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– II – EIN FREIHERR ALS RICHTER
ОглавлениеEs war Herbst 1962, als der achtzehn Jahre alte Franz-Josef Freisinn-Wartenau in Wien am Ring aus einer Straßenbahn ausstieg und vor der Hauptuniversität stand. Er wirkte fast ein bisschen verloren, schmächtig und klein vor den großen, geschwungenen Treppen des Haupteingangs. Er war nervös. Was, wenn seine Mutter sich doch geirrt hatte? Wenn das Studium der Rechtswissenschaften doch nicht seine Bestimmung war und er vielmehr zum Tischler geeignet war? Vielleicht hätte er doch den Grundwehrdienst ableisten sollen. Seine Klassenkameraden hatten gemeint, das bilde den Charakter. Er zupfte an der Krempe seines schwarzen Hutes, den ihm seine Mutter zur Matura geschenkt hatte. Unsinn. Mama wusste, was am besten war. Sie hatte bis jetzt noch immer recht behalten. Er sollte dankbar sein, dass Mama ihn davor bewahrt hatte, beim Militär monatelang angebrüllt und gedemütigt zu werden. So etwas war unter seiner Würde. Dass ihm in dem Gefälligkeitsgutachten, das seine Mutter von einem befreundeten Arzt für ihn organisiert hatte, allergisches Asthma attestiert wurde, war ihm zwar unangenehm, aber am Ende hatte es funktioniert, und nur das zählte. Er umklammerte seine Aktentasche fest mit dem rechten Arm, nahm seinen Hut in die linke Hand und betrat die Universität. Zu seinem Wohlwollen fiel ihm sofort auf, dass seine künftigen Kommilitonen ordentlich gekleidet waren. Keiner der anderen jungen Herren war ohne Krawatte erschienen. Hier konnte er nicht falsch sein. Er ging zunächst auf der Suche nach der Fakultät für Rechtswissenschaften etwas unsicher durch die Gänge, fand aber bald einen Lageplan und gelangte kurz darauf zur zuständigen Stelle für Neueinschreibungen. Vor dem Zimmer konnte er hören, wie drinnen ein wahres Gewitter an Tastenanschlägen grollte. Er musste an die Geschichten seiner Mutter denken. Sie hatte ihm oft erzählt, wie viel sie in ihrer Abteilung bei Gericht immer zu tun gehabt hatte. Wie sie einen Raum voller Schreibkräfte bei Ordnung halten hatte müssen. Franz klopfte kurz, dann öffnete er die Tür und trat ein. An einem mit Schreibutensilien und Papier vollgeräumten Tisch gegenüber der Tür saß eine untersetzte Frau mit gekräuselten, aschblonden Haaren und einer dicken, runden Brille. Sie war die einzige in dem Zimmer. Ihre runden Gläser erinnerten ihn an Insektenaugen. Überhaupt glich die Dame einer Gottesanbeterin, die Ellbogen hatte sie nach oben gerichtet und bearbeitete so die Schreibmaschine. Nach ein paar Sekunden unangenehmer Stille sah sie von ihrem Dokument auf, ohne den Kopf zu bewegen. „Was denn jetzt? Brauchen Sie etwas?“
Er räusperte sich verlegen.
„Grüß Gott, ich bin hier, um mich einzuschreiben. Für Rechtswissenschaften“, verkündete er feierlich.
Die Gottesanbeterin sah ihn ungläubig an. „Ja ist schon recht, aber da müssen Sie bitte draußen auf dem Gang hinter den anderen Platz nehmen. Sie werden dann aufgerufen.“
Sie hob den rechten Zeigefinger, ohne die Hand von der Tastatur zu nehmen, und deutete auf den Gang hinaus.
Franz senkte den Kopf und verließ das Sekretariat. Tatsächlich warteten fünf angehende Studenten auf ordentlich aufgereihten Stühlen vor dem Zimmer auf dem Gang. Er war so zielstrebig gewesen, er hatte sie gar nicht bemerkt.
„Tür!“, zischte die Insektenfrau hinter ihm.
Er schloss die Tür behutsam, ging schweigend an den anderen vorbei und setzte sich auf einen der hellbraunen, stoffbezogenen Sessel.
„Ganz schön grantig, die Gute. Nicht wahr?“, raunte sein Sitznachbar.
Franz sah verlegen zu ihm auf. Sein Nachbar hatte dunkelbraune, kinnlange Haare, die gar nicht zu seinem kantigen Gesicht passten.
„Ja, sie scheint etwas ungehalten“, erwiderte er und lächelte gequält.
„Naja, sie sitzt den ganzen Tag hier in dieser Kammer, da muss man ja schlechte Stimmung haben“, sinnierte der Bursche weiter.
Nach einer kurzen Pause beugte er seinen Kopf näher zu Franz, woraufhin dieser etwas zurückwich.
„Wahrscheinlich ist sie einfach unbefriedigt“, raunte er leise.
Franz wusste nicht, was er darauf sagen sollte.
„Du weißt schon“, der Bursche bewegte zwei Finger in der Luft, als würde er etwas reiben.
Franz sah auf den Boden. „Nein, ich weiß nicht.“
Ihm war nicht klar, wovon sein Sitznachbar sprach, aber er hatte keine Lust mehr, weiter mit ihm zu reden.
„Ungeöltes Getriebe quietscht eben.“
Der kantige Mann lachte leise und klopfte Franz auf die Schulter, der reflexartig zusammenzuckte und den Fremden zornig ansah.
„Das ist wohl wirklich nicht passend. Und lustig ist es auch nicht. Lassen Sie mich in Frieden.“
Die Situation war ihm peinlich, er kannte diesen Mann doch gar nicht. Was, wenn den unverschämten Herren am Ende noch jemand hörte? Der Sitznachbar setzte mit einem Grinsen im Gesicht zur nächsten Bemerkung an, da unterbrach ihn Franz scharf. „Jetzt ist es wirklich genug.“
Der Fremde sah ihn kurz stutzig an, dann schüttelte er den Kopf und wandte sich ab. Das hatte sich Franz anders vorgestellt. Zuerst beflegelt und dann noch vulgär angeredet, und das in der Ausbildungsstätte für die Richter und Anwälte des Landes. Als er später nach Hause kam und seine Mutter am Fauteuil sitzend und lesend im Wohnzimmer antraf, erzählte er ihr nichts von diesen Enttäuschungen. Er erzählte ihr, er sei mit offenen Armen empfangen worden und hätte gleich Freunde gemacht.
Im Laufe des Studiums wurde es für Franz-Josef nicht leichter, was seine Mitmenschen anging. Er fand keinen richtigen Zugang zu seinen Kommilitonen. Die meisten empfand er als frech, vorlaut und grob. Die Fakultät für Rechtswissenschaften hätte man damals nicht gerade einen Hafen für revolutionäres Gedankengut genannt. In diesem Umfeld stellten junge Männer die Welt ihrer Väter kaum in Frage, eher versuchten sie den Familienoberhäuptern nachzueifern. Frauen waren in der Minderheit. Die wenigen Studentinnen, die durch die Gänge der Universität spazierten, trugen Rock und Bluse und wurden den ganzen Tag lang von ihren männlichen Kollegen angeflirtet. Von Studentenprotesten war nichts zu spüren, eher wollten die angehenden Anwälte möglichst schnell zu einem Abschluss kommen, um ihre eigene Karriere starten zu können. Und doch, selbst in dieser konservativen Umgebung stach Franz-Josef hervor. Er gab sich immer etwas zu korrekt, was seine Altersgenossen unter Spaß verstanden, waren für ihn ungehobelte Frechheiten und billiger Gossenhumor. Wenig überraschend kam sein geziertes Gehabe bei anderen jungen Studenten nicht sonderlich gut an. Dazu kam, dass er aussah, als wäre er direkt vom Hof des letzten Kaisers angereist. Hut, Schal, Mantel und Aktentasche hatte er immer bei sich. Sein blasses, rundliches Gesicht wirkte durch seine dicke Hornbrille noch runder. Obwohl er keine Freunde hatte, war er doch schnell jedem seiner Studienkollegen ein Begriff. Sie vermuteten in ihm einen eitlen, besserwisserischen Snob, der sich zu gut für ihresgleichen war. In seinen Augen strahlte er Unnahbarkeit und Überlegenheit aus, weswegen es ihm auch kaum etwas ausmachte, dass ihn Gleichaltrige mieden.
Das erste Jahr ging vorbei, und Franz-Josef hatte sich an der Universität gut eingelebt. Mit seinen Abgaben war er stets pünktlich, bei Vorlesungen war er strebsam und wach. Klubs oder studentischen Vereinigungen blieb er bewusst fern, bei abendlichen Trinkgelagen traf man ihn nie an. Hochmütig blieb er der stolze Außenseiter, schloss keine Freundschaften und litt heimlich unter dem Spitznamen, den man ihm bald verpasste: Franzpepi, die jungfräuliche Greisin. Er tröstete sich damit, dass diese gemeine Verballhornung nur die Erfindung neidischer Proleten sein konnte, denen sein schöner Adelsname ein Dorn im Auge war. Seine Apanage besserte er durch Nachhilfe für Studienversager auf, von denen es genügend gab. Auch die besten seiner Kollegen waren im Vergleich zu ihm höchstens mittelmäßig, und so gab es für ihn immer jemanden zu unterrichten. Mit dem verdienten Geld legte sich Franz-Josef eine Pfeife zu, weil er fand, dass sein rundes Kinn dadurch markanter wirkte. Aber bald verleideten ihm der Tabaksaft im Mund und an den Fingern sowie das ständige Putzen der Pfeife diesen Genuss. Er fand Ersatz im Rauchen von Zigarren, die er sich meist am Abend genehmigte. An Wochentagen rauchte er die preiswerte, heimische Marke Großglockner, und zu besonderen Anlässen wie etwa dem Namenstag seiner Mutter gönnte er sich kubanische Romeo y Julieta. Dazu trank er anfangs, wenn er zuhause in seinem Fauteuil saß, Cognac oder Whisky, hatte aber anschließend immer schreckliches Kopfweh und beließ es schließlich bei einem abendlichen Glas Sherry Oloroso. Grundsätzlich ging es Franz-Josef gut mit diesem Lebenswandel, er war auf bestem Wege, das Jus-Studium in Rekordzeit zu absolvieren. Und doch nagte immer wieder etwas an ihm, wurmten sich nicht zu unterdrückende Bedürfnisse in seine Gedankengänge. Es war an einem lauen Sommerabend 1964, als diese Regungen wieder in seinem Bewusstsein an die Oberfläche kamen. Er saß zuhause in seinem Zimmer und hatte Auszüge aus dem Strafgesetzbuch vor sich auf dem Tisch liegen, daneben ein Glas mit etwas Oloroso und in einem Aschenbecher eine Großglockner. Er hatte die Texte bereits die letzten zwei Stunden studiert und seine Gedanken begannen abzuschweifen. Wenige Tage zuvor war ihm eine Studienkollegin aufgefallen. Zuerst war sie ihm furchtbar auf die Nerven gegangen, weil sie während einer Vorlesung direkt vor ihm gesessen war und ununterbrochen mit ihrer Sitznachbarin getratscht hatte. Er wollte gerade etwas sagen, als sie sich zu ihrer Nachbarin beugte, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Dabei war sein Blick auf ihre beträchtliche Oberweite gefallen. Aus seinem Blickwinkel spannte sich die weiße Bluse der jungen Dame gerade so, dass Franz-Josef für einen kurzen Moment die nackte Haut unter dem Gewand ausmachen hatte können. Dieses Bild hatte ihn verstummen lassen, da war der Moment auch schon wieder vorbei und sie hatte sich wieder dem Vortragenden zugewandt. Aber der Anblick ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. So sehr er auch versuchte, keine frivolen Gedanken zuzulassen, konnte er sich doch nicht helfen. Er rieb sich die Augen und versuchte das Bild des Busens aus seinem Kopf zu verbannen. Was für ein Flittchen dieses Mädchen doch sein musste. Auf so etwas musste eine Dame doch achten, das durfte nicht passieren. Er griff nach der Flasche Sherry, füllte das Glas halb voll und trank es in einem Zug aus. Dann stand er abrupt auf, sammelte sein Portemonnaie und seine Taschenuhr ein, ging in den Vorraum und zog sich seinen Burberry Mantel über, nahm seinen Hut und hatte die Hand schon auf der Türklinke, als er aus dem Wohnzimmer die Stimme seiner Mutter hörte.
„Franz-Josef, was machst du denn?“
Er überlegte. „Ich gehe in ein Konzert, Mama.“
Kurze Stille.
„Welches Konzert? Ohne mich? Wir wollten doch erst nächste Woche ins Akademietheater gehen“, sagte seine Mutter etwas leiser und mit hörbarer Enttäuschung in der Stimme.
Jetzt wurde er ungeduldig.
„Ja, du hast recht, aber heute gehe ich mit Kollegen von der Universität.“
Wieder war es einige Sekunden still.
„Ist das ein guter Umgang für dich?“
Für einen Moment nahm er die Hand von der Türklinke und schloss die Augen. Sofort füllte sich sein Kopf mit dem Spalt in der weißen Bluse. Diesmal wusste sie nicht, was am besten für ihn war.
„Mama, ich komme noch zu spät. Ich erzähle dir nachher alles.“
Er öffnete die Tür und ging.
Obwohl es ein angenehmer, lauwarmer Abend war und eine leichte Brise wehte, war Franz-Josef heiß. Sein Kopf war hochrot, das konnte er spüren. Es fühlte sich an, als würde Heizwasser durch seine Adern gepumpt. Er war sich gar nicht sicher, was er eigentlich tat. Das heißt, tief in sich wusste er ganz genau, was er tat und wohin er gerade ging. Nur den Gedanken hatte er noch nicht ausformuliert, wollte er nicht ausformulieren. Wie ferngesteuert marschierte er durch die Straßen Wiens, von seinem Heimatbezirk Landstraße aus bis in die Innenstadt. Er nahm die Welt um sich kaum wahr, rang immer noch mit sich selbst und wollte sich nicht eingestehen, was ihn überkommen hatte. Eine halbe Stunde später stand Franz-Josef vor einem unscheinbaren Gebäude in der schmalen Sonnenfelsgasse. Um diese Uhrzeit war die Gasse menschenleer. Die Gegend kannte er von kleinen Botendiensten zu einer Anwaltskanzlei eine Straße weiter, die er für einen seiner Professoren übernommen hatte. Dabei war er mehrmals tagsüber durch diese Gasse gegangen und hatte es gesehen, das kleine Schild über der dezent verzierten Tür. Josefine stand da in geschwungenen Lettern auf einem weißen Schild, darunter war ein rotes Herz. Von einem seiner Nachhilfeschüler, der ihn wohl mit frivolen Geschichten ärgern wollte, hatte er erfahren, dass das Josefine ein kleines, intimes Puff war.
„Ich sag dir, da wird höchster Wert auf Professionalität, Hygiene und so weiter gelegt, also wirklich eine feine Sache“, hatte sein Kollege noch kichernd hervorgebracht, bevor Franz-Josef ihn zurechtgewiesen hatte.
Die Tür hatte keine Klinke, nur ein Schloss war außen angebracht. Ansonsten erregte sie kein Aufsehen, auf den ersten Blick würde wohl kaum jemand ein Lusthaus dahinter vermuten. Keine Neonfarben, keine Verzierungen aus Falschgold. Franz-Josef sah sich um und lauschte, ob er etwas von drinnen hören konnte. Stille. Er rieb sich seine inzwischen schwitzig gewordenen Hände und starrte auf die kleine Glocke neben dem Eingang. Dann hörte er etwas. Gelächter hinter der Straßenecke zu seiner Rechten, zwei Frauenstimmen, die sich unterhielten. Blitzschnell drehte er sich nach links und ging beinahe im Laufschritt die Straße entlang. Was hatte ihn nur getrieben? Wie konnte er sich von so einem Flittchen nur zu so etwas hinreißen lassen? Er war doch ein kultivierter Mensch! Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Fast war er schon an der Straßenecke abgebogen, da rief ihm eine Frau hinterher:
„Entschuldigung, Moment!“
Er blieb wie ertappt stehen und drehte sich langsam um. Vom anderen Ende der Straße her kamen zwei junge Damen auf ihn zu, eine von ihnen winkte energisch. Als sie bei ihm angelangt waren, erkannte er sie.
„Hab ich’s mir doch gedacht, der Franzpepi!“
Es war die Freundin, mit der das Mädchen mit der weißen Bluse während der Vorlesung geplaudert hatte. Ihre Begleitung kannte er nicht.
„Ah, grüß Gott die Damen! Ist ja interessant, wo man sich so begegnet.“
Er konnte fühlen, wie sein Herz in die Hose sank. Was wenn diese Tratschtante eins und eins zusammenzählen konnte, sie würde bestimmt bei nächster Gelegenheit dem gesamten Jahrgang davon erzählen, dass „Franzpepi“ ein Puffgeher war. Da war er sich sicher.
„Ich hab dich gleich erkannt“, sagte sie und deutete auf seinen Hut.
Er griff sich an die Hutkrempe. „Hm, ja. Ich glaube, wir haben uns im Grunde noch gar nicht vorgestellt“, stammelte er.
Sie schlug sich auf die Stirn. „Entschuldige bitte, du hast natürlich recht. Darf ich vorstellen, das ist meine gute Freundin Eva, sie ist aus Hannover zu Besuch“, sie deutete auf ihre Freundin, woraufhin Franz-Josef seine Hand starr von sich streckte.
„Und ich heiße Marianne.“
Erst jetzt, als er Marianne die Hand schüttelte, fiel sie ihm so richtig auf. Sie war auf den ersten Blick keine klassische Schönheit, aber die Sommersprossen auf ihren hellen Wangen, die ihre blauen Augen untermalten und von rötlich blondem Haar umschmiegt wurden, gefielen ihm.
„Franz-Josef. Für meine Freunde Franz, keine anderen Spitznamen.“
Sie lächelte. „Verstehe. Franz, ich möchte ja wirklich nicht unhöflich sein, aber Eva und ich werden zuhause erwartet, wir müssen weiter.“
Er nickte. „Selbstverständlich, wir sehen uns dann im Hörsaal.“
Sie schüttelte den Kopf und lachte. „Ach nein, ich studiere ja gar nicht Rechtswissenschaften. Ich habe nur eine Freundin in der Vorlesung besucht, eigentlich studiere ich Musik. Du und dein Hut sind mir aber im Hörsaal gleich aufgefallen, da habe ich nach dir gefragt. Bei einer Vorlesung sehen wir uns also nicht. Aber ich habe einen Vorschlag, wie wäre es, wenn du zu einer meiner Proben kommst?“
Franz-Josef stand da, wie versteinert. „Ja, warum denn nicht? Wenn ich die Zeit finde, gerne.“
Sie nickte, holte einen Notizblock aus ihrer Handtasche, schrieb Datum und Uhrzeit ihrer nächsten drei Proben auf einen Zettel und drückte ihn Franz-Josef in die Hand.
„Sehr fein. Bis dann, Franz!“
Die folgenden Wochen verbrachte er wie im Delirium. Noch nie hatte er etwas oder jemanden so begehrt, wie er Marianne von Hegelsmark begehrte. Nachdem er sie zum ersten Mal bei ihrer Violinprobe besucht hatte, war er gleich zu den beiden anderen Terminen auch erschienen. Sie verstanden sich, was für ihn an ein Wunder grenzte. Jegliche Interaktion mit gleichaltrigen Frauen war in seinem jungen Leben bis jetzt im besten Fall nervtötend gewesen, im schlimmsten Fall katastrophal. Andere Studentinnen hielten ihn für einen Snob und Angeber, weil er stets versuchte, im Gespräch über Inhalte und Herausforderungen des Studiums seine Überlegenheit und Kenntnis der Materie durchblicken zu lassen. Dabei war er einfach stolz auf sein Fachwissen. Marianne verstand ihn. Seine erste Einschätzung war vollkommen falsch gewesen. Trotz ihrer neunzehn Jahre war Marianne äußerst gebildet und zudem auch interessiert an den feineren Dingen im Leben. Sie spielte nicht nur die Violine, sie sang auch in einem Chor und ging regelmäßig ins Theater. Das konnte auch mit ihrer Herkunft zu tun haben, immerhin war ihre Familie ehemaliger Hochadel. Aus ihren Erzählungen wusste er, dass ihre erweiterte Verwandtschaft ein kleines Chateau in Deutschland besaß. Es war, als wäre die perfekte Heiratskandidatin für Franz-Josef vom Himmel gefallen. Nach seinen Besuchen trafen sie sich öfters zum Kaffee und schon bald wurden sie vertrauter. Sie unterhielten sich über Kunst und Recht, wobei Marianne ihm einerseits aufmerksam zuhörte, andererseits auch selbst interessante Punkte hervorbrachte. Sie hatte makelloses Benehmen, mit dieser Frau zu einer Theatervorstellung zu gehen, war für ihn ein Genuss. Dass sie ihn einst bei einer Vorlesung genervt hatte, hatte Franz schon längst vergessen. Er hatte das Gefühl, dass sich zwischen ihnen eine Romanze anbahnte, und er konnte es kaum erwarten. Da er den anderen Frauen, die ihn wenigstens auf körperlicher Ebene interessiert hätten, entweder zu ältlich oder zu steif, zu wenig flott oder zu gespreizt war, hatte er bisher noch nicht einmal ein kleines Abenteuer für sich verbuchen können. Er war mittlerweile zwanzig Jahre alt und war nicht nur Jungfrau, er war mit einer Frau noch nie intim geworden. Im Spätsommer 1964 präsentierte sich ihm endlich eine Chance. Marianne lud ihn ein, während der Ferien für ein Wochenende mit ihm in ein Sommerhaus ihrer Familie in Salzburg zu fahren. Franz-Josef konnte sein Glück kaum fassen. Lediglich wie er den Kurzurlaub seiner Mutter erklären sollte, bereitete ihm zunächst Kopfzerbrechen. Seine Mutter hatte sich ihm gegenüber in den letzten Wochen ohnehin ungewöhnlich argwöhnisch verhalten. Er hatte das Gefühl, sie wusste von Marianne. Dabei hatte er ihr nie etwas erzählt. Das Thema Frauen war das einzige, das zwischen Franz-Josef und seiner Mutter immer tabu gewesen war, und daran hielt sie sich zum Glück. Nun musste er ihr aber irgendeine Geschichte auftischen, er konnte ja schlecht einfach verschwinden. Letztendlich nahm er die erstbeste Geschichte, die ihm einfiel.
„Ein Seminar für Hochbegabte eures Jahrgangs?“
Für einen kurzen Moment glaubte Franz-Josef, in den Augen seiner Mutter unverhohlene Skepsis zu erkennen. Kaum hatte er diesen Gedanken gefasst, war ihr Gesichtsausdruck schon wieder weicher geworden.
Sie legte ihre Hände auf seine Schultern und lächelte. „Gut. Ich bin stolz auf dich.“
Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort:
„Vergiss nicht, wo du herkommst. Vergiss nicht, wer du bist. Du bist Franz-Josef Freisinn von Wartenau.“
Sie sah ihm eindringlich in die Augen. Er verstand damals nicht, warum Mama ihn gerade in diesem Moment so nachdrücklich an seine Herkunft erinnerte.
Das gemeinsame Wochenende stand unter keinem besonders guten Stern. Auf der Zugfahrt mit der alten Westbahn hatten sich Franz-Josef und Marianne bester Aussicht erfreut, inklusive blauem Himmel und strahlendem Sonnenschein. Sie hatten den Mittagszug genommen, damit Marianne noch Gelegenheit hatte, ihm die Salzburger Innenstadt am Nachmittag ein wenig zu zeigen. Nach der Ankunft hatten sie nur kurz das Gepäck im Haus ihrer Eltern am Stadtrand abgeliefert und waren dann sofort aufgebrochen. Nach einem langen Spaziergang und einer guten Mehlspeise auf der Terrasse des Café Tomaselli kehrten sie am Abend endlich zurück. Die Sommerbleibe von Mariannes Eltern war durchaus imposant. In dem zweistöckigen Haus gab es genug Betten für sechs Personen, im zweiten Stock blickte man von einem ausladenden Balkon auf die Salzach. Es gab keine anderen Häuser in unmittelbarer Nähe. Die Inneneinrichtung ließ darauf schließen, dass Mariannes Vater entweder leidenschaftlicher Jäger oder zumindest Jagdtrophäen gegenüber nicht abgeneigt war. Allerlei Tierschädel zierten die Wände, unterbrochen nur von wuchtig gerahmten Ölmalereien. All das interessierte Franz-Josef an diesem Abend aber nicht sonderlich. Er hörte Marianne nur mit einem Ohr zu, als sie ihm den Unterschied zwischen Gamskrucke und Hirschgeweih erklärte und ihm erzählte, welche Maler welches Bild zu verantworten hatten. Er konnte sich schon kaum mehr im Zaum halten, so wild machte ihn dieser kleine Engel. Er empfand ihre ausschweifenden Erklärungen als kokett, war er sich doch sicher, dass sie genauso wie er mit einem Auge schon Richtung Bett schielte. Doch Marianne hörte nicht auf, mit ihm über dies und das zu plaudern und Smalltalk zu führen. So richtig näher kam sie ihm den ganzen Abend lang nicht. Am Ende des Abends saßen sie gemeinsam auf dem Balkon und genossen einen Moment die Stille. Marianne seufzte.
„Ach, Franz, ich freu mich so, dass du mitgekommen bist. Es ist alleine tageweise auch schön hier, man kann sich von dem ganzen Trubel in der Großstadt erholen. Aber zu zweit ist es eben noch schöner“, sagt sie mit einem Lächeln.
Sie saß so nah neben ihm, dass er ihr Parfum riechen konnte. Es roch süßlich und ein wenig fruchtig. Er wollte nach ihrer Hand greifen, aber da war sie schon aufgestanden.
„Es ist spät, ich werde mich hinlegen. Wenn du noch wach bleiben möchtest, sieh bitte zu, dass alles verschlossen ist, ja?“
Franz-Josef schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin auch müde. Ich komme mit.“
Er folgte ihr bis zu ihrem Zimmer.
„Gute Nacht, Franz“, sagte sie und wollte die Türe schließen.
Doch Franz hatte seinen Arm im Weg. Jetzt musste er die Initiative ergreifen, Mut beweisen. Er legte seinen linken Arm auf ihre Hüfte, wollte sie sanft zu sich ziehen und erschrak.
Sie bewegte sich nicht. „Franz, was machst du da?“
Er zog stärker. „Das weißt du doch selbst. Ich mache das, worüber wir beide schon den ganzen Tag nachdenken.“
Sie nahm seine Hand von ihrer Hüfte. Die Enttäuschung traf ihn wie der Rückstoß eines Artilleriegeschützes mitten in die Magengrube. Er musste einen dementsprechenden Gesichtsausdruck aufgesetzt haben, denn Marianne konnte sich ein kurzes Kichern nicht verkneifen.
„Ach Franz, sei nicht albern. Du hast mich wohl missverstanden. Ich wollte dir keine Hoffnungen machen, das tut mir leid. Aber ich bin nicht an dir interessiert, nicht auf diese Weise. Du bist ein guter Freund, aber du und ich, das würde doch sowieso nie funktionieren.“
Er hörte ihre Worte nur mehr gedämpft. In seinem Kopf hallte ihr Kichern nach und langsam wich die Enttäuschung einer unglaublichen Wut. Sie hatte ihn an der Nase herumgeführt. Dieses Flittchen, sie hatte ihn die ganze Zeit heiß gemacht und jetzt wollte sie sich davonstehlen, als wäre das alles nur ein Spiel gewesen. Hatte sie wirklich gedacht, einen Freisinn von Wartenau konnte man so behandeln? Er packte ihre Hüfte erneut, und diesmal drückte er fest zu. Franz-Josef mochte körperlich nicht gerade ein Vorzeige-Exemplar darstellen, aber mit einem niederträchtigen, neunzehnjährigen Mädchen konnte er es noch aufnehmen. Bevor sie protestieren konnte, presste er seine Lippen auf ihren Mund und begann sie unbeholfen zu küssen. Es gelang Marianne erst nach ein paar Sekunden, ihn von sich zu stemmen.
Ihre Stimme war jetzt schrill und panisch. „Spinnst du? Hör sofort damit auf!“
Er nahm sie grob bei den Armen und brachte sie unter großer Gegenwehr bis zum Bett, das in der Ecke des Zimmers stand. Dann warf er sie auf die Laken, wobei er sich in ihrer Bluse verhedderte, sie vollkommen aufriss.
„Was bildest du dir ein? Was denkst du, wer du bist?“, schrie sie ihn aus voller Kehle an und richtete sich halb auf dem Bett auf.
Dieses Weib wollte sich ihm verwehren, ihm!
„Eingebildete Göre! Sei still!“, brüllte er und schlug ihr derart mit dem Handrücken ins Gesicht, dass sie zurückfiel. Dann war es totenstill. Marianne kauerte mit zerrissener Bluse im Eck des Bettes und hielt sich die Wange. In ihren Augen konnte Franz pure Verachtung sehen.
Ihre Stimme war jetzt wieder ruhiger geworden. „Du gibst dich als edler Mann, in Wahrheit bist du nichts als ein großes Schwein.“
Einige Atemzüge lang stand er schnaufend da, während seine Gedanken rasten. Dann stürmte er aus dem Zimmer, holte seinen Koffer und verließ das Haus.
„Sehr fesch bist du“, flüsterte seine Mutter ihm zu, als sie im Herbst 1966 Arm in Arm den Festsaal der Universität verließen.
Es war soweit, nach nur acht Semestern war Franz-Josef Freisinn-Wartenau als erster seines Jahrgangs zum Doctor iuris promoviert worden. In seiner Hand hielt er die rote Kartonhülle, in der die auf Büttenpapier geschriebene Promotionsurkunde steckte. Zur Feier des Tages gingen sie ins Hotel Regina essen, wo sich Franz-Josef im Anschluss zum ersten Mal vor seiner Mutter eine Zigarre anzündete.
„Wie geht es jetzt weiter mit dir, mein Sohnemann? Du hast dir doch Gedanken darüber gemacht?“
Er sog genüsslich an seiner kubanischen Romeo y Julieta und ließ den Rauch nachdenklich in den Raum aufsteigen.
„Ich könnte versuchen, eine Stelle im Ministerium zu bekommen.“
Seine Mutter schmatzte abfällig. „Das ist nichts für dich, dort wimmelt es von Nichtsnutzen und anderweitig nicht verwendbaren Leuten.“
Im Grunde wusste er ohnehin, wohin er wollte. Er wollte Richter werden, allein schon wegen der Symbolik des Amtes. Der erhöhte Sitz hinter dem Richtertisch auf der Empore würde ihn sichtlich zur Hauptperson im Saal erheben. Die Amtstracht mit Talar und Barett würde ihn als Herren des Verfahrens ausweisen. Er würde sich nicht wie in der Privatwirtschaft vom Markt, oder noch schlimmer, von etwaigen Kunden beeinflussen und herumordern lassen müssen, nein, er hätte immer das letzte Wort. Der Titel, das Prestige, die Entscheidungsmacht. Das Richteramt war wie gemacht für ihn.