Читать книгу Die Ruhrpotters - Dietrich Bussen - Страница 2
1. Kapitel
ОглавлениеDie Stimme hörten alle. Wie hätte man sie auch überhören können. Wie der Schrei von jemandem, der sich über einem todbringenden Abgrund an einen brüchigen Ast klammert, hallte sie durch den Frühstücksraum. Diesen Schrei nach Hilfe hatten alle gehört, aber nur einer hatte sie auch gesehen: Finn. Die Stimme gesehen? Geht nicht, oder? Geht doch! Wenigstens bei Finn.
Der Hilferuf hatte sich in seinem Kopf schon in ein Wesen aus Fleisch und Blut verwandelt, bevor irgendjemand sonst sie sah, diese wahrscheinlich menschliche Gestalt, die den Schrei ausgestoßen hatte. So, wie es bei einer Erscheinung zugeht, die nur vor einem auftaucht und für alle anderen unsichtbar bleibt.
Alle starrten in die gleiche Richtung.
Finns Mutter war aufgesprungen, Jana hatte sich mit einem plötzlichen Ruck zum Flur hin gedreht, ihre Tasse dabei umgeschmissen und erst gemerkt, was sie angerichtet hatte, als Kohlrabi in den totenstillen Raum sagte: «Bei mir tropft was.»
Stimmt, dachte Jana, aber wie, und nicht erst seit heute.
Edel fuhr der Schrei durch alle Glieder und sie sah Finn und sie dachte, wie ist der denn drauf, so komisch wie der kuckt.
Auch Oma Schmitz hatte ein merkwürdiges Geräusch gehört. Irgendeinen Ton - zum Gotterbarmen, hatte sie gedacht -, und so etwas wie einen Schatten in Menschengestalt hatte sie gesehen, glaubte sie.
Am Hörgerät kann’s diesmal ja wohl nicht gelegen haben, dachte Oma Schmitz. Oder vielleicht doch, dass die bei der letzten Reparatur irgendwas …? Da hat einer - wer weiß - in die falsche Schublade gegriffen, und - schwupp die wupp - seh ich plötzlich Sachen, die gibt’s gar nich und höre Jammertöne, nur weil allen zum Jammern ist? Mein lieber Scholli, was denn noch alles, 'demnächst auf diesem Kanal' sozusagen. Heutzutage ist doch alles möglich, mit street view und diesen Touchdingern und Satelliten und dem ganzen Gedöns.
Und plötzlich sahen alle die Gestalt in der Tür. Wie auf Kommando ließ Konradi sein Taschentuch, mit dem er versuchte, seine kaffeenasse Hose trocken zu rubbeln, fallen. Er schwenkte seinen Kopf zu Finn, dann wieder zur Tür und wieder zurück zu Finn. Er öffnete seinen Mund, aus dem er ein ungläubiges «Aha» heraus würgte. Dann klappten die Mundhälften wieder zusammen, er neigte seinen Kopf und sah in seine Kaffeetasse. Aber dieser Klotz ist das da auf jeden Fall nicht, soviel steht jedenfalls fest. Eine Frau, und was für eine, kann ja wohl nicht Klotz sein. Und der Finn will uns weiß machen, dass er Klotz im Flur …
«Dann sag doch endlich, wo er ist, Herr Gott noch mal», unterbrach die Frau Konradis Gedanken. «Bitte Finn. Wir wissen doch nicht mehr, was wir … Ich weiß, wo Klotz ist, hast du gesagt. Ich hab`s doch gehört eben im Flur.»
Weiter kam sie nicht. Sie griff mit beiden Händen an ihren Kopf und bedeckte ihre Augen, und alle sahen, dass sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnte.
In diesem Augenblick wusste Frau Kantelberg, wer dort in der Tür stand, sprang auf, lief zur Tür, nahm die Frau in den Arm, führte sie zu dem Tisch und bat sie, auf ihrem Stuhl Platz zu nehmen. Eine Tasse Kaffee oder Tee würde ihr jetzt sicher gut tun.
«Frau Öztürk», sagte Finn mit einer Stimme, als ob er gerade aus einem tiefen Schlaf erwacht wäre, «ich …»
«Ja?, sag doch endlich, wo …», unterbrach Frau Öztürk. «Sag’s doch endlich, verdammt noch mal.»
Langsam versteh ich den auch nicht mehr, dachte Edel.
Die arme Frau, dachte Oma Schmitz, und Jana zischte: «Spuck’s aus, Finn.»
Herr Konradi starrte weiter in seine Kaffeetasse. Sein Denkapparat schien nicht mehr zu funktionieren, obwohl er vorsichtshalber nichts gegessen hatte - so wie er immer keine Nahrung zu sich nahm, wenn er glaubte, besonders scharf nachdenken zu müssen -.
Was ist nur mit Finn?, dachte Frau Kantelberg. Warum sagt der nicht endlich, was er weiß? Voller Sorge sah sie zu ihrem Sohn hinüber.
Der erwiderte den Blick. Er sah seine Mutter und auch die anderen an dem Tisch, aber irgendwie schien er nicht zu begreifen, was sich um ihn herum eigentlich abspielte.
Wie ein Außerirdischer kurz nach der Landung auf einem fremden Planeten, dachte Jana.
Finn ist nun mal anders, sagte sich Edel. Und als Oma Schmitz der Junge muss ins Bett sagen wollte, sagte Finn: «Ich hab Klotz gehört, heute Nacht. Er hat gerufen, und die Nazis waren auch da.»
Im Gegensatz zu dir, dachte Jana. Du bist immer noch woanders, aber megamäßig außerhalb.
«Dann sag doch um Himmels Willen endlich: Wo!»
«Ich darf dann mal …», unterbrach Herr Konradi, der inzwischen wieder über seine Kaffeetasse hinwegsah.
Oh Gott, der nicht auch noch, dachte Oma Schmitz, nahm allen Mut zusammen und sagte: «Herr Konradi, Sie dürfen im Augenblick gar nichts. Entschuldigen Sie, aber der Einzige, der im Augenblick darf, ist Finn, aber der braucht wohl noch einen Augenblick. Oder Finn, biste schon soweit?»
Man ist die cool. Edel sah bewundernd zu Oma Schmitz.
Jana lächelte und zeigte Oma Schmitz ihre Faust mit einem senkrecht nach oben ausgestreckten Daumen.
Erleichtert lächelte Oma Schmitz zurück. Und in dem Augenblick sagte Finn: «Klotz ist im Krater.»
«In welchem Krater? Wo ist denn hier ein Krater? Und wieso ist Klotz, ich meine mein Sohn, da drin? Finn, da stimmt doch was nicht.»
Das kannste laut sagen, dachte Edel.
Was für ein Durcheinander. Klotz im Krater und womöglich nicht mehr am…Oh Gott, das darfst du nicht mal denken, Oma Schmitz, versuchte sie, ihre Befürchtungen zu verscheuchen.
Man nennt es, glaub ich, Hellsehen, huschte es durch Janas Kopf. Und Bilder aus Filmen mit meist älteren Damen beim Tischerücken im flackernden Licht einer einzelnen Kerze tauchten auf. Son Quatsch, absoluter Blödsinn, ab in die Kiste, knallte sie ihren Gedanken um die Ohren.
Konradi hob seinen Körper, genauer gesagt seinen Kopf, von der Kaffeetasse weg, bewegte seine Blicke einmal um den Tisch, verharrte bei Frau Öztürk und erklärte: «Einen Krater haben wir schon, seit gestern. Das ist aber auch alles.» Und es hörte sich so an wie: Außerdem übernehme ich jetzt wieder das Kommando hier.
Wie mit der Stimme aus einem Automaten wiederholte Frau Öztürk: «Hier gibt es einen Krater seit gestern und seitdem ist mein Sohn …?» Weiter kam sie nicht. Ihr Kopf neigte sich zu ihrer Brust und ihre Schultern sackten aus Frau Kantelbergs Händen.
«Vorsicht», rief Jana. Frau Kantelberg griff wie im Reflex nach den Schultern, die ihr entglitten waren, und bewahrte die bewusstlose Frau vor dem Aufschlag auf die Tischkante.
Edel rief: «Ich hole Wasser», während Oma Schmitz in ihrer Handtasche kramte und vor sich hin murmelte: «Eigentlich müsste ich Tropfen für so was dabei haben. Immer, wenn man se mal braucht, dunnerlütchen.»
Meine Güte, was sich so alles ansammelt. Sogar der Rosenkranz, stellte sie erstaunt fest, der sollte doch eigentlich mit Anton ins Grab, schön um den Hals gehängt, dass er was hermacht, für alle Fälle, auf seiner Wanderschaft ins Hundejenseits. Nu ja, dann muss er halt ohne zurechtkommen. Der is ja schließlich nich von Dummsdorf; oder Anton?, tröstete sie sich, während sie sich weiter wunderte, was sich so alles in ihrer Tasche angesammelt hatte.
Irgendeine Stimme schien ihr wie wär’s mit Aufräumen? zuzuflüstern, und während Oma Schmitz später zurückflüsterte, hob sie ihre Hand aus der Tasche, zeigte Frau Kantelberg ein kleines Fläschchen und sagte: «Hier sind se.»
Geht auch ohne … Aufräumen, wie man sieht. Und drängeln lass ich mich schon gar nicht. Alles klar? Und von irgendsoner Mischpoke erst recht nich. Sie klopfte an ihr Hörgerät und dachte, möglich wär’s ja, heutzutage … Hörgerät mit eingebautem Gedankenleser und mit Ansage, was man tun muss, von wegen 'Aufräumen'. Ach, was weiß ich. Dumm Tuich.
«Die helfen, meistens. Fünf Tropfen unter die Zunge. Schaden tun se auf jeden Fall nich.»
Und du Konradi, dachte sie, bist und bleibst ein hoffnungsloser Fall. Sensibel wie’n Klingelbeutel.
Während Frau Kantelberg den Mund der Besinnungslosen mit Zeigefinger und Daumen aufhebelte, spielte sich in Janas Kopf ein Film mit Transfusionsschläuchen und Mund-zu-Mund-Beatmung und Aus-die- Maus ab und Edel sah vor sich einen Tisch, der ihr sehr bekannt vorkam, mit einer Stahlplatte, und auf dem Tisch sah sie eine Leiche und daneben Tante Trudel mit Gummischürze und Waschlappen.
«Frische Luft», befahl Herr Konradi. «Sauerstoff …»
«Das Fenster befindet sich direkt hinter Ihnen, Herr Konradi», bemerkte Oma Schmitz, während sie noch einmal interessiert das Durcheinander in ihrer Handtasche betrachtete.
Wumms, dachte Jana, voll auf die Nüsse und als Zugabe kriegste noch ein besonders sattes Grinsen von mir persönlich.
Herr Konradi, offensichtlich auf dem falschen Fuß erwischt, grummelte irgendwas mit vielen Os und irgendwelchen unverständlichen Rachenlauten vor sich hin, drehte sich rückwärts, stand auf, öffnete das Fenster, setzte sich wieder und richtete seinen Blick erwartungsvoll auf Oma Schmitz.
Will der jetzt ’ne Belohnung, so wie der guckt? Für so was hättes früher nicht mal ein Fleißkärtchen gegeben, aber wirklich. Nee, nee Konradi, Befehl ausgeführt, mehr nich.
Konradis frische Luft breitete sich in leichten Windstößen im Raum aus, Oma Schmitz’ Tropfen lösten sich unter Frau Öztürks Zunge und warteten auf das Wasser, das sie im Körper verteilen sollte. Nur, das Wasser machte Schwierigkeiten, oder vielmehr der Mund von Frau Öztürk. Das meiste schwappte von ihren Lippen zurück auf und in ihre Bluse, und das Wenige, das in ihren Mund gelangte, spuckte sie wieder aus, und gleichzeitig - das war aber auch höchste Eisenbahn, dachte Oma Schmitz - verließ Frau Öztürk auch die Ohnmacht.
Und für Finn gleich ’ne volle Dröhnung hinterher, von den Wundertropfen, dachte Jana. Vielleicht, dass er dann runterkommt von seinem Trip.
Frau Kantelberg beugte sich zu Frau Öztürk herunter, fragte, ob es denn wieder ginge und reichte ihr das Glas mit dem restlichen Wasser.
Frau Öztürk trank das Glas leer, sagte: «Dann werd ich mal suchen in dem Krater. Da soll er doch sein, oder Finn? Kann mir denn einer zeigen, wo der ist, der Krater? Der Herr vielleicht?» Sie zeigte auf Konradi.
Wieder richteten sich alle Augen auf Finn. Der schien langsam zu begreifen, dass alle irgendeine vernünftige Erklärung von ihm erwarteten.
Als ob ihn ein Fremdkörper störte, rieb er seine Augen, vielleicht waren es aber auch die scharfen Blicke, die ihn blendeten. Er schüttelte seinen Kopf, als ob er irgendeinen Ballast entfernen müsste, nahm wahr, dass auch Edel und Jana ihn ohne Unterbrechung anstarrten, und sagte: «Ich habe Klotz gehört, und ich habe die Nazis gesehen, und ich war auch in dem Krater.»
Jetzt schienen alle den Atem anzuhalten, so still war es. Bewegungslos saßen sie und warteten. Vom Fenster aus strich ein Windhauch in den Raum.
Wenn er’s sagt, dachte Jana.
«Und», fuhr er fort, «das war wie in einem Traum, der total wirklich abläuft, so, wie im richtigen Leben und nicht nur geträumt. Ist doch klar, oder?.»
Na ja, dachte Jana, klar is irgendwie anders.
Klar wie Kloßbrühe, dachte Oma Schmitz, hab ich auch manchmal.
«Ich müsste auch noch die Stelle finden, wo ich runtergeklettert bin.»
«Im Traum, ich glaub’s ja nich.» Höhnisch lachend sah Herr Konradi in die Runde.
Ach du Kacke, murmelte Jana vor sich hin. Und du Alter, fick dich, egal wohin.
Geträumt hat er, das stimmt, und zwar ziemlich laut, dachte Frau Kantelberg, und Oma Schmitz sagte: «Warum soll er uns eigentlich die Stelle nicht zeigen? Besser als hier rumsitzen, is es allemal. Oder Herr Konradi?»
Bei ‚Konradi’ hörte sich ihre Stimme an, als ob sie jeden Buchstaben einzeln über eine grobkantige verrostete Reibe reiben würde.
Vielleicht ist es ja das, was der Junge mehr hat als unsereiner, ging Oma Schmitz durch den Kopf. Dass der im Traum Sachen sieht, die irgendwo gleichzeitig tatsächlich passieren, dass der ein paar Zellen im Kopf hat, die unsereiner nich hat, oder die bei uns unterbelichtet sind, die auf so was reagieren, und wenn es sich um einen Freund handelt, erst recht. Ich träume ja immer nur von ollen Kamellen, obwohl, so oll sind die manchmal eigentlich gar nicht. Aber passiert sind die schon, manchmal wenigstens. Na ja, wenn mann's nicht so genau nimmt. Und der Finn hat eben noch ein bisschen mehr auf Lager. Warum eigentlich nich?