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1. Kapitel
ОглавлениеEin paar Kilometer weiter wurde Valerie Voss, Hauptkommissarin beim LKA Berlin, liebevoll mit einer großen Tasse Kaffee geweckt. Man hätte meinen können, sie würde sich darüber freuen, doch ihr Gesicht gab darüber Aufschluss, dass es nicht der Fall war. Einmal war sie ein rechter Morgenmuffel, zum anderen gab sie umgehend die Erklärung.
»Eigentlich könntest du deine Wohnung untervermieten oder gleich kündigen, so oft, wie du hier übernachtest«, sagte sie und versuchte, ihre verstrubbelten, goldblonden Haare mit den Händen zu ordnen.
»Höre ich da eine leise Kritik aus deinen Worten?«, fragte Konstantin Bremer, ihr Kollege und seit Neuestem Lebensgefährte.
Er hatte lange darum kämpfen müssen, dass Valerie sich zu ihrer Liebe bekannte, denn sie war nie so ganz über den Tod ihres ersten Mannes, Hinnerk Lange, hinweggekommen. Sie hatte ihn sogar ein zweites Mal geheiratet, nachdem er sie wegen einer anderen Frau verlassen hatte und nach deren Tod reumütig zurückgekehrt war. Sehr zur Freude ihres gemeinsamen Sohnes, Ben. Als Hinnerk im Dienst erschossen wurde, war Ben untröstlich gewesen, denn der Beruf seiner Eltern war ihm stets ein Dorn im Auge.
Valerie hatte nach dieser leidvollen Erfahrung ihren Dienst bei der Kripo quittieren wollen, doch nach langem, innerem Kampf war sie schließlich geblieben. Als neuer Kollege wurde ihr Konstantin zur Seite gestellt, und der Hauptkommissar hatte von Anfang an keinen Hehl aus seiner Bewunderung für Valerie gemacht. Ein Umstand, der sie anfangs irritiert, dann wütend gemacht und schließlich doch zum Umdenken gebracht hatte. Sie war noch zu jung, um den Rest ihres Lebens allein zu bleiben, und Konstantin, der eine uneheliche Tochter hatte, aber allein lebte, schien es ehrlich mit ihr zu meinen. Die wenigen Jahre, die er jünger war, spielten dabei keine Rolle.
»Was heißt Kritik?«, fragte Valerie. »Du kennst meine Meinung zu diesem Thema. Ja, ich bin gern mit dir zusammen, auch nachts, aber ich sagte, dass ich Zeit brauche, mich an die neuen Verhältnisse zu gewöhnen. Wenn wir jeder unser eigenes privates Reich haben, tut das der Liebe keinen Abbruch. Was später ist, wird man sehen.«
»Also schön, dann werde ich ab jetzt wieder öfter in meiner Wohnung übernachten, wenn dir das lieber ist.«
»Jetzt bist du böse. Ich würde auch gern hin und wieder bei dir schlafen. Eine gewisse räumliche Trennung am Anfang einer Beziehung ist bestimmt kein Fehler.«
»Ich verstehe dich ja, und ich habe dir auch versichert, Geduld aufzubringen, aber ich fühle mich hier nun mal sehr wohl.«
»Das freut mich, und das soll auch so bleiben. Früher oder später wird Heiko oben ausziehen und mit einem neuen Partner ein eigenes Reich schaffen. Wenn ich mich nicht täusche, bahnt sich da etwas an. So oft wie dieser Pascal sich hier aufhält. Dann wird man sehen, wie es weitergeht.«
Kommissar Heiko Wieland aus derselben Abteilung war bei Valerie in die obere Etage gezogen, nachdem sein langjähriger Freund, Fabian, sich neu verliebt und seine Wohnung am Kaiserdamm aufgegeben hatte, um mit seiner neuen Flamme auf Mallorca zu leben. Valerie hatte Heiko gern aufgenommen, um sich in dem großen Haus nicht so allein zu fühlen.
»Gut, dann sollten wir die beiden Turteltauben nicht warten lassen. Sie haben nämlich schon das Frühstück vorbereitet.«
»Oh nein, das muss auch aufhören. Früher habe ich überhaupt nicht gefrühstückt, und jetzt finden wahre Orgien statt.«
»Solange es nur Frühstücksorgien sind ...«
»Sehr witzig. Etwas anderes käme mit zwei Schwulen kaum infrage. Hin und wieder gefällt es mir ja, wenn wir zusammen den Tag einläuten, aber eben nicht ständig.«
»Dann sag es Heiko. Ich glaube, der hat das noch nicht kapiert.«
»Das werde ich. So, ich gehe jetzt ins Bad. Du kannst ja schon Smalltalk in der Küche halten.«
»Süß bist du, wenn du so schlecht gelaunt bist. Hast du ein Glück, dass mir Morgenmuffel nichts ausmachen. Wenn ich nicht so von mir überzeugt wäre, könnte ich auf den Gedanken kommen, ein schlechter Liebhaber zu sein und dich heute Nacht nicht überzeugt zu haben.«
»Wenn du glaubst, ich würde in dieser Beziehung ein Lob aussprechen, da kannst du lange warten.«
»Hexe.«
»Eitler Gockel.«
Als Valerie wenig später frisch geduscht und frisiert in der Küche zu den drei Männern stieß, hatte sich ihre Laune schon merklich gebessert.
»Guten Morgen, schöne Frau. Wie kann man um diese Uhrzeit nur schon so gut aussehen?«, meinte Pascal und zeigte seine Grübchen.
»Die schöne Frau ist Mutter eines erwachsenen Sohnes, und der erste Lack ist bei ihr längst ab, inklusive Cellulite. Aber danke für das Kompliment«, sagte Valerie.
»Glaubt ihr kein Wort«, widersprach Konstantin. »Körperlich kann sie es noch mit jeder Zwanzigjährigen aufnehmen.«
»Ach, geistig wohl nicht? Erinnerungslücken und beginnende Anzeichen von Demenz liegen noch fern.«
»Vorsicht! Madame ist heute wieder einmal auf Krawall gebürstet. An solchen Tagen kann man ihr es kaum recht machen«, sagte Heiko.
»Wie gut du mich doch schon kennst ...«
Das witzige Geplänkel fand ein unsanftes Ende, als das Telefon läutete.
»Oh, oh, ich ahne Schlimmes«, meinte Valerie, meldete sich aber wie üblich. »Voss, was gibt‘s?«
»Zeisig, guten Morgen«, meldete sich eine sonore Stimme. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt.«
Als ob dir das etwas ausmachen würde, du Schleimscheißer, dachte Valerie, sagte aber brav: »Nein, nein, ich wollte gerade frühstücken.«
»Das müssen Sie leider verschieben. Es hat einen ungeklärten Todesfall draußen in Staaken gegeben. Ein sechzehnjähriges Mädchen ist aus dem Fenster im vierzehnten Stock gestürzt. Bitte fahren Sie gleich los, und nehmen Sie Herrn Bremer mit. Ich gehe davon aus, dass er sich in Ihrer Nähe befindet.«
»Da muss ich Sie enttäuschen, aber ich werde ihn umgehend informieren«, log Valerie ungeniert.
Das Verhältnis zwischen Abteilungschef Dr. Paul Zeisig und Valerie war äußerst ambivalent. Dabei war er derjenige gewesen, der sie zurückgeholt hatte. Er schätzte nämlich ihre jahrelangen Verdienste bei der Kripo, hasste aber ihre Alleingänge und Widerworte, die sie oft in einem grenzwertigen Ton anbrachte. Valerie hielt ihn für einen sogenannten Krümelkacker, dem es nur auf eine positive Aufklärungsstatistik ankam. Außerdem war er ihr zu übellaunig und griff öfter daneben bei seinen Äußerungen.
»Tun Sie das. Ich erwarte dann Ihren Bericht.«
»Alles klar, bis später! Ach, halt, wie lautet die genaue Adresse?«
»Obstallee 24. Das ist in der Rudolf Wissell Siedlung.«
»Gut, bin schon unterwegs.«
»Wen willst du informieren?«, fragte Konstantin.
»Na, wen wohl? Dich. Was hat es den Alten zu interessieren, wo du übernachtet hast?«
»Sehr richtig. Aber vielleicht willst du lieber mit Heiko fahren?«
»Die Order war unmissverständlich. Es wird deine Anwesenheit gewünscht. Heiko wird noch genug zu tun bekommen, wenn wir erst ermitteln.«
»Gut, fahren wir mit einem oder zwei Wagen?«
»Was für eine Frage … Natürlich mit einem.«
»Ich dachte nur, dass ich dann heute Abend wieder herbringen müsste.«
»Es gibt Taxis. Und du könntest auf dem Rückweg einen Schlenker machen.«
»Wo liegt eigentlich das Problem?«, fragte Heiko. »Habe ich irgendwas nicht mitbekommen? Habt ihr Streit?«
»Nein, ich habe Herrn Bremer nur gebeten, sich daran zu erinnern, dass er auch eine eigene Wohnung hat.«
»Oh, oh. Du kannst heute Abend mit mir fahren, Valerie.«
»Danke, ich werde darauf zurückkommen. Sag mal, was machst du da eigentlich die ganze Zeit?«
»Ich habe euch ein paar Brote für unterwegs gemacht. Wer weiß, wann ihr was zu Beißen bekommt.«
»Ist sie nicht goldig, unsere kleine Hausfrau? Vor allem, wenn sie ihre Mutterflügel ausbreitet.«
»Den Spruch habe ich gerade noch gebraucht«, maulte Heiko. »Ich kann die Brote auch allein essen.«
»Jetzt sei nicht gleich beleidigt«, sagte Konstantin. »Ich finde es ganz süß von dir, wie du dich um uns sorgst. Und Val hat es bestimmt nicht böse gemeint. Du kennst doch ihren Humor.«
»Schon, aber wenigstens hätte sie Hausmann sagen können.«
Valerie brach in schallendes Gelächter aus. »Komm, Konstantin, geben wir Pascal Gelegenheit, Heiko noch etwas zu trösten.«
»Zum Glück hast du nicht seine Wunden zu lecken gesagt«, grummelte Heiko
Das Hochhaus in der Obstallee hatte siebzehn Etagen und lag direkt neben dem Staaken Center. Die Leiche des Mädchens war mit einer Plane abgedeckt. Um die Absperrung hatte sich eine größere Gruppe Menschen versammelt, die aufgeregt diskutierte. Als Valerie und Konstantin das Plastikband hoben, um darunter durchzuschlüpfen, machte sich mehrstimmiger Protest bemerkbar.
»Das sind die Hauptkommissare vom LKA«, erklärte Manfred Hoger, der langjährige Mitarbeiter der KTU, »die dürfen das. Morgen, Valerie, Konstantin. Eine schöne Scheiße. Viel ist von dem jungen Ding nicht übriggeblieben. Kein Wunder, bei der Höhe.« Er deutete auf den vierzehnten Stock, in dem ein Fenster weit geöffnet war.
»Konntet ihr schon den Namen des Mädchens herausfinden?«, fragte Valerie.
»Nein, oben war noch keiner von uns. Ich denke, das werdet ihr erledigen.«
»Ich kann Ihnen sagen, wie das Mädchen heißt«, mischte sich eine dickliche Blondine mit verlebtem Gesicht ein.
»Wie ist Ihr Name, bitte?«
»Tut der was zur Sache? Also schön, Franziska Stüber. Das ist Amelie Herwig. Die wohnt mit ihrer Mutter auf demselben Flur wie ich. Die Sonja arbeitet nebenan im Center bei Edeka.«
»Danke sehr, wir kümmern uns gleich darum. Haben Sie etwas beobachtet? Ich meine, ob Amelie von allein gesprungen ist oder gestoßen wurde?«
»Nein, ich hatte keinen Grund nach oben zu sehen und habe nur den Aufprall gehört. Ein Geräusch, das ich mein Lebtag nicht mehr vergessen werde.«
»Wissen Sie, ob das Mädchen depressiv war? Oder wer ihr eventuell nach dem Leben getrachtet haben könnte?«
»Wir haben uns ja nicht näher gekannt. Die Sonja ist so Eine, die kaum jemanden an sich heranlässt. An der Kasse ist sie freundlich, aber unverbindlich. Und Amelie hat man selten draußen gesehen. Na ja, wen wundert‘s, bei dem Pack, das sich mitunter hier herumtreibt? Eine Zeitlang war sie mit so einem Ali Schießmichtot zusammen, aber das ist wohl vorbei.«
»Sie haben uns sehr geholfen. Womöglich kommen wir noch einmal auf Sie zu, um Ihre Aussage ins Protokoll aufzunehmen.«
»Bitte, Sie wissen ja jetzt, wo ich wohne.«
»Wir gehen dann mal der Mutter die schlimme Nachricht überbringen, Manfred. Bis dahin wird dann auch die Rechtsmedizin eingetroffen sein.«
»Alles klar.«
Valerie und Konstantin betraten wenig später das Einkaufszentrum, das sich kaum von seinesgleichen unterschied. In der hintersten Ecke befand sich der Edeka-Markt. Konstantin ging auf einen jungen Mann zu, der gerade damit beschäftigt war, Regale aufzufüllen.
»Können Sie uns bitte zum Marktleiter bringen?«, sagte Konstantin und zeigte seinen Dienstausweis.
»Rin, Marktleiterin. Frau Kullmann, Judith Kullmann.«
»Auch gut. Dürfen wir dann bitten?«
Der Bursche führte die Hauptkommissare durch eine Metalltür in die hinteren Räume und hielt vor einem offenstehenden Büro an.
»Frau Kullmann, hier sind zwei Herrschaften von der Kripo. Die wollen zu Ihnen.«
»Ja, bitte? Was kann ich für Sie tun?«, fragte eine mittelblonde Mittdreißigerin mit sachlichem Ton.
»Wir wollen eigentlich nicht zu Ihnen, sondern zu Frau Herwig. Ist sie heute da?«
»Ja, ich kann sie rufen. Ist etwas passiert?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Nun, Sonja ist nicht der Typ, der sich etwas zuschulden kommen lässt.«
»Ihre Tochter Amelie schon eher?«, fragte Valerie.
»Das habe ich nicht gesagt. Kevin, hol bitte mal Frau Herwig.«
»Es ist ganz gut, dass Sie eine Frau sind«, meinte Konstantin. »Was wir Frau Herwig mitteilen müssen, wird sie sehr erschüttern.«
»Ach, du lieber Himmel. Ist etwas mit Amelie? Habe ich deshalb vorhin die Sirene der Feuerwehr gehört?«
Valerie nickte, doch bevor sie antworten konnte, kam eine blasse, sehr schlanke Frau um die Vierzig mit glatten, glanzlosen Haaren herein.
»Frau Herwig?«, sagte Valerie. »Vielleicht möchten Sie sich lieber setzen, bei dem, was wir Ihnen zu sagen haben?«
»Was ist denn los? Kevin wollte auch schon nicht mit der Sprache rausrücken.«
»Ihre Tochter, Amelie, ist heute Morgen aus dem Fenster gestürzt. Es tut mir leid.«
Sonja Herwig schossen augenblicklich die Tränen in die Augen, und sie ließ sich kraftlos auf einen Stuhl fallen.
»Sonja, wie schrecklich! Warte, ich hole dir ein Glas Wasser«, sagte Judith Kullmann.
»Sollen wir einen Arzt oder Seelsorger rufen?«, fragte Valerie.
Sonja Herwig schüttelte den Kopf. »Nein, es geht schon. Eines Tages musste es ja einmal so kommen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ach, ich wusste mir schon lange keinen Rat mehr mit diesem schrecklichen Kind. Ich kam einfach nicht an sie heran. Und seitdem sie sich von diesem Ali getrennt hatte, war überhaupt nichts mehr mit ihr anzufangen.«
»Können Sie sich erklären, wie es zu dem Unglück kommen konnte?«, wollte Konstantin wissen.
»Nicht wirklich. Ich kann Ihnen beim besten Willen nicht sagen, ob sie gesprungen ist, oder ob dieser Strolch nachgeholfen hat. Ich hatte schon länger den Verdacht, dass sie sich weiter heimlich mit ihm trifft.«
»Kennen Sie den vollen Namen des jungen Mannes, und wissen Sie, wo er wohnt?«
»Ali Keskin heißt er. Wo er wohnt, hat sie mir wohlweislich nicht verraten. Aber er arbeitet ganz in der Nähe im Nahkauf im Magistratsweg.«
Die Marktleiterin kam mit dem Wasser und reichte es der verzweifelten Frau. Sonja trank nur wenige Schlucke und stellte dann das Glas ab.
»Am besten, du gehst jetzt nach Hause«, sagte Frau Kullmann.
»Ja, das wird wohl das Beste sein.«
»Kommen Sie, wir begleiten Sie, Frau Herwig«, sagte Valerie.
»Ich kann schon alleine gehen.«
»Das glaube ich nicht. Außerdem würden wir gern einen Blick in das Zimmer Ihrer Tochter werfen.«
»Ach so, ja natürlich. Ich hole dann mal meine Sachen.«
»Warte, ich helfe dir«, sagte Judith.
»Das sind die Momente, die ich am meisten hasse in unserem Beruf«, meinte Valerie, als die beiden Frauen draußen waren.
»Kann ich verstehen«, pflichtete ihr Konstantin bei. »Mir geht es nicht anders.«
Als beide zum Hauseingang zurückkamen, ging Konstantin zu Manfred Hoger.
»Ihr könnt jetzt in die Wohnung«, sagte er. »Wir haben die Mutter der Toten mitgebracht.«
»Gut, die Rechtsmedizin ist auch schon fertig.«
»Ich höre mir gleich mal an, was sie zu sagen haben.«
Bernd Siebert hatte einen neuen, jungen Kollegen mitgebracht, einen blonden, dünnen, hochaufgeschossenen Burschen. »Das ist Thorben Dahms. Er ist relativ neu bei dem Verein. Deshalb kennt ihr euch noch nicht. Hauptkommissar Konstantin Bremer«, stellte Siebert die beiden einander vor.
»Hatten die beiden alten Hasen, Knud Habich und Stella Kern keine Lust?«
»Weiß nicht. Sie hatten in der Pathologie zu tun. Deshalb haben sie uns den Vorzug gegeben.«
»Na, ich weiß nicht, ob das unbedingt ein Vorzug ist«, sagte Thorben. »Der Anblick kann einem das Frühstück wieder hoch kommen lassen. Und die Kleine war noch so jung.«
»Daran wirst du dich gewöhnen müssen«, meinte Bernd. »Die KTU ist kein Ponyhof.«
»Gibt es Abwehrverletzungen?«, wollte Konstantin wissen.
»Auf den ersten Blick nicht. Genaueres dann in unserem Bericht.«
»Gut, dann fahre ich jetzt mal nach oben. Damit Valerie nicht so allein mit der verzweifelten Mutter ist.«
Während das Team der KTU Amelies Zimmer unter die Lupe nahm, saß Valerie im Wohnzimmer bei Sonja Herwig und versuchte, sie etwas zu beruhigen.
»Sie sagten vorhin, Sie hätten schon geahnt, dass es einmal so kommen könne. Glauben Sie, Amelie ist freiwillig aus dem Leben geschieden? Oder vermuten Sie, dieser Ali habe etwas damit zu tun?«
»Ich weiß es nicht. Zuzutrauen wäre es ihm. Diese Volksgruppe nimmt doch Niederlagen nicht so einfach hin.«
»Demnach hat Amelie sich von ihm getrennt? Warum? Kennen Sie den Grund?«
»Ja, ich habe doch hautnah mitbekommen, wie er sie behandelt hat. Als wäre sie sein Eigentum. Keinen Schritt durfte sie ohne sein Einverständnis machen. Sogar was sie anzieht, wollte er ihr vorschreiben. Irgendwann hat es ihr dann gereicht. Und ich war sehr erleichtert. Wissen Sie, das hat sich hier alles sehr zum Nachteil verändert. Ich traue mich kaum noch auf die Straße, wenn es dunkel wird. Irgendwie kann ich sogar verstehen, dass sich Amelie einen Beschützer gesucht hat.«
»Demnach war die Wohnqualität früher einmal besser hier?«
»Aber allemal. Das war mal eine wohlhabende Beamtensiedlung. Die Menschen hatten Moos. Jetzt sind die Beamten alt, Nachzügler gab es wenig. Dafür zeitweilig einen Leerstand von vierzig Prozent. Dann wurde die Siedlung an Immobilienhaie verkauft, welche die leeren Wohnungen an Kanacken vermieteten.«
»Finden Sie die Bezeichnung angemessen?«
»Durchaus, denn es heißt nichts weiter als Ausländer und ist kein Schimpfwort.«
»So wie Sie es aussprechen, hört es sich trotzdem so an, auch wenn Sie das Gegenteil behaupten.«
»Was würden Sie sagen, wenn Ihre Tochter mit so einem ankäme? Wie dem auch sei, jedenfalls gibt es immer wieder Probleme mit denen. Nachts werden im Hof Partys gefeiert mit erheblichem Lärmpegel. Wir bräuchten mehr Security, mehr Polizei. Die Arbeitslosigkeit soll inzwischen hier 95 Prozent betragen. Das ist eine wahre Diebes- und Dealerhochburg. Neben Bier und Cannabis werden auch billige Amphetamine wie Speed konsumiert und vertickt. Die Polen und Russen spritzen sich das.«
»Hatte Ihre Tochter Freundinnen?«
»Eigentlich nur eine. Auch so ein Schattenwesen. Ein Gruftie mit blasser Haut und schwarzen Klamotten. Sollte mich nicht wundern, wenn die die Nächste wäre.«
»Wie heißt das Mädchen? Wo wohnt sie?«
»Zoe Clauß. Ihre Mutter ist ebenso wie ich alleinerziehend, soviel ich weiß, aber ein ganz anderer Typ als ich. Aufreizend und vulgär. Da geben sich die Kerle die Klinke in die Hand. Kein Wunder, dass die Tochter depressiv ist. Die beiden wohnen in der 32. Das ist das Hochhaus hinter dem Center.«
Als es an der Tür klingelte, ging Valerie aufmachen. Es war Konstantin.
»Na, ist die KTU schon durch?«, fragte er.
»Warte mal, ich frage Manfred.« Valerie ging zu Amelies Zimmer und sprach Manfred Hoger an. »Können wir dann rein, Manfred?«
»Ja, aber nur mit Schutzanzug und Überschuhen.«
Valerie und Konstantin streiften die weißen Overalls und die blauen Überschuhe über. Dann zogen sie Handschuhe an und sahen sich im Zimmer um. Es unterschied sich kaum von anderen Teenie Zimmern. Vielleicht war es etwas sachlicher, unterkühlter. Denn der übliche Kram, mit dem sich Mädchen in diesem Alter umgaben, fehlte. Auf den ersten Blick hätte auch ein junger Mann darin wohnen können.
»Habt ihr keinen Laptop oder weitere Handys gefunden?«, fragte Valerie. »Das eine hat sie ja mit in den Tod genommen. Ich frage mich, warum?«
»Wahrscheinlich wollte sie, dass man nicht zurückverfolgen kann, mit wem sie zuletzt telefoniert hat«, meinte Manfred. »Aber wenn ihr die Nummer habt, könnt ihr über den Provider die Einzelverbindungen erhalten.«
»Genau. Ich frage gleich die Mutter nach der Nummer«, sagte Valerie. »Wir müssten zwei Besuche machen. Einmal bei diesem Ali und zum anderen bei der Freundin, die ganz in der Nähe wohnt. Wollen wir uns aufteilen, Konstantin?«
»Würde ich für sinnvoll halten. Ich mache am besten den Typen und du das Mädchen.«
»Aye, aye, Sir.«