Читать книгу Bodensee - Dietmar Sous - Страница 7
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ОглавлениеVater schwor, Leni nie wieder etwas anzutun. Eher würde er sich die eine Hand mit der Axt abhacken, die andere unter die Kreissäge legen. Zum ersten Mal sah ich ihn weinen.
Leni trug keine Sonnenbrille mehr, ihr blaues Auge, ihr Veilchen, war verblasst. Schniefend fütterte Vater den Ofen im Wohnzimmer mit Kohlen und Briketts. Das Radio spielte Sonntagsschlager und meldete die Halbzeitergebnisse der Fußball-Oberliga West. Meiderich führte vier zu null gegen Marl-Hüls. Ich wusste, dass der Titicacasee in Südamerika lag. Der westliche Teil des Sees gehörte zu Peru, der östliche zu Bolivien. Meiderich und Marl-Hüls hatten wir in Erdkunde nicht durchgenommen. Auch Hamborn und Sodingen nicht. Der Zwischenstand dieser Paarung lag noch nicht vor, der Radiosprecher bat um Verständnis.
Leni tröstete Vater mit Küssen und Worten. Alles vergessen, kann doch jedem mal passieren. Es war ja auch mein Fehler. Du siehst doch tausendmal besser aus als der Curd Jürgens!
Den Namen will ich hier nie mehr hören!, antwortete Vater, fast schon wieder ein wenig bedrohlich. Aber dann zauberte er ein Geschenk nach dem anderen herbei. Zehn rote Rosen. Pralinen, eine Flasche Sekt. Neuen Christbaumschmuck. Und sogar an mich hatte er gedacht, aber nicht an meine Jeans. Er machte mich zum Besitzer eines Schweizer Messers. Stolz, als hätte er es erfunden, demonstrierte er nacheinander die eingebauten Werkzeuge: Klinge, Dosenöffner, Korkenzieher, Schere, Feile, Nagelreiniger und Pinzette. Kaum hatte er mir das Wunderwerk in die Hand gedrückt, sah ich die Gebrauchsspuren. Ein Fundstück. Oder für den Preis eines gebrauchten Taschentuchs gekauft.
Neue Sektgläser hatte der Zauberer nicht im Programm, die waren immer noch Mangelware. Silvester war nicht nur der Weihnachtsbaum aus dem Fenster geflogen.
Leni schmeckte der Sekt auch aus einem Wasserglas. Es dauerte nicht lange, und sie hatte rote Wangen, wurde plapperig. Wie gut es uns gehe, und dass sie noch nie im Leben so schöne Rosen gesehen habe. Sie schaltete die Wohnzimmerleuchte aus, forderte Vater auf, mit ihr zur Radiomusik zu tanzen.
Schatten an den schrägen Wänden des Zimmers. Meine Eltern tanzten eng und verträumt. Vater turtelte, flirtete mit der eigenen Frau. Ich nutzte die Gelegenheit und trank Sekt aus der Flasche. Das machen nur die Beine von Dolores, sang der Sänger. Ich dachte an die langen Beine im Neckermann-Katalog. Vater fasste Leni an den Po. Zischen im Ofen, Poltern und das Geräusch von splitterndem Glas in der Wohnung über uns. Der sonst lautlose Holtschmidt störte kurz die Sonntagsruhe.
Er wohnte seit einem Jahr im Haus, trug meistens eine Aktentasche bei sich und sonst vorwiegend Beige. Er grüßte knapp, wenn überhaupt, und hüllte sich darüber hinaus in Schweigen. Der abgenutzte Motor seines Opels weckte morgens um halb sechs die ganze Straße. Jupp wollte beim Frühschoppen in Addis Pilseck gehört haben, der Mitbewohner sei, was auch immer das war: Chemielaborant. Mehr wusste keiner über ihn. Selbst Grete, die sonst alles rauskriegte, stand vor einem Rätsel. Komischer Heini, wenn der mal kein Spion für den Osten ist.
Der Sekt perlte in meinem Bauch und in meinem Kopf. Erst, als Nachrichten gesendet wurden, hörte die Tanzerei auf. Du wirst von Tag zu Tag jünger und schöner, mein Schatz, sagte Vater und liebäugelte leidenschaftlich. Ich bin verrückt nach dir wie am ersten Tag. Hab dich gar nicht verdient. Überhaupt nicht.
Ich hatte genug von seinem Geschwätz und machte mich auf den Weg zu meinem Grönlandzimmer. Dort gab es keinen Ofen, da blühten die Eisblumen von November bis Ende März.
Moment, sagte Leni, hab ganz vergessen, dir das Geschenk zu geben. Ich muss unbedingt was tun gegen meine Vergesslichkeit. Hab gelesen, Knoblauchpillen sollen gut sein. Aber die schmecken bestimmt eklig.
Geschenk?, sagte ich, und mein Herz schlug etwas höher. Nach dem tollen Schweizer Messer war jede Steigerung möglich.
Leni erzählte vom Einschreiben ihres Bruders Hannes, das gestern angekommen sei. Zuerst habe sie einen Schreck bekommen, denn Einschreiben bedeuteten meist nichts Gutes. Diesmal aber doch!
Mein Onkel hatte es im Leben zu was gebracht. Bestens eingeheiratet, war er Geschäftsmann in Lindau am Bodensee geworden, Damenoberbekleidung. Dringende Angelegenheiten in Österreich und der Schweiz, so Leni weiter, hätten meinen Onkel davon abgehalten, mir rechtzeitig zum Geburtstag zu gratulieren. Und dass er uns alle zu sich in den Süden einlade, nach Bayern, am besten in den Sommerferien.
Dann der Satz der Sätze: Als verspätetes Geburtstagsgeschenk hat er einen Fünfziger für dich beigelegt. Deshalb der eingeschriebene Brief.
Jetzt war mein Herz zur Stelle und zeigte, was es konnte. Das Geld würde ich in eine Blue Jeans und in Christel investieren, da musste ich nicht lange überlegen.
Die beschwipste Leni fuhr mit den Fingern durch Vaters dichtes, zurückgekämmtes Haar. Anscheinend merkte sie nicht, dass es brenzlig wurde. Vaters Gesichtsausdruck hatte sich völlig verändert. Er konnte seinen Schwager nicht ausstehen. Ein Angeber war der für ihn, und die Modebranche so was Ähnliches wie das Puffgewerbe.
Sei nicht wieder böse, Schatz, aber ich würd mir wirklich gern eine Arbeit suchen, sagte Leni, sprunghaft von Bayern zurück nach Nordrhein-Westfalen.
Dann hätten wir bald einen Fernsehapparat und vielleicht ein kleines Auto. Und das mit der Krise in deiner Firma wäre auch nicht so schlimm.
Zack, war die Versöhnungsfeier beendet. Vater stieß Leni mit beiden Händen von seinem Schoß, so heftig, dass sie beinahe hinfiel.
Willst du mich vor allen Leuten lächerlich machen? Sollen die mich für einen Schlappschwanz halten, der seine Familie nicht allein ernähren kann?
Das Radio tat, als wäre nichts geschehen. Es spielte weiter Liebeslieder.
Vater übertönte die Musik mit seinem Geschrei. Gegen die stürmisch gedrückte Türschelle kam er jedoch nicht an.
Herr Welter, Vaters Vorgesetzter in der Fabrik, unfähig und überbezahlt, wie wir wussten, sagte, dass etwas furchtbar schief laufe während der Sonntagsschicht. Vater war Vorarbeiter, Experte, ohne ihn konnten sie einpacken. Er war nicht nur rechte Hand, er war im Gegensatz zu Herrn Welter auch Hirn. Das erzählte er uns nicht selten, Leni strahlte ihn dabei an.
Der Vorgesetzte sprach hektisch von einer üppigen Zulage im Erfolgsfall, während er Leni mit Röntgenaugen verschlang, und dass sein Wagen mit laufendem Motor vor der Haustür stehe. Vater warf sich in Mantel und Schuhe, sagte Jawohl und Jawoll und Herr Welter und Sofort. Und dass er, keine Sorge, die verflixt verrutschte Bohrung schon in den Griff kriegen werde.
Die Sportfreunde Hamborn 07 blieben nach einem überharten Schlagabtausch mit dem SV Sodingen weiterhin in Tuchfühlung mit dem Tabellenkeller, meldete das Radio. Die bisher sportlich forsche Stimme des Sprechers klang bedauernd. Vielleicht kam er aus Hamborn, wo auch immer das war.