen seien schuld, sagte Vater, gelegentlicher Zeitungsleser und Nachrichtenhörer, und dass sich, wissenschaftlich absolut erwiesen, bei uns demnächst Wüsten, Kamele und an vierzig Grad im Schatten gewöhnte Mohammedaner breitmachen würden, außerdem Gestalten mit zwei Köpfen und drei kurzen Beinen. Mutationen im Atomzeitalter nennt man das, sagte Vater und schob das Kinn vor.

Ich wollte mithalten, beweisen, dass ich intellektuell auf dem grünen Zweig, nicht auf dem von Vater erhofften absteigenden Ast war. Mutation kommt aus dem Lateinischen, sagte ich. Mutare heißt wechseln, verändern.

Maulheld, Wichtigtuer, antwortete Vater so unvermittelt und aufgebracht, dass ich zusammenzuckte.

Er legte an Lautstärke noch einen Zahn zu.

Wer verdient denn hier das Geld? Der blöde Arbeiter oder der Herr Gymnasiast mit seinem ausgestorbenen Latein, das kein Mensch braucht?

Auch fünf Jahre, nachdem Leni mich gegen seinen Willen zur Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium angemeldet hatte, war er immer noch wütend. Er hätte mich nach der Volksschule gern auf einem Krawattenposten bei der Spar- und Darlehens- oder Krankenkasse gesehen, vielleicht sogar, wenn ich mich auf die Hinterbeine stellte, in einem warmen Vorzimmer der Stadtverwaltung.

Leni war das zu wenig. Das Abitur musste her, damit ich Architekt, Rechtsanwalt, Zahnarzt mit eigener Praxis und einem halben Dutzend adretter Helferinnen in strahlend weißer Uniform werden konnte. Nummer 1, nicht Nummer Nullkommanichts!

Enttäuscht, ja verbittert, nahm Vater meine Versetzungszeugnisse und die fehlenden Eiskunstlaufnoten bei Klassenarbeiten zur Kenntnis.

Ich persönlich wäre am liebsten Lebensretter geworden. Unfallopfer wiederbelebt, Nichtschwimmer unter Einsatz des eigenen Lebens eisigen Fluten entrissen, eine fünfköpfige Familie aus ihrem lichterloh brennenden Haus befreit. Hochdekoriert und dabei sympathisch bescheiden geblieben, so die Zeitungen unisono über mich. Leni würde die Artikel ausschneiden, rahmen lassen und im Wohnzimmer aufhängen, und Vater wäre stolz auf mich, auch wenn man es ihm kein bisschen anmerkte.

Leni war von den Mutationen des Atomzeitalters nicht im geringsten betroffen. Ihr Gesicht hätte auf die Titelseite der Revue oder Quick gepasst. Ihre Beine hörten gar nicht auf, so lang waren sie. Vater fehlten zwei, drei Zentimeter an Lenis Größe, dafür war er sieben Jahre älter und seine Muskulatur deutlich ausgeprägter. Die führte er in warmen Monaten im ärmellosen Unterhemd vor. Wenn ihm der Krieg nicht dazwischengekommen wäre, hätte aus ihm mit Sicherheit eine Sportskanone werden können, Ruderer, Gewichtheber, am liebsten Boxer, behauptete er gern. Jetzt nicht direkt ein Max Schmeling, fügte er um Bescheidenheit bemüht hinzu, aber für die Rheinland-Meisterschaft im Halbschwergewicht hätte es immer gereicht. Und mit den Westfalen wär ich auch fertig geworden! Vater ballte die Hände zur Faust, deutete einen Schwinger an, einen Lucky Punch, lächelte wie ein K.o.-Sieger in der ersten Runde.

Mit ihrer Sonnenbrille sah Leni aus wie die Filmschauspielerin Sophia Loren auf dem Plakat, das vor dem Kino in der Oberstadt hing. Aber nicht, um schick auszusehen, trug Leni dunkle Gläser. Sie wollte ihr rechtes Auge nicht zeigen. Das hatte einen dunkelblauen, teilweise ins Rötliche schillernden, geschwollenen Rand. Vater war am Silvesterabend die Hand ausgerutscht.

Versehentlich, wie er seitdem beteuerte.

Seine Nerven waren schon vor dem Ausrutscher durch Lenis Bitte strapaziert worden, eigenes Geld verdienen zu dürfen. Kellnern, Putzstellen oder am Fließband in der Fabrik, irgendwas. Als Leni dann ungefähr eine Stunde, bevor die Feuerwerksraketen in die Luft flogen, in der Quick blätterte und nebenbei sagte, der Schauspieler Curd Jürgens sähe wirklich unverschämt gut aus, hatte Vater endgültig genug. Da war es vorbei gewesen mit Gemütlichkeit, Keller Geister-Perlwein und unbeschwerter Radiomusik, mit Fleischwurst-Schnittkäse-Gewürzgurken-Häppchen, obendrauf der krönende Klecks Mayonnaise. Ehe es überhaupt angefangen hatte, war das neue Jahr eigentlich schon im Mülleimer, über Wupper, Jordan und Styx.

Außer dem immer noch falschen Wetter passierte am Morgen des dritten Januar Folgendes: nichts. Ich hatte Geburtstag, wurde fünfzehn, aber alle taten so, als sei es bloß ein hundsgemeiner Mittwoch.

Mein Tag der Tage war wegen des ungeschickten Datums nie das Fest der Feste gewesen. Nach dem Trubel im Dezember war abgesehen von mir niemand auf Hurra, Apfelkuchen mit Streusel und vor allem Bescherung erpicht. Aber bisher war man, wenn auch lethargisch, seinen elterlichen Pflichten nachgekommen und hatte irgendwas rausgerückt. Preisreduzierte, abgegriffene Nach-Weihnachts-Ware, und seit ich im zweistelligen Alter war, einen Fünfmarkschein. Geld, das mich für eine Stunde zum König machte.

Nun ließen sie mich nicht mal eine Zehntelsekunde regieren. Es gab keinen Schein und schon gar keine Jeans. Weihnachten war ich wenigstens noch vertröstet worden, angeblich hatte es Lieferschwierigkeiten gegeben. Erst hieß es, der wochenlange Streik der schwarzen Baumwollpflücker und Näherinnen in den Südstaaten der USA habe mir die Tour vermasselt, dann wollte man vom Hosenverkäufer gehört haben, das Schiff mit meinem Exemplar an Bord sei in einen Sturm geraten und südlich von Portugal gesunken. Stoff für einen Abenteuerroman. Wenn meine Rabeneltern so weitermachten, wurden sie noch zu heißen Anwärtern auf den Literatur-Nobelpreis.

Aber an diesem dritten Januar bemühten sie sich nicht mal um eine Ausrede.

Beim Frisör hatte ich in einer Illustrierten ein Foto von Marlon Brando gesehen, auf dem er ein weißes T-Shirt und Blue Jeans trug. Sich so in der Öffentlichkeit zu präsentieren, sei ein Unding höchsten Ausmaßes, stand empört und fettgedruckt darunter. Ich riss die Seite heimlich raus. Seitdem hing der skandalös gekleidete Schauspieler neben meinem Bett. Vater regte sich auf, stellte mir eine Frist, die er dann vergaß.

Leni küsste mich auf die Stirn, strich mir übers Haar. Sie versprach, einen Kuchen zu backen. Das Versprechen war eher eine Drohung. Leni hatte kein Händchen für die Konditorei, sie stand mit Hefe, Mehl und der richtigen Menge Zucker auf Kriegsfuß.

Abends zuvor hatte sich Vater bereits alle Mühe gegeben, mir sämtliche Geburtstagsflausen auszutreiben. Er erinnerte sich laut daran, wie er mit fünfzehn in der Fabrik schuften musste, 48-Stunden-Woche, Minimum.

Von wegen Gymnasium mit Gaius Julius, Sinus und Kosinus! Schläge und Tritte vom Vorarbeiter hatte es zum Geburtstag gegeben. Und nun war in der Firma die Krise ausgebrochen, obwohl sich alle krummgelegt und auf Lohnerhöhung verzichtet hatten. Entlassungen drohten, mickriges Stempelgeld. Die Zeit der großen Sprünge: vorbei.

Ich hätte schwören können, dass er mich reinlegen wollte. Hatte gehofft, er wollte meine Vorfreude klein reden, um dann umso größer auftrumpfen zu können. Mit Blue Jeans und einem Plattenspieler mit Radio kombiniert. UKW, Mittelwelle, alles. Die verdiente Entschädigung für den flauen Gabentisch am Weihnachtsabend: ein Etui mit Rasierutensilien und ein kratziger Pullover.

Havenstein, mein Nebenmann in der Klasse, hatte am 25. Dezember Geburtstag, auch er war Kummer gewöhnt, aber das tröstete mich nicht im geringsten. Ich ging in mein Zimmer, schloss mich ein, sah mich nach etwas um, das ich zerstören konnte. Das dämliche Kindersparschwein aus Ton musste dran glauben. Gute Wahl, meine Laune besserte sich sofort, als ich zwischen Scherben die Münzen und einen kleinen Schein sah. Wenn keiner was für mich übrig hatte, würde ich mich eben selbst beschenken. Ich steckte eine Handvoll Silbergeld ein und Streichhölzer.

Leni saß mit hochgerafftem Rock in der Küche und strich ihre Fingernägel rot an. Mit den Zehen war sie schon fertig. Um besser sehen zu können, hatte sie die Sonnenbrille abgenommen. Ihr dunkelblaues Auge mutierte allmählich zu dunkelgelb. Der Backofen: kalt wie die Antarktis. Kein Grund zur Traurigkeit.

Die Straßenbahn überfuhr eine tote Taube. Kinder spielten mit Silvestermüll. Jehovas Zeugen malten den Teufel an die Wand. Die Luft roch nach Chemie und Brauerei. Vor der Eisdiele am Kaiserplatz mit mulmiger Aussicht auf meine Schule hing ein Zigarettenautomat. Ich zog wie immer Senoussi, weil mir das Bild auf der Packung gefiel. Eine Horde Araber, einige mit Gewehr. An einer Fahnenstange war ein Halbmond befestigt. Wie bei Karl May, Durch die Wüste.

Am liebsten hätte ich mir sofort eine angesteckt. Aber wenn mir zufällig ein Lehrer begegnete, wäre Feuer an Bord. Benachrichtigung der Eltern, Strafarbeit, auf dem nächsten Zeugnis eine Sechs in Führung. Dem Pechvogel Havenstein war genau das passiert.

Ich schwitzte in meinen Wintersachen. Der italienische Eissalon war bis April geschlossen. Die anderen Gastarbeiter waren geblieben. Sie standen in Gruppen herum, quatschten durcheinander, schauten Frauen hinterher, hielten die Blicke der Einheimischen aus.

Fünfzehn Treppenstufen unter dem Kaiserplatz konnte man kostenlos pinkeln und Schlimmeres. Frische Frühlingsluft adieu, übertriebene Heizungswärme brachte üble Gerüche zur Entfaltung. Am besten schloss man Augen, Nase und die Ohren auch.

Als ich mit der Senoussi fertig war, überließ ich die Kippe den Untiefen der Kanalisation und überlegte, mir noch eine anzustecken. Da hämmerte es gegen die Tür.

Wird das heute noch was? Hast du die Scheißerei?

Freundlichkeit und Diskretion waren nicht die hervorstechendsten Eigenschaften der Klofrau. Ich hatte es immer schon geahnt, dass sie, neugierig und berufserfahren, wie sie war, genau wusste, wer wie lange in welcher Kabine hockte. Sie hieß Frau Tillmanns. Graue Drahtwolle auf dem Kopf, ihre Zahnprothese schwamm in einem Einmachglas, das auf einem Tisch neben ihr stand. Sie hatte Probleme mit ihrem Gebiss, es drückte, triezte, piesackte, und sie wurde nicht müde, jedem Kunden in ihrem Alter davon zu erzählen.

Zusätzlich dekorierten zerlesene Zeitschriften, ein Aschenbecher und eine Blumenvase ohne Blumen den Tisch mit dem Prothesen-Aquarium. Ich opferte zehn Pfennig, um es mir nicht ganz mit der Tillmanns zu verderben. Die Alte wischte das Geldstück in eine Tasche ihrer lindgrünen Kittelschürze und lächelte wie eine Schnecke, der man gerade die Behausung gekündigt hatte.

Abends wartete ich an der Bushaltestelle auf Christel. Sie war zwei Jahre älter als ich und machte eine Ausbildung zur Backwarenfachverkäuferin. Christel wohnte mit ihren Eltern bei uns im Haus, Parterre, und war schon eine richtige Frau. Als sie ausstieg, hatte sie eine prall gefüllte Brötchentüte in der einen und ein Tablett mit Kuchen in der anderen Hand. Nicht verkaufte Backwaren durfte sie nach Geschäftsschluss mitnehmen. Auch wir profitierten davon.

Ich öffnete meine rechte Hand und zeigte Christel drei Markstücke und ein Zweimarkstück. Heute nicht, sagte sie und scheuchte mich weg wie einen aufdringlichen Straßenköter.

Zuhause kläffte Vater. Sein Essen wurde darüber kalt. Lenis rote Fuß- und Fingernägel regten ihn auf. Vater brüllte, Leni wolle wohl ihr eigenes Geld im Puff verdienen. Sie sehe aus wie eine, die für nen Zehner zu haben sei. Mit jämmerlicher Stimme bat ich ihn aufzuhören. Quasi als mein Geburtstagsgeschenk. Aber selbst das war ihm zu viel. Er nahm seinen Teller und warf das Essen (Kartoffelpüree, Rotkohl, rheinische Bratwurst, Apfelkompott) auf den Boden.

Christel reichte mir ein Fläschchen Nagellackentferner, um das ich sie im Auftrag Lenis gebeten hatte. Der Kohlenofen glühte, die Wachskerzen am nadelnden Weihnachtsbaum flackerten. Unsere bunte Tanne war bei dem von Curd Jürgens verursachten Silvesterversehen auf die Straße geflogen.

Ich hätte dann fünf Minuten Zeit, sagte Christel in ihrer gelangweilten Art. Hast du das Geld dabei?

Grete und Jupp, ihre Eltern, waren nicht da. Jupp war einen Tag nach Neujahr mit Tränen in den Augen zur Kur nach Bad Salzuflen gefahren. Er hatte es mit der Lunge, dem Kreislauf, der Leber, eigentlich mit allem. Und Grete sei bei Bekannten, die einen Fernsehapparat hatten, sagte Christel.

Eiskunstlaufen kucken. Marika Kilius und Hans-Jürgen Bäumler. Europameisterschaft gegen die Russen, glaub ich.

Sie hatte ihre langen schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Wenn sie Krach mit ihrem Vater hatte, nannte der sie eine Zigeunerin. Jupp machte nach Genuss von Alkohol keinen Hehl daraus, dass er Christel für einen Seitensprung hielt, einen Fehltritt. Gretes Kuckucksei. Er war früher, bevor der Zahn der Zeit zugebissen hatte, blond gewesen, Grete seit dem ersten Tag ihres Lebens fuchsig rot.

Ich bin zwar kein Kunstmaler, sagte Jupp, Anstreicher auch nicht, aber wenn man Blond und Rot mischt, kommt ganz bestimmt kein tiefes Schwarz dabei raus.

Christel zog ihren selbst gestrickten Pullover aus, den weißen Büstenhalter mit Rosenstickerei. Dabei schaute sie zur Zimmerdecke hoch.

Hast du warme Pfoten?, fragte sie. Wehe, wenn nicht!

Ich schob Hose und Unterhose bis zu den Knien herunter. Mein Herz schlug, als wollte es mir die Rippen brechen. Wir setzten uns nebeneinander aufs Sofa, das nicht mehr das neueste war. Man sank tief ein, die Federung war hinüber. Christel stellte griffbereit einen Suppenteller neben sich. Sie fasste mich an, und ich war sofort startklar. Christel roch gut, nach Frühling, Kuchen und ein wenig nach Mokka.

Langsamer und nicht so fest, bettelte ich.

Hier im Wohnzimmer war es viel gemütlicher als in der Waschküche oder hinter dem Kaninchenstall, wo wir uns sonst trafen.

Du nuckelst wie ein Säugling, sagte Christel. Es fiel mir nicht leicht, die Spielregeln einzuhalten. Keine Küsse auf den Mund, keine Griffe in den Schritt. Kein Knutschfleck, schon gar nicht am Hals.

In der Wohnung über uns war alles ruhig. Leni weinte nicht mehr, und Vater war zum Skatabend gegangen. Ich bring ihn um, hatte ich gesagt. Wenn du das noch mal sagst, antwortete Leni, bin ich nicht mehr deine Mutter. Ist das klar?

Ich war nicht die größte Leuchte in Biologie, aber was Leni da sagte, war natürlich Quatsch mit Soße. Wie sollte das gehen, nicht mehr meine Mutter zu sein?

Bist du soweit, kommt es?

Christel brachte den Suppenteller zum Einsatz, damit das olle Sofa und der abgewetzte Teppich nichts abkriegten. Gegen die Abmachung versuchte ich, Christel auf den Mund zu küssen.

Bodensee

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