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Kapitel 1

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Vier Stunden zuvor:

Der Himmel über Berlin zeigte sich an diesem Abend nicht von seiner schönsten Seite. Anders als in den Streifen von bekannten Filmemachern wie Wim Wenders oder auf den nicht minder berühmten Gemälden eines Matthias Köppel präsentierte er sich nicht in einem von Wolken durchzogenen Violett und Purpur, sondern in einem tristen Grau. Nicht einmal ein Strahl der untergehenden Sonne, im Volksmund auch Finger Gottes genannt, konnte den undurchdringlichen Vorhang durchbrechen, der eher einem Leichentuch glich.

Womöglich war dies der Grund, weshalb dem Mann auf seinem Weg entlang dem Landwehrkanal plötzlich einfiel, dass hier einmal am Anfang des vorigen Jahrhunderts der entleibte Körper von Rosa Luxemburg von Angehörigen eines Freikorps ins Wasser geworfen worden war. Geborgen konnte er erst im Mai 1919 werden, also nahezu vor hundert Jahren.

Anna Anderson hingegen, die zeitlebens behauptete, die russische Zarentochter Anastasia Nikolajewna Romanowa zu sein, war nach einem Selbstmordversuch in den 1920er Jahren aus eben diesem Landwehrkanal gerettet worden.

Links und rechts vom Landwehrkanal brauste wie eh und je der Verkehr das Hallesche beziehungsweise das Tempelhofer Ufer entlang. Ein Umstand, an den sich die Berliner in all den Jahren gewöhnt hatten. Ebenso an das gelegentliche Kreischen der U-Bahnzüge auf den alten Gleisen, denn die Linie 1 hatte auf diesem Streckenabschnitt Hochbahncharakter, verlief doch die Trasse unmittelbar über dem Kanal, wobei sie seinen Windungen folgte.

Der Mai dieses Jahres war weit davon entfernt, seinem Beinamen „Wonnemonat“ Ehre zu machen. Nach wenigen hochsommerlichen Tagen herrschte jetzt eher Aprilwetter, mit Regenschauern und kühlen Temperaturen.

Der Mann schlug seinen Mantelkragen hoch und beschleunigte seine Schritte, als er in die Möckernstraße einbog. Er fröstelte einesteils, war aber gleichzeitig von einer fieberhaften Erregung erfüllt.

Etwa zur gleichen Zeit bereitete sich eine junge Frau auf ihren Auftritt vor. Heute war also der große Tag, es aller Welt zu zeigen. Seht her, ich bin fast genauso schön wie sie! Was hatte sie nicht alles auf sich genommen, ihrem Idol zu gleichen, und heute Abend würde sich zeigen, ob sich die Mühe gelohnt hatte.

Begonnen hatte alles damit, dass sie im Musiksender Viva die kunstvoll gemachten Videoclips von der Pop-Diva Lady Gaga gesehen hatte. Mit zunächst gemischten Gefühlen, weil sie sich fragte, warum eine Frau mit einer solch makellosen Figur eine eher durchschnittliche Perücke trug. Aber tanzen und sich bewegen konnte sie, das musste man ihr lassen. Und die Stimme hatte auch etwas. Mit „Bad Romance“ kam die Wende. Diese Frau sah auch ungeschminkt und mit eigenen Haaren wunderschön aus.

Fortan war kein Starmagazin mehr vor der jungen Frau sicher. Sie surfte nächtelang im Internet, um die kleinste Information über den neuen Star zu erhaschen. Und Lady Gaga verstand es, auf sich aufmerksam zu machen, mit immer neuen, teils absonderlichen Outfits wie dem berühmten Fleisch-Kleid, aber auch mit extravaganten Creationen von berühmten Modeschöpfern. Das erste Album brach alle Kassenrekorde und lief bei der jungen Frau, die mittlerweile zu einem der größten Fans geworden war, rund um die Uhr.

Je mehr Beiträge sie in sozialen Internetportalen sah, desto überzeugter war sie, eine gewisse Ähnlichkeit bei sich selbst feststellen zu können. Damit musste doch etwas anzufangen sein.

Dann folgten die regelmäßigen Besuche bei den Schönheitschirurgen, die ihr zuredeten oder davon abrieten, je nach Geschäftstüchtigkeit. Die Warnung, dass auch etwas schief gehen könnte, indem Wundheilungsstörungen, bis hin zu Infektionen, im Bereich des Möglichen waren, schlug sie allesamt in den Wind und ertrug tapfer alle Schmerzen, die den Operationen folgten.

Rhythmische Sportgymnastik und Jazzdance verhalfen ihr, auch gut tanzen zu können. Zu dieser Zeit begann sie auch schon, sich im Outfit des Popstars in der Öffentlichkeit zu zeigen. Freilich nur in kleineren Diskotheken oder Bars. Dabei schien ihr ein gutaussehender Mann wie ein Schatten zu folgen. Sie glaubte zunächst, es handle sich bei ihm um einen hartnäckigen Verehrer, ließ sich von ihm zu Drinks einladen und traf sich auch tagsüber hin und wieder mit ihm. Bis sie bemerkte, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Zu beschwörend waren seine Versuche, sie von ihrem großen Ziel abzubringen. Bald verbat sie sich jegliche Nachstellungen und legte sofort auf, wenn er sie anrief. Zum Glück unterließ er es, ihren Anrufbeantworter voll zusprechen oder sie mit nächtlichen Telefonanrufen zu bombardieren.

Sie glaubte schon, ihn endgültig loszusein, als er erneut zum Angriff überging, ihr auflauerte und versuchte, sie in endlose Gespräche zu verwickeln. Erst als sie drohte, die Polizei einzuschalten, schien er aufzugeben.

Mit Feuereifer machte sie sich daran, ihre Metamorphose abzuschließen. Blieb nur noch die Stimme. Die Zeit und Lust zu einer jahrelangen Gesangsausbildung hatte sie nicht, deshalb mussten Karaoke-Cds und ihr Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten ausreichen, letztendlich ein großer Fehler.

Zufrieden betrachtete sie sich noch einmal im Spiegel. Das Ergebnis musste ziemlich perfekt sein, sonst hätte sie nicht so viele neidische Blicke auf sich gezogen, von Frauen, die ihrem Vorbild nur weit entfernt glichen. Dann lief sie entschlossen in den Backstage-Bereich und hörte schon das aufgeheizte Publikum.

Der Mann hatte keinen Blick für das prächtige Gebäude auf der rechten Straßenseite. Es handelte sich dabei um das Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg, einem hellen klassizistischen Bau mit hübschem Säulenportal, der 1921 vollendet wurde und nun der älteste Teil des heutigen Gebäudes war.

Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich das Areal des ehemaligen Anhalter Bahnhofs, das nach jahrzehntelangem Dornröschenschlaf durch die Verlegung des Tempodrom an diese Stelle 2001 so etwas wie eine Wiedererweckung erfahren hatte. Der futuristisch anmutende Bau eines Hamburger Architekturbüros, der an die Kathedrale von Brasilia erinnerte, sollte in seiner Form eines Zirkuszeltes einen Kontrast zu den Überresten des ehemaligen Bahnhofs darstellen.

Auch bei diesem Bau interessierte den Fremden we-niger die Architektur als das Spektakel, das sich gerade zu diesem Zeitpunkt dort ereignete. Denn das Objekt seiner Begierde befand sich unter den vergnügungshungrigen Menschen, die aus unterschiedlichen Motiven der überaus gut besuchten Veranstaltung beiwohnten. Ein kleiner Teil von ihnen stellte sich in ihrer Funktion des eitlen Selbstdarstellers zur Schau, während der erheblich größere Teil zum Gaffen, Lästern oder einfach zum Amüsieren gekommen war.

Das Motto des Abends lautete: „Be Your Star“. Eine der in Mode gekommenen Castingshows, bei denen mehr oder minder gute Doubles von Stars wie Elvis, Madonna, Tina Turner, und wie sie alle hießen, sich einer sogenannten Fachjury und dem Publikum stellten, um alsbald wieder in der Versenkung zu verschwinden.

Du hast es also wirklich getan, dachte der Mann, und fühlte, wie eine Welle des Zorns in ihm aufstieg. Habe ich dich nicht gewarnt? Dir immer wieder ins Gewissen geredet? Aber du hast mich ja abgewiesen in deiner Verblendung. Hast meine Briefe ignoriert und meine Anrufe nicht entgegengenommen. Nun, wer nicht hören will, muss fühlen!

In der Großen Arena des Tempodrom, die annähernd viertausend Besuchern Platz bot, kochte Volkes Seele. Unter Johlen und tosendem Applaus trat gerade eine dickliche Imitation von Tina Turner auf, die ihr kurzes Hemdchen zu sprengen drohte. Auch der Kopfputz erinnerte mehr an einen gebrauchten Wischmopp als an eine Frisur. Dafür war das rauchige Timbre in der Stimme umso ähnlicher, da sich hinter der Maske ein junger Mann verbarg. Mit falschem Busen und Hautbräune aus der Tube schmetterte er „You’re simply the best“ und hoffte wohl insgeheim, diesen Satz am Ende des Abends aus dem Mund des Moderators zu hören.

Danach trat eine etwas unscheinbare Madonna im Fitness-Outfit auf, die „Time goes by“ behauptete und deren Stimme weitaus piepsiger als die des Originals war. Gemäß ihrer Songauswahl hoffte das Publikum, der Auftritt möge schnell vorübergehen. Auch der Elvis in weißem Glitzer-Overall hatte Mühe, sich in der Taille zu wiegen, da eine solche schon längst nicht mehr erkennbar war. Sein „Jailhouse Rock“ riss keinen von den Sitzen. Der Schönheit einer Christina Aguilera hingegen kam eine Blondine sehr nahe. Leider konnte sie ihr stimmlich nicht das Wasser reichen. Zu allem Überfluss hatte sie das Lied „Hurt“ gewählt, ein Umstand der vom Publikum mit Pfiffen und Buhrufen und einem vielstimmigen „Aua“ quittiert wurde.

So ging das endlos weiter, bis plötzlich eine Frau auf die Bühne kam, bei deren Anblick allen der Atem stockte. Moment mal, das war doch Lady Gaga, oder etwa nicht? Sie trug den gleichen kurzen Pony, die hellblonden langen Haare und den schwarzen Bikini, den alle aus dem Video „Born this way“ kannten. Professionell tanzend und sich dabei lasziv räkelnd bemühte sie sich, der Stimmfarbe des Superstars nahe zukommen. Leider gelang ihr das nur teilweise, was den sensationellen optischen Eindruck deutlich milderte. So gab es gemischte Reaktionen wie tosenden Applaus, aber auch Pfiffe und Buhrufe. Der hastige Abgang von der Bühne passte dann auch nicht recht zu dem zuvor selbstbewussten Auftritt.

Am Ende des Abends trug, wie nicht anders erwartet, ein Double des legendären Michael Jackson den Sieg davon, und „Tina Turner“ und „Freddy Mercury“ belegten den zweiten und dritten Platz. Die Marilyn Monroe-Imitatorin landete ebenso wie der aus den Fugen geratene Elvis auf den letzten Plätzen. Die Künstlerin, die den zehnten Platz belegte, also sich durchaus im Mittelfeld bewegte, glänzte bei der Platzierungsverkündung durch Abwesenheit und blieb unauffindbar.

Die Veranstaltung war längst zu Ende. Der größte Teil des Publikums hatte sich verlaufen und war inzwischen auf dem Heimweg oder unterwegs in eine der zahlreichen Kneipen oder gerade angesagten Clubs der Stadt.

Aus einer kleinen Grünanlage am Rande des Askanischen Platzes drang das klägliche Weinen einer Frau, deren glamouröses Outfit weder zu ihrer Stimmung noch zu dem Ort passte, an dem sie sich befand. Wie ein Häufchen Elend saß sie auf einer Bank, die weitgehend von Büschen und Bäumen verborgen war. Ihr stark aufgehelltes Haar war halb mit einer seidig glänzenden Kapuze bedeckt, ihre zierlichen Füße steckten in klobigen Plateauschuhen, und ihre schönen Augen verbarg eine dunkle Sonnenbrille, unter der unentwegt Tränen hervorliefen. In ihrem Kummer schien sie alles um sich herum vergessen zu haben.

Wie aus dem Nichts erschien an ihrer Seite ein Mann, der sich unaufgefordert neben sie setzte und ihr ein blütenweißes Taschentuch reichte.

»Was ist mit Ihnen? Hat man Ihnen wehgetan?«, fragte er mitleidsvoll mit verstellter Stimme.

»Ach, es ist alles umsonst gewesen. Die ganze jahrelange Vorbereitung, das Bangen und Hoffen… eben alles«, schluchzte die junge Frau.

»Aber das Leben hat noch so viel Schönes zu bieten. Sie sind jung, und es liegt alles vor Ihnen. Der Herrgott hat vielleicht ganz andere Pläne mit Ihnen.«

Wenige Schritte entfernt, auf der Straße, hörte man helles Frauenlachen, sodass die Unterhaltung einen Moment ins Stocken geriet. Aber dann wurde es wieder ruhig.

»Das kann keiner verstehen«, sprach die verzweifelte junge Frau leise weiter. »Ich möchte mich auch mit Glamour umgeben, in den Hochglanzmagazinen abgebildet sein und von den Schönen und Reichen bewundert werden. So wie es ihr ergeht.«

»Das kann doch nicht Ihr Lebensziel sein, eine Kopie eines anderen Menschen zu sein …«

»Doch, das ist es, genau das. Aber ich bin eben nicht gut genug. Wie konnte ich mich nur mit ihr vergleichen? Ich bete sie an. Sie ist meine absolute Göttin.«

»Genau das ist der Punkt«, sagte der Mann. Und seine Stimme hatte einen derart gefährlichen Klang bekommen, dass die junge Frau erschrocken zur Seite sah.

»Moment Mal, Ihre Stimme kenne ich doch. Sind Sie etwa der …«

Eine einzige kraftvolle Bewegung des Mannes brachte sie für immer zum Verstummen.

In der Wohnung im siebten Stock des schmucklosen, grauen 80er Jahre Hauses in der Reichenberger Straße im Stadtteil Kreuzberg klingelte das Handy der Mieterin. Verschlafen griff sie danach und sah aus den Augenwinkeln, dass sie nicht allein im Bett lag. Der junge Mann mit den dunklen kurzen Haaren schien von dem Klingeln gänzlich unbeeindruckt.

»Voss, ja, was gibt’s?«, meldete sie sich. Sie lauschte eine Weile und sprang dann mit einem großen Satz aus dem Bett. »Bin gleich da, Ende.«

»Ruft schon wieder die Pflicht?«, brummelte der gutaussehende Bettgenosse und rieb sich die Augen.

»Steh auf und schmeiß die Kaffeemaschine an, während ich dusche«, sagte die hübsche junge Frau mit den kurzen weißblonden Haaren, die in solchen Momenten wegen ihrer tadellosen Figur keine Probleme mit ihrer Nacktheit hatte. »Wir müssen gleich los. Man erwartet mich an einem Tatort.«

»Mei, warum muss ich denn in aller Herrgottsfrühe aufstehen, wo wir kaum ein paar Stunden geschlafen haben?«

»Das ist nicht nur im Mai, sondern auch in jedem anderen Monat so, weil wir keine feste Beziehung haben und du über eine eigene Wohnung verfügst. Fang nicht immer wieder mit dem alten Thema an.«

Kurze Zeit später stand Valerie Voss mit schwarzen Stilettos, engen Jeans, einem weißen Top und ihrer heißgeliebten grauen, engen Lederjacke in der offenen amerikanischen Küche und trank hastig ihren Kaffee.

»Und warum hast du mich dann heute Nacht erst reingelassen?«, fragte Alexander Schumann.

»Weil ich deinem Dackelblick manchmal nicht widerstehen kann. Besonders, wenn mein Hormonhaushalt einen gewissen Pegel erreicht hat. Außerdem sahst du wie ein geprügelter Hund aus, der an Mamas Brust wollte. In solchen Momenten bekomme ich Muttergefühle.«

»Was wäre so schlimm daran, wenn ich hierbliebe?«

»Alex, morgens habe ich keine Lust auf Grundsatzdiskussionen. Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass mein Beruf mir keine Zeit für eine Beziehung lässt. Und jetzt komm, die Kollegen warten.«

»Darf ich wenigstens noch pissen gehen?«

Alex schlug bei offener Badezimmertür sein Wasser ab, hörte aber nicht auf zu reden. »Ich werde nie begreifen, warum du diese Wohnung genommen hast. Das Bad hat noch nicht einmal ein Fenster, und das Wohnzimmer ist ein dunkles Loch. Zu dir hätte viel besser ein großzügiges Loft gepasst.«

»Was soll ich mit zwei- bis dreihundert Quadratmetern? Ganz abgesehen von den Kosten«, sagte Valerie. Allein diese Wohnung mit ihren zweieinhalb Zimmern kostete über achthundert Euro, also mehr als ein Drittel ihres Gehaltes. »Und in einer WG hausen mit Musikern oder anderen Künstlern will ich auch nicht, meine Ruhe ist mir heilig.«

»Und warum muss es dieses beschissene Kreuzberg sein? Wo in einer Tour von deinen Kollegen Razzien durchgeführt und von Chaoten Autos abgefackelt werden?«

»Deshalb habe ich kurzzeitig mit dem Gedanken ge-spielt, eines dieser Car Lofts hier in der Straße zu mieten. Da könnte mein Wagen auf dem Balkon stehen. Aber als ich den Preis hörte, und dass man sich auf Listen eintragen muss, wenn man den Autolift benutzen will, habe ich gerne drauf verzichtet. Aber deshalb muss ich nicht gleich auf ganz Kreuzberg verzichten, wo ich den Frieur und den Zeitungsladen vor der Tür habe, ebenso wie viele Kneipen und Restaurants«, sagte Valerie selbst-bewusst, »und wenn du nicht gleich fertig bist, gehst du, wie du bist. Damit das klar ist.«

Unten auf der Straße steuerte Valerie auf ihren dunkelgrünen VW Karmann-Ghia aus den siebziger Jahren zu, der schon ihren Eltern gehört hatte und den sie noch mehr als ihre graue Lederjacke liebte. Angesichts des Vandalismus in ihrer Umgebung war sie allerdings froh, dass ihr Vater damals kein Cabriolet, sondern ein Coupé gewählt hatte, denn ein Stoffverdeck hätte man wohl in dieser Gegend alle naselang erneuern müssen. So schön es auch sein mochte, bei schönem Wetter mit offenem Verdeck zu fahren.

»Soll ich dich mitnehmen? Ich muss Richtung Hallesches Tor und kann dich an der U-Bahn absetzen«, fragte Valerie knapp.

»Zu gütig. Die U-Bahn erreiche ich von hier aus auch«, antwortete Alex immer noch verstimmt.

»Auch noch beleidigt der Herr, also dann, bis bald!«

Am Askanischen Platz wurde Valerie schon von ihrem Kollegen Hinnerk Lange erwartet. In ihrer Dienststelle wurden sie oft spöttisch „Hanni und Hinni“ genannt, angelehnt an die Kinderbuchfiguren Hanni und Nanni, seitdem Valeries zweiter Vorname Hanna die Runde gemacht hatte. Hinnerk war, im Gegensatz zu Valerie mit ihren fünfundzwanzig Lenzen, schon Anfang dreißig und fiel durch seine zusammengebundenen, dunkelblonden, langen Haare auf. Sein markantes Gesicht, der sportlich trainierte Körper und sein akkurater Kleidungsstil ließen mitunter Zweifel darüber aufkommen, ob er wirklich ein Hetero war, aber spätestens seine Blicke für hübsche, junge Frauen belehrten alle eines Besseren.

»Hi, sind die Kollegen von der Rechtsmedizin schon an der Arbeit?«, begrüßte ihn Valerie.

»Selbstredend. Komm, schau dir die Tote an!«

Valerie folgte Hinnerk zu der großzügig abgesperrten Grünfläche und begrüßte die Kollegen der Spurensicherung.

»Morgen, Jungs, kann man schon Näheres sagen?«

»Morgen, auch schon da?«, fragte ein grinsender Bursche mit Sommersprossen und roten Haaren, der in seinem weißen Tyvek, einem papiervliesartigen Faserfunktionstextil-Schutzanzug mit Kapuze, entfernt an einen Teletubbie erinnerte.

»Der Ober hat sich mit dem Spezialfrühstück extra viel Zeit gelassen«, frozzelte Valerie. »Außerdem musste ich noch eine Schönheitsmaske auflegen, um die Spuren der Nacht zu beseitigen.«

»Hat aber nicht viel gebracht, oder? Nein, vergiss es. Spuren sind ein gutes Stichwort. Es gibt kaum welche. Entweder der Täter hat sich besonders vorsichtig verhalten oder es hat hier jemand aufgeräumt.«

»Hübsche junge Frau«, meinte Hinnerk. »Kommt mir irgendwie bekannt vor. Um wen handelt es sich?«

»Um Leona Wolfhard, wohnhaft in der Schöneberger Martin-Luther-Straße, sechsundzwanzig und ledig. Und bevor die Frage kommt, was sie hier mitten in der Nacht gemacht haben kann, anhand eines Coupons können wir davon ausgehen, dass sie drüben im Tempodrom an einem Lookalike-Contest teilgenommen hat.«

»Demnach ist sie schon einige Stunden tot?«, fragte Valerie nach.

»Jep, Todeszeitpunkt zwischen dreiundzwanzig und ein Uhr morgens, Todesursache Genickbruch«, mischte sich ein schlaksiger Bursche der Rechtsmedizin ein.

»Gibt es Anzeichen dafür, ob man sie hierher geschleppt hat, oder ist das auch der Tatort?«, wollte Valerie wissen.

»Vermutlich Letzteres. Keine erkennbaren Spuren von Gegenwehr. Es muss sie eiskalt erwischt haben.«

»Oder sie hat den Täter gekannt«, sagte Hinnerk.

»Dafür spricht, dass noch alle Wertgegenstände vorhanden sind, also kein Raubmord«, antwortete der Rothaarige.

»Hatte sie ein Handy dabei?«, fragte Valerie.

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Ob der Täter seine DNA hinterlassen hat, werdet ihr später erfahren. Unter ihren Fingernägeln ist jedenfalls auf den ersten Blick nichts«, meldete sich Knud, der Rechtsmediziner, erneut zu Wort.

»Gut, ich erwarte dann euren Bericht.« Valerie machte kehrt und sprach kurz mit einem anderen Kollegen der Spurensicherung. Dabei ließ sie sich etwas in die Hand drücken, wie Hinnerk auffiel, und lief zu ihrem Wagen zurück.

»Hallo, wohin des Wegs, werte Kollegin, wenn man fragen darf?«, rief ihr Hinnerk hinterher.

»In die Wohnung des Opfers. Vielleicht finden wir dort einige Hinweise.«

»Darf ich mitkommen? Oder bist du heute auf Alleingang aus?«

»Im Gegenteil, vier Augen sehen mehr als zwei.«

Die beiden Kommissare fuhren hintereinander in Richtung Innenstadt. Valerie überlegte kurz, ob sie ihren Karmann Ghia im LKA abstellen und in den gemeinsamen Dienstwagen, eine VW Polo Limousine, umsteigen sollte, verwarf aber den Gedanken, weil es nur einen Katzensprung von der Martin-Luther-Straße zur Keithstraße war. Anders als die Kollegin Roth fuhren sie keinen VW Phaeton, die wesentlich luxuriösere Ausführung einer VW Limousine. Aber wenn man den Gerüchten glauben konnte, sollte auch die bald ein preiswerteres Modell fahren.

Vor der Wohnung des Opfers angekommen, entdeckten Valerie und Hinnerk einen Zettel, der an die Tür geklebt war.

Hallo Leona, wo steckst du? Warum meldest du dich nicht? Ich will doch wissen, wie es gestern war. Bitte ruf mich an!

Trixi

Die Altbauwohnung war stylisch und edel eingerichtet. Das Wohnzimmer wirkte wie aus einem Katalog. Dagegen machte das Schlafzimmer einen eher verspielten Eindruck, mit all den Tüchern und dem vielen Nippes.

Hinnerk machte große Augen. »Man könnte meinen, hier wohnt ein Teenager«, sagte er spöttisch. Sie mal da, jetzt weiß ich, warum mir die Frau irgendwie bekannt vorkam!«

Eine Wand des Raumes war über und über mit Postern und Autogrammkarten von der Pop-Ikone Lady Gaga tapeziert. Auf einem altarähnlichen Aufbau stand ein besonders schönes Foto, flankiert von zwei Kerzenleuchtern.

»Die muss ja diesen Popstar geradezu angebetet haben«, sagte Valerie.

»Nicht nur das, sie wollte auch genauso aussehen«, gab Hinnerk seiner Kollegin Recht, als er wenig später mit Einmalhandschuhen in einem Aktenordner blätterte. »Hier sind Rechnungen von Schönheitschirurgen und Kieferorthopäden.«

»Das ist doch krank. An der Nase gab es wohl nichts zu verändern, es sei denn, sie hat sie vergrößern lassen, denn die Lady hat einen ziemlichen Zinken.«

„Nur kein Neid. Es kann nicht jede so ein süßes Stupsnäschen wie du haben …«

»Ist das eine Anmache?«, fragte Valerie grinsend.

»Warum nicht? Wäre doch mal was Neues«, grinste Hinnerk zurück.

»Vergiss es! Sex am Arbeitsplatz ist für mich ein No Go.«

In diesem Moment läutete das Telefon im Wohnzimmer.

»Hallo«, meldete sich Valerie, als sie den Telefonhörer mit einem Papiertaschentuch umfasste, und stellte bei der Gelegenheit fest, dass der Anrufbeantworter leider keine einzige Nachricht aufgezeichnet hatte.

»Hallo, oh, habe ich mich verwählt?«

»Nein, hier spricht die Mordkommission, und wer ist dort?«

Am anderen Ende der Leitung herrschte einen Moment völlige Stille.

»Sind Sie noch dran?«, fragte Valerie nach.

»Ja … hier spricht Beatrice Röder. Ist Leona etwas zugestoßen?«

»Ja, leider, Frau Röder. Ich nehme an, Sie werden Trixi genannt, richtig?«

»Ja, dann haben Sie also meinen Zettel gefunden?«

»Können wir gleich bei Ihnen vorbeikommen? Sind Sie zu Hause, oder sprechen Sie von unterwegs?«

»Nein, ich bin in meiner Wohnung. Die Adresse lautet …«

Valerie schrieb mit und legte auf, nachdem sie sich kurz verabschiedet hatte.

»Ich fahre mal eben vorbei, es ist ganz in der Nähe«, sagte sie zu Hinnerk. »Du kannst inzwischen die Spusi rufen und dich noch etwas umsehen. Bis dann.«

Valerie war schon draußen, bevor Hinnerk antworten konnte, und lief mit klappernden Absätzen den schönen alten Flur hinunter.

Als die Wohnungstür geöffnet wurde, sah Valerie eine Frau mit verweinten Augen, die mit ihrer rundlichen Figur und den dunklen, mittellangen Haaren das ganze Gegenteil von Leona Wolfhard war. Ein Umstand, der bei Freundinnen oftmals vorkommt, wie Valerie wusste.

»Hallo, Frau Röder. Ich bin Valerie Voss vom LKA Berlin. Möchten Sie meinen Dienstausweis oder die Marke sehen?«

Die Frau schüttelte wortlos den Kopf und ließ Valerie eintreten.

»Was ist mit Leona passiert?«, fragte sie leise.

»Das würde ich Ihnen ungern im Flur sagen.«

»Entschuldigung, ich bin ganz durcheinander. Kommen Sie doch ins Wohnzimmer! Darf ich Ihnen etwas anbieten. Kaffee oder Tee?«

»Falls Sie gerade Kaffee haben, sage ich nicht nein.«

»Die Maschine brüht jede Tasse frisch. Dann gehen wir in die Küche, bitte.«

Beatrice Röder ging voraus und bot Valerie einen der weißen Küchenstühle an. Dann machte sie sich an dem Kaffeeautomaten zu schaffen, als hätte sie ihre Frage vergessen.

»Ihre Freundin ist heute Morgen tot aufgefunden worden. In einer Grünanlage unweit des Tempodroms.«

»Ja, sie hat dort gestern an der Show teilgenommen. Leider konnte ich nicht dabei sein, weil meine Mutter ihren Geburtstag gefeiert hat. Das wird mir Leona wohl nie verzeihen …«

Sie hielt erschrocken inne, als ihr bewusst wurde, dass Leona keine Gelegenheit mehr zum Übelnehmen hatte, und begann wieder zu weinen.

»Haben Sie sich sehr nahe gestanden?«

»Ja, irgendwie schon«, sagte Beatrice mit erstickter Stimme. »Leona hat eigentlich keinen sehr nahe an sich herangelassen. Wohl aus Angst, für etwas überspannt gehalten zu werden. Sie ist ganz in ihrer Verehrung für Lady Gaga aufgegangen. Deshalb wollte sie auch wie sie sein, koste es, was wolle.«

»Ein kostspieliges Unterfangen. Konnte Frau Wolfhard sich das leisten? War sie vermögend oder ging einer lukrativen Beschäftigung nach?«

»Das hatte sie nicht nötig. Ihre Eltern sind wohl stinkreich und haben ihr jeden Wunsch erfüllt.«

»Beneidenswert, oder auch nicht. Leben die Eltern von Frau Wolfhard in Berlin?«

»Nein, so viel ich weiß, in der Nähe von München.«

»Wie haben Sie sich kennengelernt?«

»Durch den Lady Gaga Fanclub. Ich fand toll, wie ähnlich sie ihr sah, und habe ihr das auch gesagt. Das kam wohl nicht so oft vor. Die meisten hielten sie für eine schlechte Kopie.« Beatrice biss sich auf die Lippen. »Ach, das wollte ich gar nicht sagen …«

»Demnach sind Sie auch so eine glühende Verehrerin?«

»Ja … nein, so weit wie Leona würde ich nie gehen. Da müsste man schon sehr viel an mir herumschneiden, und leisten könnte ich es mir auch nicht.« Beatrice lächelte gequält.

»Hat Frau Wolfhard in einer Beziehung gelebt?«

»Nein, es gab hin und wieder mal einen Mann, aber das war nie von längerer Dauer und ist auch schon eine Weile her.«

»Und zuletzt war da niemand? Vielleicht jemand, den sie abgewiesen hat?«

Beatrice schüttelte den Kopf, um plötzlich aufzublicken.

»Doch, warten Sie mal, da gab es einen, der sie beinahe wie ein Stalker verfolgt hat. Ein kranker Spinner. Aber sie hat ihn einfach nicht ernst genommen, und dann war er irgendwann kein Thema mehr. Vielleicht hat er es aufgegeben.«

»Wissen Sie, wie der Mann hieß? Wo er wohnte?«

»Nein, leider nicht. Ich denke, das wusste nicht einmal Leona.«

»Hat er sie in irgendeiner Weise bedroht?«

»Nicht direkt. Es war mehr eine Art von Psychoterror. Er hat ihr aufgelauert und sie mit Anrufen bombardiert. Aber wie gesagt, dann hat es plötzlich aufgehört.«

»Haben Sie selbst den Mann einmal gesehen? Sind Sie ihm irgendwo begegnet?«

»Nein, manchmal … So jetzt ist der Kaffee endlich durchgelaufen. Mögen Sie Zucker?«

Valerie verneinte und führte den Satz von Beatrice zu Ende. »Manchmal haben Sie bezweifelt, ob es ihn überhaupt gab, ja?«

Beatrice nickte.

»Sie hat ganz in ihrer eigenen Welt gelebt, wissen Sie. Oft bin ich gar nicht zu ihr vorgedrungen.«

»Verstehe. Vielleicht haben wir Glück und finden irgendwelche Aufzeichnungen in der Wohnung von Frau Wolfhard. Gab es noch andere Freundinnen?«

»Eher Bekannte. Irgendwann waren alle etwas überfordert …«

Beatrice begann wieder zu weinen.

»Jetzt habe ich auch keinen mehr. Mich lehnt man aus anderen Gründen ab.«

»Kommen Sie erst einmal etwas zur Ruhe«, wich Valerie aus. Sie fühlte sich außerstande, der verzweifelten Frau Trost zu spenden. In diesen Zeiten gab es viele einsame Menschen. Der hohe Singleanteil in der Bevölkerung sprach Bände. »Nur eine Routinefrage: Wie lange waren Sie auf der Geburtstagsfeier Ihrer Mutter?«

»Etwa bis 23:30 Uhr oder etwas länger. Dann habe ich mir über Funk ein Taxi bestellt. Sie glauben doch nicht etwa … Wie … ist Leona denn gestorben?«

»Man hat ihr mit großer Kraft das Genick gebrochen. Deshalb traue ich Ihnen die Tat ehrlich gesagt nicht zu, aber wir müssen Ihre Angaben überprüfen. Ich lasse Ihnen meine Karte hier, falls Ihnen noch etwas einfällt. Sie können mich jeder Zeit anrufen. Ach, und der Kaffee war wirklich ausgezeichnet.«

Als Valerie zurück ins Präsidium fuhr, läutete ihr Handy. Das ging aber schnell, dachte sie, aber am anderen Ende war nicht die Stimme von Beatrice Röder zu hören.

»Dein Vater betrügt mich mit einer Jüngeren. Ich werde verrückt, wenn ich mich nicht mit jemandem aussprechen kann.«

»Mama, das passt jetzt wirklich schlecht. Ich habe gerade einen neuen Fall übernommen …«

»Wenn es nicht ein neuer Fall ist, dann handelt es sich um einen bisher unaufgeklärten. Du hast doch nie Zeit für mich …«

»Mama, also wirklich. Wir können heute Abend telefonieren, und morgen komme ich gerne zu dir, aber heute Abend muss ich zeitig zu Bett. In der letzten Nacht habe ich nicht viel Schlaf bekommen.«

»Also schön, dann morgen. Aber wage nicht, mir abzusagen …«

»Bestimmt nicht, Mama. Und beruhige dich etwas. Nichts wird so heiß gegessen wie es gekocht wurde.«

»Ein Kalenderspruch deiner Großmutter. Du hast leicht reden. Ach, was soll’s …«

Valerie hörte ein Knacken in der Leitung.

»Mama, hallo …?«

Auch das noch. Der Tag fing ja wieder einmal hervorragend an.

Mord nach Gebot

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