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Kapitel 2

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»Mit ihren weißblonden, glatten Haaren, ohne was drin, sieht sie wieder wie ein unschuldiges Kleinkind aus«, sagte Lars Scheibli, der junge Kommissaranwärter, frech, als Valerie in die Dienststelle kam. »Das nennt man Vorspiegelung falscher Tatsachen.«

»Du musst es ja wissen«, antwortete Valerie und donnerte ihre Umhängetasche auf den Schreibtisch. »Ich dachte, ich werde mit belegten Brötchen aus der Kantine empfangen. Mit Frühstück war heute wieder nichts.«

»Ja, das tut mir jetzt leid«, meinte Hinnerk und holte grinsend einen Teller mit leckeren Baguettes aus der Schublade.

»Wenigstens einer, der an mich denkt«, freute sich Valerie und biss herzhaft in eines der Brötchen.

»Ich gebe es ungern zu, aber die hat Lars für dich besorgt«, sagte Hinnerk.

»Ach so, auch gut! Also, was haben wir? Eine junge Frau, die alles dafür tut, ihrem Idol zu gleichen. Dafür macht sie sich sogar unter Umständen lächerlich …«

»Immerhin hat sie den zehnten Platz belegt«, unterbrach Hinnerk Valerie. »Die Info hat mich nur einen Anruf gekostet.«

»Bleibt die Frage, was sie nachts auf der Parkbank gemacht hat. Hatte sie womöglich ein Rendezvous mit einem Verehrer?«

»Eher unwahrscheinlich. Die Verkündung der Platzierungen hat sie gar nicht mehr mitgekriegt, weil sie schon vorher in Tränen aufgelöst aus der Halle gestürmt ist.«

»Was ist das eigentlich, dieses Tempodrom?«, fragte Lars nach.

»Das weißt du nicht? Ein heimlicher Kulturbanause, oder was?«, zog ihn Hinnerk auf.

»Entschuldige mal, ich bin noch nicht so lange in Berlin, um hier jeden Veranstaltungsort zu kennen.«

»Macht ja nichts. Mit dem Tempodrom hat sich eine ehemalige Krankenschwester, namens Moessinger …«

»Wie heißt die?«, grinste Lars.

»Ähem«, räusperte sich Valerie lautstark.

»Also, diese Dame verwirklichte sich einen Lebenstraum, indem sie aus Erbschaftsmitteln ein Zirkuszelt auf dem ehemals brachliegenden Potsdamer Platz errichten ließ. Nach der Pleite half der Senat mit einer Finanzspritze. Dann musste sie in den Großen Tiergarten umziehen, wo sie auch nicht bleiben konnte, wegen der Errichtung des Bundeskanzleramts. Die Entschädigung, staatliche Zuschüsse und private Spendenmittel ermöglichten dann einen Neubau auf dem Gelände des ehemaligen Anhalter Bahnhofs. Alles klar?«

»Du hättest Fremdenführer werden sollen«, spöttelte Valerie.

»Nur kein Neid, als kulturinteressierter Mensch …«

»Ist ja gut. Also, wer könnte ihr da begegnet sein? Ihre Freundin hat ausgesagt, dass es kaum Männerbekanntschaften gegeben hat. Allerdings soll sie ein Kerl eine Zeitlang regelrecht verfolgt haben. Hat er ihr aufgelauert und sich etwas verspätet gerächt? Leider wissen wir nicht, um wen es sich dabei gehandelt hat.«

»Dann brauchen wir doch nur alle männlichen Lady Gaga Fans unter die Lupe zu nehmen«, sagte Hinnerk todernst. »Bei einer Anzahl von vermutlich Millionen, die sich in Berlin auf wenige Hunderttausend eingrenzen lässt, eine Kleinigkeit.«

»Hast du heute deinen witzigen Tag?«, ermahnte ihn Valerie. »Sag mir lieber, ob du in der Wohnung Briefe gefunden hast. Und was ist mit den Anrufen, die bei diesem Festnetzanschluss eingegangen sind?«

»Schon in Arbeit. Der Einzelverbindungsnachweis läuft.«

»Dann mach Druck, wir brauchen ihn sofort. Vielleicht hat sie am Tage ihres Todes noch mit ihrem Mörder telefoniert.«

»Und mit den Briefen ist es Essig. Entweder hat sie keine bekommen oder alle weggeworfen. Mal sehen, ob die Spusi noch so etwas wie ein Geheimfach findet.«

»Ich frage mich, ob meine Entscheidung, nach Berlin zu gehen, die richtige war«, meldete sich Lars zu Wort. »Was ist das für eine Stadt, in der eine Tote die halbe Nacht auf einer Bank sitzt, und sich niemand darum schert?«

»Die Hauptstadt, du Sensibelchen«, sagte Hinnerk. »Aber zu deinem Trost: Das ist wohl heutzutage in keiner Stadt anders, auch nicht in Tuttlingen City. Die Leute denken: Ach, die hat zuviel getrunken oder steht unter Drogen. Lieber nicht drum kümmern. Und so kalt, dass Erfrierungsgefahr besteht, ist es ja nicht mehr. Außerdem hat dann ja doch jemand Alarm geschlagen. Eine ältere Obdachlose, die plötzlich ihren Platz besetzt sah.«

»Na bravo, was für eine Motivation«, sagte Lars. »Auf die Gefahr hin, dass ich euch mit meiner Unwissenheit auf die Nerven gehe, aber was ist mit diesem Bahnhof? Ich kenne nur den Bahnhof Zoo und den neuen Hauptbahnhof, allenfalls noch den Ostbahnhof. Und wie kann ein Kulturtempel auf dem Areal stehen?«

»Der Anhalter ist ein ehemaliger Fernbahnhof, der auch „Das Tor zum Süden“ genannt wurde“, gab Hinnerk Auskunft. »Vor dem Ersten Weltkrieg gab es von dort aus Eisenbahnverbindungen nach Österreich-Ungarn, Italien und Frankreich. Daneben gab es noch den Görlitzer-, den Stettiner- und den Potsdamer Bahnhof. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Anhalter Bahnhof schwer beschädigt, und der Zugverkehr beschränkte sich auf wenige Fern- und Personenzüge in die Sowjetische Besatzungszone. Ab 1951 gab es nur noch wenige Nahverkehrszüge nach Brandenburg und Sachsen-Anhalt. 1959 wurde die Anlage schließlich auf Veranlassung des Westberliner Senats gesprengt, aber das Eingangsportal trotzte allen Sprengversuchen, deshalb steht noch immer ein Rest davon da. 2002 wurde dann auf dem brachliegenden Gelände dahinter das Neue Tempodrom erbaut.«

»So, genug mit der Geschichtsstunde«, sagte Valerie. »Wir haben alle begriffen, dass unser Hinni sich jederzeit in der Tourismusbranche ein Zubrot verdienen kann, falls ihm sein Gehalt nicht reicht. Und Lars kann sich in seiner Freizeit mit der Berlin-Historie befassen.«

Hinnerk griff zum Telefon, um noch einmal beim Provider von Leona Wolfhards Telefonanschluss anzurufen, als in diesem Moment Marlies Schmidt mit einem Fax aus dem Nebenzimmer kam. Die junge Sekretärin mit den Naturlocken und dem sonnigen Gemüt war der gute Geist der Abteilung und wurde von allen nur Schmidtchen oder Lieschen genannt, wobei die Verniedlichung ihres Namens keine Abwertung bedeutete, sondern die allgemeine Wertschätzung ausdrückte.

Valerie überflog die Liste mit den Einzelverbindungen, die etwa zwei Monate umfasste. »Interessant«, sagte sie und schürzte die Lippen. »Die Wolfhard ist mehrmals von öffentlichen Telefonzellen aus angerufen worden, immer andere. Eine Meisterleistung, wo es kaum noch welche davon in der Stadt gibt. Die Röder scheint Recht zu haben, mit den anonymen Anrufen. Allerdings hat sie mir verschwiegen, dass sie versucht hat, ihre Freundin in der Mordnacht anzurufen. Ich frage mich warum? Ich denke, ich werde der Dame noch einmal auf den Zahn fühlen müssen. Am besten gleich. Und einer von euch stellt bitte eine Anfrage ins Netz, ob jemand an dem bewussten Abend am Askanischen Platz Leona Wolfhard in Begleitung gesehen hat. Aber bitte nicht mit einem Foto der Toten, sondern mit einem, wo sie noch quicklebendig war. Möglichst keines, auf dem sie mit ihrem Idol zu verwechseln ist, sonst glaubt man noch, Lady Gaga wurde umgebracht.«

»Ich komme mit«, sagte Hinnerk. »Vielleicht ist „Trixi“ mir gegenüber etwas mitteilsamer. Vor allem, was die verflossenen Liebhaber von Leona betrifft. Ich glaube einfach nicht, dass sie keinen mit Namen kennen will. Das wäre das erste Mal, dass sich Freundinnen nicht über nähere Einzelheiten austauschen.«

»Bitte, wenn du mich für unfähig hältst«, meinte Valerie spitz. »Dann lass deinen berühmten Charme spielen.«

Der zweite Besuch bei Beatrice Röder brachte auch keine neuen Erkenntnisse. Sie wollte jeweils nur die Vornamen der Liebhaber von Leona Wolfhard gekannt haben, doch keine Nachnamen und erst recht keine Adressen. Blieb also nur die Überprüfung der männlichen Anrufer auf der Liste, dachte Hinnerk und ihm grauste schon vor der Kleinarbeit, die kaum etwas bringen würde, weil es auf der Hand lag, dass der Täter eher einer der Anrufer aus einer der öffentlichen Telefonzellen war. Kaum anzunehmen, dass er von seinem Privatanschluss aus telefoniert hatte. Es sei denn, die Tat war eine Kurzschlusshandlung gewesen, aus welchen Gründen auch immer.

Warum sie Valerie gegenüber den nächtlichen Anruf bei der Freundin verschwiegen hatte, beantwortete Beatrice, indem sie meinte, einfach neugierig gewesen zu sein, wie der Contest verlaufen war. Als Leona nicht antwortete, war Beatrice davon ausgegangen, dass es noch eine anschließende Feier bis in die Nacht gegeben hatte. Sie habe sich erst Sorgen gemacht, als sie auch am Morgen Leona nicht erreichte, deshalb der Zettel an der Tür. Nein, ein Handy habe Leona nicht besessen, weil sie diese Dinger aus Überzeugung hasste, und selbst ein geschenktes links liegen ließ. Somit war es ihr also nicht gestohlen worden, wie Valerie anfangs vermutet hatte.

Der Anruf bei ihrer Mutter verlief sehr kurz und unterkühlt, da Karen Voss offensichtlich übel nahm, dass ihre Tochter nicht alles hatte stehen und liegen lassen, um sich um das Seelenheil von Karen zu kümmern. So ging Valerie wie beabsichtigt früh zu Bett und dachte mit einigem Bauchgrimmen an den bevorstehenden Besuch bei ihrer Mutter am nächsten Tag.

Im Nachbarbezirk Schöneberg wurde ein junger Mann wie so oft in der Nacht von schweren Träumen geplagt, die eigentlich Kindheitserinnerungen waren. Er sah sich als pubertierender Junge, der von seiner Mutter auf der Toilette beim Onanieren überrascht wurde.

„Was machst du da, du Schwein?“, fuhr ihn die resolute Frau an. „Wenn ich das deinem Vater erzähle, kommt er her und hackt dir die Hände ab.“

Er hatte damals ziemlich genau gewusst, dass sein Vater nicht wiederkommen würde. Nicht einmal wegen der Unkeuschheit seines Sohnes, die von der Mutter als Todsünde bezeichnet wurde. Aber eine Restangst war immer geblieben, dass der schmerzlich vermisste Vater doch wieder in der Tür stehen und sich in seiner Hand ein Fleischerbeil befinden würde.

Dann wechselte meist die Szenerie. Jetzt sah er sich in seinem Bett liegen und mit Leidenschaft wichsen, wie seine Schulkameraden das Onanieren bezeichneten. Ängstlich zwischendurch nach nebenan lauschend hatte er Erguss um Erguss, deren Spuren er nicht etwa in Papiertaschentücher wischte, die seine Mutter finden konnte, sondern auf seinem Oberschenkel verteilte. Die Pigmentflecken würde er ein Leben lang mit sich herumtragen, aber darüber hatte er sich in seinem jugendlichen Alter noch keine Gedanken gemacht.

Eine andere Erinnerung kehrte auch nachts stets wieder. Wie er als Kind von etwa zwölf Jahren nach der Katechismusstunde als einziger beim Kaplan zurückgeblieben war. Er hatte sich auf den Schoß des Mannes setzen müssen, der ihn gestreichelt und geküsst hatte. Irgendwann waren dann die Finger des Erwachsenen immer am Hosenschlitz des Jungen gelandet. Die Berührung hatte zwar sein kleines Glied steif werden lassen, aber er hatte keine Lust dabei empfunden, im Gegenteil. Er hatte sich geekelt, den schalen Atem des Kaplans riechen zu müssen, und die weißen weichen Finger an seinem Genital zu spüren. Nie und nimmer hätte er sich getraut, seiner Mutter davon zu erzählen. Die hätte ihn ohnehin nur als Lügner bezeichnet und es als eine Schande betrachtet, dass der Sohn einen Gottesmann verleugnete.

Es war eine große Befreiung für ihn gewesen, als die Katechismusstunden nach der heiligen Erstkommunion aufgehört hatten, aber in seinen Träumen durchlebte er sie wieder und wieder.

Dafür hatte die Erstkommunion eine andere peinliche Zeremonie mit sich gebracht, die der Beichte. Anfangs war es den Kindern äußerst unangenehm gewesen, einem fremden Erwachsenen die intimsten Geheimnisse anzuvertrauen. Außerdem fiel es mit der Zeit schwer, von immer neuen Verfehlungen zu berichten, um sich nicht zu wiederholen oder als unverbesserlich darzustellen.

Die frecheren unter den Klassenkameraden hatten ganz offen darüber gesprochen, wie sie sich oft etwas ausdachten, das sie beichten konnten. So hatte er sich auch geholfen, immer in Angst lebend, der Beichtvater könnte alles seiner Mutter erzählen, bis er erfahren hatte, dass selbst Mörder keine Angst vor der Verletzung des Beichtgeheimnisses zu haben brauchten. Ein Umstand, der ihm große Erleichterung gebracht hatte. Damals hatte er sich freilich noch nicht vorstellen können, dass diese Belange einmal eine Bedeutung in seinem Erwachsenenleben haben würden.

Karen Voss ließ Valerie wortlos eintreten. Ihr Gesichtsausdruck war derart verächtlich, als sei Valerie die Schuldige an diesem Familiendrama.

»Hast du dich tatsächlich freimachen können«, sagte sie ironisch.

»Mama, ich habe einen Beruf, der mich voll und ganz fordert, deshalb unterlass es bitte, mir ständig Vorwürfe zu machen. Ich bin hier und höre dir zu. Genügt dir das nicht?«

Karens Stimmung wechselte von einer Sekunde zur anderen. Sämtliche Spannung wich aus ihrem Körper und sie begann haltlos zu weinen. Valerie nahm ihre Mutter in die Arme und küsste ihr die Tränen vom Gesicht.

Karen Voss war für ihr Alter von Mitte fünfzig sehr attraktiv und insgesamt eine gepflegte Erscheinung. Kaum einer ahnte, dass ihre hellbraunen Haare nicht mehr ihre Naturhaarfarbe hatten, denn Karens Friseur hatte frühzeitig begonnen, den ersten grauen Strähnen den Garaus zu machen. Sie war schlank und hatte eine makellose Haut. Sicher, am Dekolleté und in den Augenwinkeln machten sich erste Fältchen bemerkbar, und der Busen und die Oberschenkel waren nicht mehr so straff wie ehemals, doch grundsätzlich wurde sie von allen für jünger gehalten.

Nur gegen eine zwanzig Jahre jüngere Frau war sie chancenlos, wie sich jetzt herausstellte. Zumindest, wenn der Mann den zweiten oder gar dritten Frühling erlebte und eine knackige Figur einer innerlich gewachsenen Beziehung vorzog.

»Er hat gestern mit einem einzigen Koffer das Haus verlassen, der Mistkerl«, sagte sie mit belegter Stimme. »Meine besten Jahre habe ich ihm geopfert.«

»Er dir auch, Mama, vergiss das nicht«, sagte Valerie vorsichtig.

»Sag mal auf wessen Seite stehst du eigentlich?«, fragte Karen erbost.

»Auf keiner. Ich habe euch beide lieb und versuche jedem gerecht zu werden. Ihr habt viele schöne Jahre miteinander verbracht, mehr als so manche Paare. Und wenn Papa meint, er müsse sich noch einmal etwas beweisen, dann ist das für dich zwar schmerzlich, aber du wirst es nicht verhindern können.«

»Soll ich vielleicht seelenruhig zusehen und noch sagen: Wenn du zurückkommen willst, steht dir jederzeit die Tür offen?«

»Wenn du klug bist, ja. So manche verlassene Ehefrau hat ihre unnachgiebige Härte später bereut. Sieh mal, es kann doch leicht sein, dass er sich etwas viel vorgenommen hat. Eine jüngere Frau stellt höhere Ansprüche, auch im Bett.«

»Du bist geschmacklos.«

»Nur realistisch, Mama. Lass ihn sich die Hörner abstoßen. Und wenn es Zoff in der neuen Beziehung gibt, bist du da, um ihn aufzufangen. Ich weiß, das ist ein Kraftakt ohne Gleichen, aber die Chance, dass du als Siegerin hervorgehst, ist immerhin gegeben. Wenn du die Scheidung verlangst, verlierst du alles.«

»Aber ich kann doch nicht dasitzen und abwarten, bis er es sich anders überlegt. Weißt du, was du da von mir verlangst?«

»Es ist nur ein guter Rat, Mama. Ich werde mir natürlich auch Papas Meinung anhören, falls er überhaupt den Mut hat, mit mir darüber zu sprechen.«

»Das bezweifle ich, auch wenn du schon immer ein Vaterkind warst. So langsam verstehe ich, warum du partout nicht heiraten willst.«

»Das hat ganz andere Gründe, Mama. Ich finde einfach, dass mein Beruf nicht zu einer Ehefrau und Mutter passt. Im Grunde genommen nicht einmal zu einer festen Beziehung.«

Karen lachte bitter auf.

»Glaubst du, ich weiß nicht, dass du die Abwechslung liebst? Du probierst dich und andere aus, auch in erotischer Hinsicht. Aber eines Tages stehst du ganz alleine da, und dann nützt dir dein Beruf auch nichts mehr, weil du selbst für den zu alt geworden bist.«

Valerie machte eine abwehrende Geste.

»Mama, du dramatisierst mal wieder alles. Verständlich in deiner momentanen Situation, aber es geht zurzeit um dich, und nicht um mich.«

»Mitansehen zu müssen, wie meine Tochter ihr Leben verpfuscht, macht mich doppelt unglücklich«, gab Karen nicht auf.

»Davon kann wirklich keine Rede sein. Themenwechsel, du machst uns jetzt einen Kaffee, und dann überlegen wir, was du mit deiner neu gewonnenen Freizeit anfangen kannst.«

»Was wohl? Trübsal blasen.«

»Eben nicht. Mal sehen, was uns zu dazu einfällt.«

Später, als Valerie sich von ihrer Mutter verabschiedet hatte, dachte sie noch einmal an das Gespräch zurück. Warum hatte sie nicht den Mut gehabt, den wahren Grund ihrer Ehe-Phobie zu nennen? Wohl deshalb, weil in ihrer Familie schon immer Dinge totgeschwiegen worden waren.

Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie sie als kleines Mädchen die Kräche ihrer Eltern mitbekommen hatte. Ursache der Streitereien waren immer andere Frauen gewesen. Damals hatte sie nicht begreifen können, warum ihr Papi die Mami nicht mehr lieb haben sollte. Im Teenyalter hatte sie ihren Vater dann heimlich „den Bock“ genannt, vor dem keine Frau sicher war. Bis er ihr in einem längeren Gespräch klarzumachen versucht hatte, dass die Liebe eine flüchtige Angelegenheit sei. Den Flitterwochen folge mitunter die große Ernüchterung. Das ginge vielen Ehemännern so. Einige ließen sich scheiden, andere arrangierten sich.

Valerie hatte damals beschlossen, nie zu heiraten. Wozu der ganze Aufwand, wenn das Ende schon vorprogrammiert war? Scheidungen waren heutzutage teuer und brachten neuen Zank und Streit. Und wenn man sich bei Kerlen in Sachen Gefühle nie sicher sein konnte, wollte sie auch keine engere Beziehung eingehen. Seitdem zog sie rechtzeitig die Notbremse, wenn ihr jemand ernstlich gefährlich wurde.

Mord nach Gebot

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