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2. Kapitel
ОглавлениеKonstantin suchte den Nahkauf im Magistratsweg auf. Ein älterer Mann, vermutlich türkischer Abstammung, machte sich draußen gerade an den Obstkisten zu schaffen. Auf ihn zugehend, zeigte Konstantin seinen Dienstausweis.
»Warum Sie kommen? Wir gute Bürger, nix Verbrecher«, sagte der Mann. »Mohammed Özdemir immer zahlen Steuern.«
»Das will ich Ihnen ja glauben, guter Mann. Mein Besuch gilt Ali Keskin. Ist er da?«
»Ja, ich ihn holen kann.«
Herr Özdemir ging in den Laden und kam nach ein paar Minuten mit einem bulligen, jungen Mann zurück. Er trug seine schwarzen Haare im Stil des Undercut, das heißt, die Seiten und der Hinterkopfbereich waren so stark rasiert, das es aussah, als trüge er ein schlechtes Toupet. An den Unterarmen fielen bunte Tattoos auf.
»Bitte, Sie wollen mich sprechen?«, sagte er in astreinem Hochdeutsch.
»Ist Ihnen eine Amelie Herwig bekannt?«
»Ja, mit der war ich eine Zeitlang zusammen, bis sie mich abserviert hat.«
»Es heißt, Sie haben noch Kontakt zu ihr.«
»Nicht wirklich. Nachdem sie gleich hysterisch geworden ist, nachdem sie mich gesehen hat, habe ich es aufgegeben, mich ihr zu nähern. Die Alte hat ihr wohl eingeflüstert, dass ich nicht gut für sie bin.«
»Mit der Alten meinen Sie Sonja Herwig, ja?«
»Ihre Mutter, ja.«
»Tat Amelie immer, was ihre Mutter ihr geraten hat? Oder ging die Entscheidung, sich von Ihnen zu trennen, nicht doch von ihr allein aus?«
»Vielleicht von beidem etwas. Wir haben uns anfangs gut verstanden. Dann fing sie plötzlich an, zickig zu werden. Aber warum sprechen Sie in der Vergangenheit? Ist ihr etwas passiert?«
»Wie kommen Sie darauf? Eine vergangene Beziehung ist doch Vergangenheit, oder?«
»So gesehen schon.«
»Aber Sie haben recht. Amelie lebt nicht mehr. Warum haben Sie Ihre Exfreundin heute Morgen besucht? Wollten Sie das Mädchen zur Umkehr bewegen?«
»Ich habe sie schon mehrere Tage nicht gesehen. Und heute Morgen erst recht nicht. Das wäre schon deshalb nicht möglich gewesen, weil ich mit Mohammed auf dem Großmarkt war.«
»Ja, ich können das bestätigen.«
»Sie wissen schon, dass eine Falschaussage strafrechtlich verfolgt wird, Herr Özdemir?«
»Ich nicht lügen. Ali die ganze Zeit mit mir zusammen gewesen.«
»Nun, zwischendurch wird er schon mal eigene Wege gegangen sein. Sie waren schließlich nicht aneinandergekettet. Vielleicht ist er mal für eine halbe Stunde weg gewesen?«
»Nein, bin ich nicht. Es wird nicht gerne gesehen, wenn man sich von der Arbeit entfernt. Was ist denn eigentlich mit ihr passiert? Hat man sie umgebracht?«
»Womöglich. Sie ist aus dem Fenster auf die Straße gestürzt.«
»Scheiße. Und das aus dem vierzehnten Stock. Ach, und jetzt denken Sie, ich hätte da nachgeholfen?«
»Haben Sie nicht? Vielleicht ist die Aussprache in einen handfesten Streit eskaliert?«
»Nein, ich sage doch, dass ich sie heute nicht gesehen habe.«
»Wir werden das nachprüfen und sehen uns wieder, Herr Keskin.«
»Bitte, wenn Sie sonst nichts zu tun haben ...«
Valerie traf eine Frau an, auf die die Beschreibung von Sonja Herwig genau passte. Die Blondine machte einen verlebten Eindruck und schien nicht ganz nüchtern zu sein.
»Guten Tag, Frau Clauß, ich würde gern mit Ihrer Tochter Zoe sprechen.«
»Bitte, versuchen Sie es. Ich komme schon lange nicht mehr zu ihr durch.«
Frau Clauß ging voran und klopfte an eine Zimmertür.
»Was‘n los?«, hörte man von drinnen.
»Die Kripo will mit dir reden. Wer weiß, was du wieder angestellt hast.«
»Gar nichts. Was denkst du denn von mir?«
»Ich würde gern allein mit Zoe sprechen«, sagte Valerie.
»Bitte, aber lassen Sie sich keine Lügen auftischen. Das ist nämlich ihr Spezialgebiet.«
»Ich weiß ja, dass du mir nur das Schlechteste zutraust.«
»Ist es normal, dass Zoe um diese Zeit noch im Bett liegt?«, fragte Valerie.
»So wie meistens den ganzen Tag. Erst am späten Abend wird sie aktiv. Wie es sich für ein Nachtschattengewächs gehört. Soll ich Ihnen einen Kaffee machen?«
»Nein, danke. Ich würde jetzt gerne Zoe befragen.«
»Tun Sie sich keinen Zwang an.«
Valerie nahm sich einen Stuhl und setzte sich zu dem Mädchen ans Bett. Mit ihren schwarzgefärbten Haaren und der milchig weißen Haut sah sie beinahe wie ein Gespenst aus, obwohl sie abgeschminkt war und keine schwarz umrandeten Augen hatte. Nur die kurzen Nägel waren passend zu den Haaren lackiert.
»Ich muss dir eine traurige Mitteilung machen. Amelie ist tot. Sie hat heute Morgen einen tödlichen Fenstersturz erlitten.«
Zoe schluckte, vergoss aber keine Träne. Valerie schätzte sie so ein, dass sie das später erledigte.
»Deine Mutter scheint der Grund, warum ich hier bin, nicht sonderlich zu interessieren.«
»Ach, die. Der geht nur durch den Kopf, wie sie an billigen Fusel und den nächsten Fick kommen kann.«
»Du hast keine gute Meinung von deiner Mutter, oder?«
»Nein, dafür haben die letzten Jahre gesorgt. Das hat mich mit Amelie verbunden. Deren Mutter säuft zwar nicht und hurt auch nicht herum, aber sie nervt gewaltig. Und Verständnis ist ein Fremdwort für sie.«
»Hältst du es für möglich, dass Amelie Suizid begangen hat?«
»Ich weiß nicht. Möglich wäre es schon. Sie sah schon länger keinen Sinn mehr in ihrem Leben.«
»Und das in eurem Alter? Da fängt das Leben doch gerade erst an.«
»Klug bemerkt, aber wissen Sie, was draußen los ist? Mit reicht es auch so langsam.«
»Ja, ich bin ja nicht von gestern und habe täglich mit den Problemen der heutigen Zeit zu tun.«
»Dann brauche ich Ihnen ja nichts zu erzählen. Wir haben einfach keine Perspektive. Finden keine Lehrstelle, und von den Jugendclubs, die es hier mal gab, ist auch keiner übrig geblieben. Zu teuer im Unterhalt, hieß es. Für alles ist Geld da, nur für uns Jugendliche nicht. Und dann wundern sie sich, wenn die Gewalt immer größer wird und wir zu Drogen greifen.«
»Du hoffentlich nicht.«
»Nein, mir fehlt die Knete dafür. Und Prostitution ist nicht mein Ding. Ebenso wie Ersatzdrogen wie Klebstoff. Ich will ja nicht eine matschige Birne kriegen. Als Pflegefall käme ich hier nie mehr raus.«
»Verstehe. Ihr habt es heutzutage wirklich nicht leicht. Was hältst du von Amelies Exfreund? Würdest du ihm eine derartige Tat zutrauen?«
»Eigentlich nicht. Er ist zwar ein typischer Macho, aufbrausend und rechthaberisch, aber einen Menschen aus dem Fenster zu stoßen, ist eine andere Sache.«
»Könnt ihr euch für eure Probleme nirgendwo Beistand suchen?«
»Frau Herwig hat mal Amelie zu so einem Seelenklempner geschleppt. Der hat ihr eine Selbsthilfegruppe empfohlen, für Jugendliche, die Todessehnsucht entwickeln. Amelie ist ein paar Mal hingegangen, aber danach war es eher schlimmer mit ihr. Durch die anderen wurde sie in ihrer Schwermut noch bestätigt.«
»Weißt du, wo sie da hingegangen ist?«
»Ja, ich habe sie mal abgeholt.
»Es gibt da ein Café, das nennt sich Treffpunkt Lichtblick. Mit hauptsächlich ehrenamtlichen Mitarbeitern. Mir war das alles zu öko. Aber Amelie war ganz vernarrt in einen Michael. Doch er hat ihr wohl klar gemacht, dass es ziemlich aussichtslos war. Deshalb ist sie nicht mehr hingegangen.«
»Aussichtslos in welcher Beziehung? In Bezug auf diesen Michael oder ihren Seelenzustand?«
»Ersteres. Die dürfen doch mit Hilfesuchenden nichts anfangen. Dass sie eventuell hoffnungslos depressiv war, würden die sich nie erlauben zu sagen.«
»Das will ich meinen. Nicht dass einer noch ernst macht mit seinem Vorhaben. Dann werde ich mal diesem Café einen Besuch abstatten.«
»Viel wird das nicht bringen, denn es war nur eine kurze Episode.«
»Das wird man sehen. Sag mal, hatte Amelie keinen Laptop? Wir haben keinen in der Wohnung gefunden.«
»Nein, wie ich auch nicht. Wir gehen über das Smartphone ins Internet. Amelie hat früher etwas bei Facebook gepostet. Aber irgendwann hat sie es aufgegeben.«
»Mit ihrem echten Namen oder mit Nickname?«
»Nein, als Amelie Herwig. Sie hatte ja nichts zu verbergen.«
»Danke, Zoe. Du hast mir sehr geholfen. Und falls du mal Hilfe brauchst, ruf mich an, ja? Hier ist meine Karte.«
»Danke. Sind alle bei der Kripo so nett? Oder sind Sie die große Ausnahme?«
»Die einen sagen so - die anderen so.«
Als Valerie aus dem Haus kam, wurde sie schon von Konstantin erwartet.
»Na, sehr erfolgreich warst du wohl bei diesem Ali nicht?«, fragte sie.
»Nö, der mauert. Angeblich hatte er schon länger keinen Kontakt mehr zu Amelie. Und für heute Früh hat ihm sein Kollege ein Alibi gegeben. Auch ein Türke. Die halten doch zusammen. Deshalb habe ich so meine Zweifel. Falls die Einzelverbindungsnachweise ergeben, dass er heute mit ihr telefoniert hat, ist er fällig. Und bei dir? Was hast du von der Freundin erfahren?«
»Eine Menge. Sie traut Ali die Tat nicht zu. Aber das heißt ja nichts. Amelie hatte Kontakt zu einer Beratungsstelle für suizidgefährdete Jugendliche. Das ist in Spandau. Wir können gleich hinfahren.«
»Du bist ja heute wieder nicht zu bremsen.«
»Der frühe Vogel fängt den Wurm.«
Valerie zückte ihr Handy und rief Heiko im Präsidium an. Sie nannte ihm Amelies Telefonnummer und den Provider. Heiko sollte umgehend einen Einzelverbindungsnachweis einholen.
»Kommt ihr heute auch noch mal ins Büro?«, fragte Heiko.
»Mit Sicherheit. Jetzt geht‘s erst mal nach Spandau. Falls du Sehnsucht hast, wir sehen uns doch heute Abend. Und wenn dir langweilig ist, schnapp dir ein paar alte, ungelöste Fälle. Damit kannst du bei dem Alten immer punkten.«
»Danke für den Tipp. Wäre ich von allein gar nicht drauf gekommen. Dann bis später!«
Das sogenannte Café stellte sich dann als recht groß heraus, denn neben der Begegnungsstätte gab es noch weitere Räume wie Versammlungszimmer oder Einzelberatungsräume. Ein paar blasse, niedergeschlagen dreinblickende Jugendliche waren auch anwesend. Vereinzelt liefen Frauen herum, die Zoe so treffend als öko bezeichnet hatte. Ungeschminkt und nachhaltig gekleidet. Eine von ihnen sprach Valerie an.
»Kann ich behilflich sein?«
»Ja, wir möchten zu Michael. Einen Nachnamen haben wir leider nicht.«
»Das macht nichts. Wir haben nur einen davon. Ich guck mal, ob ich ihn finde. Möchten Sie einen Moment Platz nehmen?«
»Nein, wir haben gerade erst im Auto gesessen.«
Kurz darauf kam ihnen ein etwa Dreißigjähriger mit blonden, etwas längeren Haaren entgegen, der nicht nur gewinnend lächelte, sondern auch über eine gewisse Ausstrahlung verfügte, wie Valerie feststellte und Konstantin später neidlos zugab.
»Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«, fragte Valerie.
»Ja, bitte kommen Sie in mein Büro.«
Valerie und Konstantin stellten sich vor und zeigten ihre Dienstausweise. Dann kam Konstantin gleich zur Sache, indem er dem Mann ein Foto von Amelie auf seinem Handy präsentierte.
»Kennen Sie dieses junge Mädchen?«
»Könnte sein, dass die mal hier war.«
»Mit ziemlicher Sicherheit. Ihre Freundin meint, sie einmal hier abgeholt zu haben. Ihr Name ist Amelie Herwig.«
»Ja, ich erinnere mich. Ich fand den Namen sehr passend, denn sie schien ebenso in ihrer eigenen Welt zu leben wie die junge Frau aus dem Film „Die fabelhafte Welt der Amélie“.«
»Ihre Freundin, Zoe, die Amelies Mutter als Gruftie bezeichnet, weil sie nur in Schwarz herumläuft, meint, Amelie wäre völlig in Sie vernarrt gewesen, bis Sie ihr wohl unmissverständlich klargemacht hätten, dass es in dieser Beziehung keine Zukunft gäbe. Daraufhin sei sie nicht mehr hergekommen.«
»An die Freundin kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht hat sie draußen gewartet. Ja, es kommt in der Tat gelegentlich vor, dass sich die Mädchen in einen unserer Mitarbeiter verlieben. Das ist wie bei Therapeut und Patientin. Es erfordert viel Fingerspitzengefühl, denn der Leidensdruck der Ratsuchenden soll ja nicht noch verschlimmert werden. Mir ist nicht aufgefallen, dass sie tiefere Gefühle für mich gehegt haben soll. Entweder sie hat es sehr gut verborgen, oder die Freundin hat etwas übertrieben.«
»Warum dann die Zurechtweisung?«
»Auch die ist mir nicht in Erinnerung. In diesen _Fällen drücken wir uns eher allgemein aus und werden von den Hilfesuchenden meist verstanden.«
»Worin besteht in der Hauptsache Ihre Arbeit? Ich stelle es mir äußerst schwierig vor, einem jungen Menschen, der nicht mehr leben will, vom Gegenteil zu überzeugen.«
»Das ist in der Tat nicht einfach und überwiegend ein langwieriger Prozess. Mein Studium in Psychologie und meine Erfahrung als Sozialpädagoge ist mir dabei dienlich. Meine Überzeugung ist, dass man junge Menschen mit einem entsprechenden Angebot wieder auf die Seite des Lebens bringen kann – alleine dadurch, dass man ihnen zuhört, sie ernst nimmt und das Thema Suizid nicht tabuisiert. Ihnen im Gegenteil dabei hilft, sich damit gründlich und bewusst auseinander zu setzen. Man muss den Jugendlichen die Möglichkeit geben, offen und angstfrei über alles zu reden. Damit kann man schon viel erreichen. Viele kommen aus zerrütteten Familien oder die Eltern können ihre eigenen Ängste nicht überwinden und blocken gleich ab.«
»Das hört sich in der Theorie alles sehr gut an, aber bei Amelie scheinen Ihre Bemühungen vergeblich gewesen zu sein. Sie ist heute Morgen aus dem Fenster gestürzt. Noch steht zwar nicht fest, ob es vorsätzlich geschehen ist, oder ob ihr das jemand angetan hat, aber wir können die Möglichkeit, dass sie freiwillig aus dem Leben geschieden ist, leider nicht ausschließen. Einen Unfall hingegen schon.«
»Das tut mir leid. Es gibt allerdings keine Garantie bei unserer Arbeit. Eine Chance auf Erfolg besteht nur, wenn der Betroffene die Bereitschaft hat, Hilfe anzunehmen. Bei jedem Menschen liegt die Grenze individuell hoch, bei der das für ihn noch ertragbare Leid überschritten ist. Wo er keinen anderen Ausweg mehr sieht als den Suizid. Aber es gibt Hoffnung. Laut einer Statistik ist die Zahl der Suizide rückläufig. Um immerhin 1,3 Prozent. Waren es im Jahre 1983 noch 24 Menschen pro 100.000 Einwohner, erfasste man im Jahre 2003 nur noch 14. Wobei es fast doppelt so viele Männer wie Frauen waren. Und die Tendenz ist steigend. Wer hätte das gedacht?«
»Ja, das Bild des starken Mannes wird unweigerlich erschüttert. Und die Entwicklung schreitet schon seit Jahren fort«, sagte Valerie und kassierte dafür einen schrägen Blick von Konstantin. »Ich wünsche Ihnen und Ihrer Arbeit weiterhin Erfolg.«
»Danke, wir tun unser Bestes.«
»Was hältst du von dem Knaben?«, fragte Valerie auf dem Weg zum Wagen.
»Knabe? Ziemlich ältlicher Knabe, würde ich sagen. Ich finde es gut, dass es solche Einrichtungen gibt, habe aber das Gefühl, sie kämpfen ebenso wie wir gegen Windmühlenflügel.«
»Etwas mehr Optimismus, bitte, Herr Kollege. Sonst können wir gleich das Handtuch werfen.«
»Wenn du meinst ...«
Im Präsidium hatte Heiko teils gute und teils schlechte Nachrichten, als Valerie und Konstantin zurückkamen.
»Amelie Herwig hat in den letzten Tagen öfter mit derselben Rufnummer telefoniert. So auch heute Morgen. Das letzte Mal kurz vor ihrem Tod. Die Funkzelle befand sich immer in Wilmersdorf. Das Handy ist allerdings nicht registriert und wird vermutlich durch eine Prepaid Karte gespeist. Dazu ist eine Rückverfolgung nicht möglich«, berichtete Heiko.
»Damit ist Ali Keskin aus dem Schneider«, meinte Konstantin. »In der Kürze der Zeit hätte er kaum nach Wilmersdorf fahren können. Mist, ich war mir fast sicher, dass er Dreck am Stecken hat.«
»Nun wein mal nicht«, sagte Valerie. »Offensichtlich handelt es sich doch um Suizid und nicht um Mord. Denn für den Unbekannten gilt das Gleiche in Punkto Fahrzeit wie für Keskin. Das Einzige, was mit dabei nicht schmeckt, ist, dass es diesen Unbekannten überhaupt gibt. Amelie scheint ihn absolut geheimgehalten zu haben, sogar vor ihrer besten Freundin, Zoe.«
»Glaubst du, er könnte das Mädchen durch Gedanken- oder Überzeugungskraft zu ihrer Verzweiflungstat gebracht haben?«, fragte Konstantin.
»Das ist etwas, das wir nicht ausschließen können. Es gibt solche Schweine, deren Einfluss man sich kaum entziehen kann. Schon gar nicht ein sechzehnjähriges Mädchen. Wir werden es wohl nie herausfinden. Es sei denn, er macht weiter.«
»Male bloß nicht den Teufel an die Wand.«
Am Abend fuhr Valerie mit Heiko nach Hause und Konstantin brav in seine Wohnung.
»Habt ihr Stress miteinander?«, fragte Heiko. »Ich meine, dass du lieber mit mir fährst … Und deine Andeutungen heute Morgen ...«
»Was heißt Stress? Ich habe ihn gebeten, sich daran zu erinnern, dass er eine eigene Wohnung hat. Es soll nicht zur Routine werden, dass wir zusammen sind. Durch die Arbeit sind wir es ohnehin schon dauernd.«
»Gewinnt dein Freiheitsdrang langsam die Oberhand, oder was?«
»Quatsch, ich will nur nicht ersticken vor Zärtlichkeit und Zuwendung. Ich habe gar keine Gelegenheit mehr, mich nach ihm zu sehnen. Das Gleiche gilt für dich übrigens auch.«
»Ich wusste nicht, dass du den Wunsch verspürst, dich nach mir zu sehnen ...«
»Red keinen Unsinn. Das bezieht sich ausschließlich auf die ständige Nähe. Verstehe mich bitte nicht falsch, aber das ständige gemeinsame Frühstück … So sehr es mir hin und wieder gefällt, aber bitte nicht täglich. Als ich noch allein lebte, habe ich oft gar nicht gefrühstückt. Und selbst mit Hinni gab es immer wieder diese Diskussionen. Ich fühle mich mehr und mehr unter Druck gesetzt.«
»Das will ich natürlich nicht. Schließlich habe ich eine eigene Küche, und mit Pascal bin ich nicht allein. Aber ich dachte, es gefällt dir ebenso wie mir.«
»Tut es ja auch. Nur eben nicht andauernd.«
»Gut, ich werde es beherzigen.«
Valerie war kaum in der Tür und Heiko schon auf dem Weg nach oben, als sich ihr Telefon meldete.
»Mama, das ist nett, dass du anrufst. Sag mal, was ist mit deiner Stimme? Hast du geweint?«
»Ja, ich kann gar nicht aufhören. Mein wundervoller Bengt hat außer mir noch eine Andere.«
»Das kann ich kaum glauben. Er ist doch völlig vernarrt in dich. Meinst du nicht, du irrst dich?«
»Nein, sie hat mich im Laden aufgesucht und mir unmissverständlich klar gemacht, dass ich die Finger von ihm lassen soll. Sie hätte ältere Rechte.«
»Das gibt‘s doch nicht. Und was sagt Bengt dazu?«
»Ich habe den Kontakt abgebrochen, weil ich mir nicht seine Ausflüchte anhören will.«
»Wenn das mal nicht ein Fehler war. Du hättest ihm wenigstens Gelegenheit geben müssen, sich dazu zu äußern.«
»Mag sein. Aber ich konnte einfach nicht. Ich bin so enttäuscht.«
»Das tut mir leid, Mama. Weißt du was? Ich komme übers Wochenende zu dir, ja? Hier ist im Moment ohnehin wenig los. Und etwas Beistand tut dir bestimmt gut.«
»Ja, wie wunderbar, dass es dich gibt. Ich bin so dankbar.«
»Musst du nicht, Mama. Ich freue mich, dich wiederzusehen.«
Valerie ging gleich am nächsten Tag zu Abteilungsleiter Dr. Zeisig. Der ahnte schon, dass etwas im Busch war.
»Sie hätten mir den Bericht auch schriftlich übermitteln können«, sagte er mit falschem Lächeln.
»Ich weiß, aber ich teile es Ihnen lieber mündlich mit. Bei dem Fenstersturz von Amelie Herwig scheint es sich um einen Suizid zu handeln.«
»Scheint? Das heißt, Sie sind nicht sicher?«
»Ein Rest Zweifel bleibt wie meistens. Tatsache ist, dass das Mädchen depressiv war und sogar eine Selbsthilfegruppe aufgesucht hat. Ein Fremdverschulden an dem Unglück können wir weitgehend ausschließen. Ihr Exfreund Ali Keskin hat ein von Zeugen bestätigtes Alibi. Und auch die Person, die mit ihr kurz vor ihrem Tod telefoniert hat, kommt nicht infrage. Der Teilnehmer hat sich in Wilmersdorf eingeloggt, und aufgrund der Entfernung wäre er nicht so schnell dagewesen.«
»Okay, worin gründet Ihr Restzweifel?«
»Dass es Menschen gibt, die einen unheilvollen Einfluss auf Jugendliche haben können, auch außerhalb einer Sekte.«
»Sie meinen, jemand könnte sie zur Selbsttötung angestiftet haben?«
»Ausschließen kann man das nicht. Aber es gibt keinerlei Hinweise auf den großen Unbekannten.«
»Dann legen Sie den Fall zu den Akten. Somit haben wir eben einen Mordfall weniger.«
Valerie machte keine Anstalten zu gehen, was Dr. Zeisig natürlich sofort auffiel.
»Ist sonst noch etwas?«
»Ja, ich würde gern ganz kurzfristig zwei Tage Urlaub nehmen. Meine Mutter ist in Stockholm in Not geraten, und das liegt nicht mal eben um die Ecke. Ich würde den Flug Freitag Abend antreten und Dienstag zurückfliegen.«
»No problem, wie es neudeutsch heißt. Die Herren werden zwei Tage ohne Sie zurechtkommen. Und die kleine Pause haben Sie sich verdient. Ich befürchte allerdings, dass es keine Erholung wird.«
»Ich auch. Aber das bin ich meiner Mutter schuldig. Vielen Dank, Herr Dr. Zeisig.«
»Gern, Familienangelegenheiten dulden mitunter keinen Aufschub.«
»Das hat er wirklich gesagt?«, fragte Schmidtchen, die Kriminalassistentin und gute Seele der Abteilung, ungläubig. »Der Eisberg zeigt menschliche Regung.«
»Ja, ich bin auch ganz überrascht und hatte mich schon auf ellenlange Diskussionen eingestellt.«
»Andererseits ist es wirklich kein Drama. Schließlich gehen dir die zwei Tage vom Jahresurlaub verloren. Willst du nicht lieber eine Woche bleiben?«
»Nein, die fehlt mir nachher. Du weißt doch, dass Konstantin und ich seine Mutter auf Ibiza besuchen wollen.«
»Ach richtig. Aber vielleicht bist du ganz froh, wenn du dort nicht so lange bleiben musst.«
Valerie lachte. »Die Möglichkeit besteht zwar, aber ich komme eigentlich ganz gut mit ihr aus. Du, apropos Konstantin und sein Anhang: Ich will ihm vorschlagen, an einem der Osterfeiertage mit seiner Tochter vorbeizukommen. Die Kleine hat bestimmt noch nicht in der Natur nach Eiern gesucht. Vielleicht wollen Björn und du mit Jan auch kommen.«
»Das ist eine hübsche Idee. Vielleicht findet Jan in der kleinen Isa eine neue Freundin. Ich werde es Björn heute Abend gleich vorschlagen. Jetzt mal was anderes: Warum dieser plötzlicher Stockholm-Trip? Brennt‘s da drüben?«
»Ja ziemlich. Tyra und Bengt haben Stress. Sie hat den Kontakt abgebrochen. Vielleicht kann ich noch was retten.«
»Das wäre nicht das erste Mal. Deine Schwägerin hast du schließlich auch zum Teufel gejagt. Deine Mutter kann froh sein, dass sie dich hat.«
»Das hat Tyra auch gesagt. Vielleicht sollte ich mich aber auch nicht einmischen. Doch die beiden sind so ein hübsches Paar.«
»Ich finde es gut, dass du ihr Schützenhilfe gibst. Vielleicht renkt sich die Sache wieder ein.«
Konstantin war von Valeries plötzlicher Kurzreise weniger begeistert. Quittierte seine Irritation aber mit einem flapsigen Spruch.
»So, die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Hat dich der Alte wegen unseres Misserfolgs in die Wüste geschickt?«
»Im Gegenteil. Er hat mir zugeraten. Aber ich finde es wenig schmeichelhaft, mit einer Ratte verglichen zu werden.«
»Och, das sind ganz possierliche Tierchen. Manche nehmen sie sogar mit ins Bett. Allerdings bist du höchstens eine kleine Bisamratte, als etwas Edles. Und zum Anbeißen sowieso.«
»Da hast du ja gerade noch mal die Kurve gekriegt«, meinte Heiko. »Man sollte eben mit seinen Vergleichen vorsichtig sein.«
»Ja, Mama. Du musst es ja wissen.«