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Havenstein heftete sich an meine Fersen, folgte meiner Fährte, um mit Karl May zu sprechen. Er war hinter mir her mit seiner Dankbarkeit, ließ nicht locker. Wenn ich mit einem nicht gesehen werden wollte, war er es. Ich schüttelte ihn ab, und schon war er wieder da.

Inzwischen bereute ich, nach der Sportstunde aufs Klo gegangen zu sein, um eine zu qualmen, statt ihn wie der Rest der Klasse mit gelbem und braunem Schnee zu mästen, ihn anzuspucken und zu vermöbeln.

In meiner Schultasche fand ich ein Buch mit den Fotografien eines Naturforschers. Der hatte seine Aufmerksamkeit nicht der Schönheit des Regenwaldes und der Steppe geschenkt, sondern den dort lebenden unbekleideten Schönheiten.

Havenstein legte nach, diesmal mit Aktstudien aus dem jungen Paris. Die Bücher hatte er bestimmt seinem Vater geklaut. Der verdiente sein Geld mit einer Leihbücherei. Für ein paar Pfennige konnte man sich dort mit Romanen, Zeitschriften, Cowboy- und Soldatenheften eindecken. Leni gehörte auch zur Kundschaft. Manchmal schickte sie mich mit einer Liste los. Angélique – Hochzeit wider Willen. Unbezähmbare Angélique. Oberarzt Doktor Willemsen und Schwesternschülerin Martha – Liebe besiegt jeden Widerstand. Havensteins Vater war unsympathisch überfreundlich. Er hatte eine Glatze wie ein schlecht gerupftes Hähnchen und rauchte stinkende Zigarren.

Als Havenstein mir kurz nach den Pariser Aktstudien mit einem Fotoband namens Däninnen ohne Hüllen und Tabus nachstellte, sagte ich: Lass mich verdammt noch mal in Ruhe! Was willst du eigentlich?

Wir könnten was zusammen machen, antwortete er.

Was zusammen machen? Was denn?

Havenstein dachte nach. Straßenbahnen fuhren hin und her, im Standesamt wurden Ehen geschlossen, nebenan vor Gericht wieder geschieden, es wurde geboren und beerdigt, Tauwetter setzte ein, Weihnachten, eben erst vorbei, rückte näher, auf der Welt brachen dreizehn Kriege aus.

Eine Bank überfallen, sagte Havenstein endlich ohne die Spur eines Lächelns. Oder Jenniges killen, tagelang und qualvoll. Irgendwo im Wald, in einer Höhle. Danach Pip und Tóth. Wir könnten eine astreine Mordserie starten!

Damit vielleicht?, sagte ich und holte das Schweizer Messer aus meiner Jackentasche. Ich war bisher nicht dazu gekommen, es auf den Müll zu werfen oder in den Bach, der sich, verseucht von den Beigaben anliegender Fabriken, mitten durch die Stadt quälte.

Havenstein war übergewichtig und behäbig, ein Plumpsack. Bei der kleinsten Aufregung kriegte er eine rote Birne, das große Zittern und kalte Schwitzen. Er ging jedem Zweikampf aus dem Weg, war eine Witzfigur beim Bockspringen, ein trauriger Clown am Reck. Einen perfekteren Bankräuber und Serienmörder hatte die Welt noch nicht gesehen.

Nicht schlecht, sagte Havenstein und prüfte nacheinander die verschiedenen Funktionen der Schweizer Wunderwaffe.

Kannst du haben, sagte ich gnädig. Ich nehm dann die Däninnen, wenn es unbedingt sein muss. Und ab jetzt lässt du mich in Ruhe, kapiert?

Postkartengroße, gerahmte Schwarzweiß-Fotos von Marilyn Monroe, Kuss- und Schmollmund, hingen hier und da, umspielten den Aufruf Neue Kommunionsanzüge eingetroffen! Nyltesthemden mit kurzem und langem Arm türmten sich bis an die Decke. Neuheit! Gebundene Krawatten mit Gummizug – Kein lästiges Knoten mehr!

Der Inhaber des Ladens trug Bügelfaltenhose, karierte Weste und ein abgenutztes Lächeln. Am Ziel meines Wunsches fühlte ich mich plötzlich ernüchtert, fehl am Platz.

Bei Herrenmoden Kleber hießen Blue Jeans Texashosen. Auch das Wort Nietenhosen fiel ungestraft. Exakt zwei Stück, sagte Herr Kleber missmutig, seien auf Lager. Mehr nicht, die Nachfrage sei zu gering.

Die eine Jeans hätte tadellos einem ausgewachsenen Elefantenbullen gepasst, die andere orientierte sich an den Maßen eines Hungerkünstlers.

Ob ich mich nicht mit einem zeitlos schicken Knickerbocker anfreunden könnte?, fragte Kleber. Äußerst kleidsam! Er hantierte mit einem Maßband herum, bereit, mich in einen modisch unterbelichteten Assistenten von Nick Knatterton zu verwandeln. Ich trat einen Schritt zurück.

Und weiße T-Shirts?

Kleber musste nachdenken, was ihm sichtlich wenig Vergnügen bereitete.

Meinst du vielleicht – Unterhemden? Die führe er in jeder Größe, doch nur gerippt. Ich wollte aber ein T-Shirt wie Marlon Brando, ohne Fein- oder Doppelripp.

Die Ladenglocke schrillte, ein junges Paar trat streitend ein. Klebers Mitarbeiterin, Ton in Ton und Dutt, kam hinter einem Vorhang hervor und bot ihre Dienste an.

Mein Mann braucht ein neues Hemd, sagte die Frau. Am besten ein Nyltesthemd. Die sind doch bügelfrei, oder?

Ich brauch kein neues Hemd, sagte der Mann gereizt.

Braucht er doch!, sagte die Frau.

Absolut bügelfrei, sagte die Verkäuferin und wies auf die aktuelle Sonderaktion hin. Beim Kauf von vier Nyltesthemden kriegte man ein fünftes geschenkt.

Ich ging mit der Jeans für Klappergestelle in die Umkleidekabine. Der Einstieg in die Hose gelang, das Hochziehen bis zur Hüfte mit Anstrengung auch, aber dann war Endstation. Ich konnte die Luft anhalten, den Bauch einziehen soviel ich wollte, ich kriegte die Hose nicht zu. Sie war mindestens zwei Nummern zu eng.

Ich nehm sie, sagte ich.

Der Ladeninhaber reagierte nicht. Er hörte angestrengt dem Mann zu, der kein Kunde sein wollte.

Nyltest fühlt sich an wie Plastik, sagte der. Und es knistert so abscheulich. Und wenn man schwitzt, klebt das scheiß Zeug fest –

Wann schwitzt du denn schon mal?, antwortete seine Frau. Du hast die Arbeit bestimmt nicht erfunden!

Kleber mischte sich ein.

Hand aufs Herz, mein Herr! Bügeln Sie oder bügelt Ihre Frau Gemahlin?

Halts Maul, Hosenscheißer, sonst bügel ich dir eine rein, sagte der Mann und trat einen Berg aus preisgünstigen Nyltesthemden um. Die Verkäuferin kreischte, der Ladeninhaber gab mit Gebrüll bekannt, im Krieg eine Ausbildung im Nahkampf absolviert zu haben. Mit Auszeichnung! Red kein Blech, antwortete der Nyltestverächter. Komm doch, du Würstchen!

Seine nyltestbesessene Frau wechselte die Seiten, lief zu ihm über. Sie machte Wind mit ihrer Handtasche, schrie: Ja, komm doch!

Die Verkäuferin griff zu einem Brieföffner und hielt ihn wie eine Stichwaffe. Herr Kleber versuchte schnaufend, verschiedene Griff- und Tret-Techniken an den Mann zu bringen. Nach den Nyltesthemden gerieten nun auch sauber gestapelte Winterpullover in Unordnung. Mühelos und unbemerkt hätte ich die halbe Bude ausräumen können, aber die Versuchung war keine für mich. Nur für die Jeans konnte ich mich erwärmen. Ohne dass mein Fünfziger Schaden nahm, machte ich mich aus dem Staub.

Am nächsten Morgen waren zwei Polizisten da. Einer baute sich vor der Tür des Klassenzimmers auf, um den Fluchtweg zu versperren. Er stemmte die Hände in die Hüften und warf böse Blicke, als säßen besonders schwere Jungs vor ihm. Der zweite Beamte, offenbar der Einsatzleiter, flüsterte resolut auf den Mathelehrer ein.

In der Klasse war es still wie auf Tauchstation. Und das alles wegen einer Hose, die so knalleng war, dass sie mir nie im Leben passen würde. Bei Vater würden garantiert sämtliche Sicherungen durchbrennen, wenn er erfuhr, was ich verbrochen hatte, und Leni hörte ich schon sagen: Ich bin nicht mehr deine Mutter.

Neben mir kratzte sich Havenstein seinen gerade verheilten Pickel wieder blutig. Vielleicht hatte er sich auch bei Kleber oder anderswo bedient.

Meine Zunge fühlte sich an wie Schmirgelpapier. Wenn man sich rechtzeitig stellte, konnte sich das strafmindernd auswirken, hatte ich gehört. Doch bevor ich geständig den Arm heben konnte, informierte uns der Einsatzleiter, unsere Jacken und Mäntel auf dem Flur seien bereits durchsucht, jetzt sollten alle ihre Schultasche geöffnet vor sich auf die Bank stellen, um die Maßnahme zu erleichtern. Auch die Hosentaschen würden einer Kontrolle unterzogen. Wer nicht kooperiere, mache sich verdächtig und werde sofort inhaftiert. Alle aufstehen!

An der Decke fing eine Lampe nervös an zu flackern. Allmählich wurde es draußen hell. Der Mathelehrer saß mit gefalteten Händen hinter seinem Pult. Er schien nicht mehr damit zu rechnen, eine Antwort auf die Frage zu erhalten, ob der Graph der gegebenen Funktion symmetrisch sei. Ich hätte gern eine Antwort auf die Frage gehabt, wie man eine Jeans in der Hosentasche verstecken konnte, selbst wenn es sich um so ein schmächtiges Exemplar handelte, wie ich es erbeutet hatte. Und wo war Kleber, zwecks Identifizierung des Täters? Er brauchte doch bloß mit dem Finger auf mich zeigen und schon war Schluss mit der Razzia, der Staatsaktion.

Statt des Belastungszeugen tauchte Jenniges auf. Er war Havensteins Mordserie also noch nicht zum Opfer gefallen. Der Oberstudienrat lebte, auch wenn er aussah, als würde er jeden Moment abkratzen. Mit offenem, schneebedecktem Mantel, die Haare wirr, eilte er fahrig von hier nach da, mit Augen, denen anscheinend alles Grauen, das die Welt zu bieten hatte, eben erst begegnet war.

Die Polizisten merkten kurz auf, gingen dann aber weiter ihrer Arbeit nach, von der Jenniges nicht viel zu halten schien. Er ermittelte auf eigene Faust. Dabei setzte er eine seiner Spezialmethoden ein: das wortlose Augenverhör. Auge in Auge mit dem Oberstudienrat, galt man nach der Spielregel als überführt, geständig, zur Strecke gebracht, sobald man seinem starren Blick auswich.

Mit Havenstein gab er sich nicht lange ab, er entließ ihn nach kurzem Fixieren. Ihm traute er keine Tat zu, schon gar keine Untat. Mir wohl umso mehr. Um zusätzlichen Druck auszuüben, kam Jenniges mir fast hautnah. Ich konnte seinen Pfeifenraucheratem riechen, sein Aftershave, vor allem die Ausdünstungen seiner grenzenlosen Wut.

Bodensee

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