Читать книгу Gier auf der Waagschale - Dietmar Steinbrenner - Страница 4
– I – BLAUES BLUT
ОглавлениеViele Menschen haben nach den Ereignissen in den Jahren 1983 und 1984 versucht, diesen blassen Mann besser zu verstehen. Doch um zu verstehen, wie es dazu kam, dass er an diesem verschneiten Dezembertag im Eiles saß, musste man zuerst Hildegard Chvala verstehen. Sie war gerade zwanzig Jahre alt gewesen, als sie nach dem zweiten Weltkrieg eine Stelle als Schreibkraft am Landesgericht für Zivilrechtssachen in Wien ergattert hatte. Nach ihrem Abschluss an einer für ihren Geschmack zweitklassigen Handelsschule und einer kurzen Zeit als Angestellte bei einer Großhandelsfirma hätte sie auch eine Stelle als Sekretärin in einer beliebigen Wiener Anwaltskanzlei als einen Aufstieg empfunden, aber der Justizpalast war für sie wie ein Lottogewinn. Sie fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben wohl. Sie fühlte sich, als wäre sie endlich angekommen. Ihr Vater, der selbst Vorarbeiter in einer Weberei war, war damals sehr stolz auf sie.
„Du brauchst etwas Sicheres“, hatte er immer gesagt, „schau doch, dass du zum Staat kommst.“
Nun hatte sie seinen Wunsch erfüllt, und dementsprechend groß war seine Freude, als Hildegard ihm strahlend von ihrem neuen Arbeitsplatz erzählte. Aber die Sicherheit und die gute Bezahlung, die Beamten damals zugutekamen, waren für sie zweitrangig. Für sie war diese Stelle mehr als das. Hildegard hatte sich in ihrem Leben schon immer fehl am Platz gefühlt. Die ärmlichen Verhältnisse, in denen sie mit ihren Eltern und Großeltern aufgewachsen war, hatten in ihr schon früh ein Verlangen nach mehr geweckt. Ihr neuer Arbeitsplatz bei Gericht bestätigte nur, was sie schon immer von sich gedacht hatte: Hildegard war zu Besserem bestimmt. Sie fühlte sich wohl, wenn sie am Morgen die Stufen zum Haupteingang des Justizpalastes hinaufschritt, vorbei an den zwei gewaltigen, steinernen Löwen, hinein in die riesige, marmorgetäfelte Eingangshalle. Schon das erste Mal, als Hildegard die prächtige Statue der Justitia sah, die in der großen Halle am Kopf einer massiven Treppe thronte, fühlte sie sich zu der steinernen Göttin der Gerechtigkeit hingezogen. Das ganze Gebäude strotzte vor Macht und Größe, und genau hier gehörte Hildegard Chvala hin. Sie wurde mit Begeisterung ein Teil der Gerichtsmaschinerie, in der täglich über die Klagen dutzender ihrer Mitmenschen verfügt wurde. Und dabei spielte sie eine wesentliche Rolle. Damit der Gerechtigkeit täglich genüge getan werden konnte, brauchte es damals ein regelrechtes Heer an Stenografinnen und Maschinschreiberinnen. Sie tippten Reinschriften, sorgten für ordentlich geführte Akten, erledigten den Schriftverkehr, führten Verhandlungskalender, kurzum: Sie hielten den gesamten Apparat am Laufen. Hildegard nahm ihre Aufgabe sehr ernst, und so wurde sie rasch zu einer geschätzten Hilfskraft am Landesgericht. Die Anerkennung, die ihr die wichtigen Herren Anwälte und Richter für ihre akribische Arbeit erbrachten, schmeichelte ihr. Noch mehr aber genoss sie die Ehrfurcht, die ihr die normalen Bürger in den Hallen der Justitia entgegenbrachten. Wenn sie sicheren Schrittes durch die Gänge marschierte, konnte sie die Beklommenheit in den Gesichtern der Wartenden sehen und fast spüren. Hier wurde über die Klagen der Menschen entschieden, ja geurteilt! Und Hildegard war ein Teil dieses Urteilsprozesses. Sie hatte es mit zwanzig Jahren zur erhabenen Amtsperson geschafft.
Nur wenige Jahre, nachdem Hildegard Chvala als Schreibkraft angefangen hatte, lernte sie ihren künftigen Mann kennen. Sie wurde auf einen unauffälligen, eher zurückgezogenen Gerichtsrat namens Wolfgang Freisinn-Wartenau aufmerksam. Er war Ende vierzig, kaum mittelgroß und hatte beileibe nicht die Maßfigur eines Herzensbrechers, aber er war gebildet und konnte durchaus lustig sein. Außerdem gefiel ihr sein adeliger Name, auch wenn er in republikanischen Zeiten auf dem Papier zu einem Doppelnamen mit Bindestrich verkommen war. Von Liebe hätte Hildegard vermutlich nicht gesprochen, dennoch fanden die beiden zueinander. Innerhalb eines Jahres heirateten Hildegard und Wolfgang. Sie zog zu ihm in die geräumige Altbauwohnung im dritten Wiener Gemeindebezirk, die er von seinem Vater zum spottbilligen Friedenszins übernommen hatte, und schon zehn Monate später wurde die Ehe mit einem Sohn gesegnet. Ganz in der Tradition des österreichischen Beamtenadels taufte ihn Hildegard auf Franz-Josef. Von diesem Moment an war ihr Glück vollständig. Nicht einmal der unerwartete Tod ihres Mannes ließ sie zwei Jahre später länger als einige Wochen trauern, so sehr konzentrierte sie sich auf ihren Sohn. Um sich dem Kleinen voll und ganz widmen zu können, kündigte Hildegard mit dreißig Jahren am Landesgericht. Als adelige Witwe eines Richters würde es ihr an nichts mangeln. Sie würde Franz-Josef zu einem außergewöhnlichen Menschen erziehen. Er würde all das werden, was sein Vater niemals war: ein brillanter Jurist, der angesehenste Richter im ganzen Justizpalast, eines Tages vielleicht sogar Gerichtspräsident.
Was Kindererziehung anging, gab es schon immer verschiedenste Ansätze. Manche Eltern versuchen, ihre Kinder von dem Moment an, an dem sie unsere Welt betreten, als eigenständige Menschen zu behandeln. Sie versuchen, ihre Talente zu fördern, ohne sie zu drängen, wollen ihnen über ihre Ängste hinweghelfen, ohne sie zu zwingen. Hildegard Chvala gehörte nicht zu diesen Eltern. Sie formte ihren Sohn von Anfang an wie ein Stück Ton. So wie sie es sah, war die Angelegenheit einfach: Ein Säugling war ein leeres Blatt Papier. Alles, was es brauchte, um diesen neuen Menschen zu einem produktiven, fleißigen und hochwertigen Mitglied der Gesellschaft zu machen, war die richtige Füllfeder, die richtige Hand. Ein billiger Kugelschreiber konnte auch auf teurem Pergament nur Schund produzieren. Eine feine Feder aber konnte auch auf billigem Papier Unschätzbares zaubern. Eltern vermittelten ihren Kindern schließlich die ersten und prägendsten Eindrücke. Sie waren die Götter, denen die Kleinen Glauben schenkten.
Hildegard lebte ihrem Sohn von Anfang an das Leben einer elitären Gesellschaftsschicht vor. Dass dieses Gehabe schon damals antiquiert war, schien ihr immer herzlich egal zu sein. Sie legte großen Wert auf Manieren und ein für einen Adeligen angemessenes Gebaren. Dass Franz-Josef dadurch mit vierzehn Jahren schon eine alte Seele war, zeigte ihren Erfolg. Als der Turnlehrer einmal etwas an seiner sportlichen Leistung auszusetzen hatte, blieb der kleine Bub selbstsicher.
„Das macht nichts, schon bei den Römern haben die Reiter über Fußsoldaten triumphiert.“
Er war strebsam, intelligent und hatte einen außerordentlichen Sprachschatz. Dafür waren ihm Rücksicht und Empathie fremd, betonte seine Mutter doch immer wieder, dass derartige Gefühlsduseleien einen gemachten Mann nur zurückhalten konnten. Dass seine körperlichen Leistungen zu wünschen übrig ließen, war nicht der Rede wert. Sportliche Leistung war ohnehin zweitrangig, wie seine Mutter meinte. „Das braucht dich nicht zu interessieren. Fußball ist etwas für Proleten. Dein Geist ist dein wichtigstes Instrument.“ Der Bub legte schon früh eine gewisse Überheblichkeit an den Tag, die nicht immer ohne Folgen blieb. Eines Tages kam Franz-Josef weinend nach Hause, nachdem ihn der Geografielehrer Herr Rednicek einen kleinen Snob genannt hatte. Er erinnerte sich später noch des Öfteren an die Worte seiner Mutter.
„Menschen unterer Gesellschaftsschichten sind eben neidisch, mein Sohn. Dieser Herr Rednicek ist ja sowieso als mieser Sozi bekannt. Er kommt aus kleinen Verhältnissen, er kann ja gar nicht anders. Ärgere dich nicht.“
Um ihrem Kind ihr Weltbild glaubhaft zu machen, scheute Hildegard keine Lüge. Ihren eigenen Vater, der Vorarbeiter einer Weberei gewesen war, machte sie in Erzählungen zum Abteilungsleiter. Sie selbst war natürlich, wenn sie ihrem Sohn von ihrem Leben erzählte, auch keine einfache Schreibkraft gewesen. Sie hatte die Leitung einer Gerichtsabteilung übergehabt. Alles, was nicht in ihr Selbstbild passte, in ihr neugewonnenes Leben, wurde bedenkenlos geschönt. So zimmerte sich Hildegard Freisinn-Wartenau eine Biografie zurecht, die ihr angemessen schien. Aber so sehr sie sich auch bemühte, ihrem Sohn die kleinen und auch die großen Lügen möglichst glaubhaft zu machen, hie und da fielen Franz mit der Zeit Ungereimtheiten auf. Seine Mutter zu hinterfragen, wäre ihm im Traum nicht eingefallen, also blieb ihm nur ein einziger Schluss. Unliebsame Wahrheiten musste man nicht akzeptieren, sondern verändern. Jeder konnte sich seine Wirklichkeit selbst konstruieren, wenn er es nur geschickt anging.
Hildegard hatte ihren Sohn derart im Griff, dass es auch in dessen Pubertät zu keinen Aufständen kam. Als seine Schulkameraden auf Skikurs fuhren, meldete ihn seine Mutter prompt krank.
„Was willst du denn dort?“, fragte sie ihn damals, „für Polsterschlachten, Alkoholexzesse oder andere Dummheiten bist du doch viel zu reif.“
Er stimmte seiner Mutter zu. Auch als Franz-Josef schließlich mit Auszeichnung maturierte und die Klasse eine Maturareise organisierte, war er nicht mit dabei. Stattdessen fuhr er mit seiner Mutter nach München, um dort eine Woche lang Museen, Theatervorstellungen und Konzerte zu besuchen. Während seine Mitschüler ihre ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht machten, teilte er sich ein Bett mit Mama. Sie war sehr stolz auf ihren gut geratenen Sohn.