Читать книгу Ohne Scham - Dietrich Novak - Страница 3
Prolog
ОглавлениеDaniela Wilke fühlte sich schon seit einiger Zeit verfolgt. Der Kerl war geschickt genug, immer dann in Deckung zu gehen, wenn sie sich umdrehte. Trotzdem konnte sie seine Anwesenheit geradezu körperlich spüren. Seine Schritte wurden durch den Sandweg gedämmt, falls er diesen überhaupt benutzte und nicht über den Rasen lief. Wie konnte sie auch nur so blöd sein, durch den Bürgerpark die Abkürzung zu nehmen, geißelte sie sich unaufhörlich. Doch einmal hatte sie nicht bedacht, dass in dieser Jahreszeit die Dämmerung früher einsetzte, und zum anderen hatte sie gehofft, noch vereinzelte Spaziergänger anzutreffen, wie es normalerweise der Fall war. Denn im großen Erholungspark, einem Wahrzeichen des Ortsteils Pankow, traf man bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit Menschen jeglichen Alters, die dem Stadtgetümmel entflohen und sozusagen in eine andere Welt eintauchten.
Nur heute nicht, dachte Daniela bitter. Vielleicht, weil für die Abendstunden Regen angesagt war und es bereits zu nieseln anfing. Ihre Freundin Birgit hatte sie noch gewarnt, der Versuchung zu widerstehen, von der Heinrich-Mann-Straße zur Wilhelm-Kuhr-Straße die Abkürzung durch den Bürgerpark zu nehmen. Wie gut Birgit sie doch kannte, dachte Daniela. Doch der Kaffeeklatsch war so unbeschwert und heiter gewesen, dass sie für einen Moment alle düsteren Gedanken verdrängt hatte. Ein folgenschwerer Fehler, wie ihr mehr und mehr bewusst wurde.
Die aufkommende Panik hielt sie nicht davon ab, wiederum zu überlegen, wer ihr Verfolger sein konnte. Hatte sie jemanden beleidigt, ermuntert oder abgewiesen, der ihr offensichtlich den Hof machte? Ob es derjenige war, der sie neulich auf der Singleparty unbedingt hatte kennenlernen wollen? Wie hieß der Mann noch? Er hatte stechende Augen gehabt und sich irgendwie seltsam benommen. Dabei war er noch nicht einmal ihr Typ gewesen. Auch ohne seine fordernde, lauernde Art hätte sie ihm nie und nimmer eine Chance gegeben. Aber nein, er hatte ihr zwar draußen aufgelauert, war dann aber ziemlich beleidigt weggegangen, nachdem sie ihm unmissverständlich klar gemacht hatte, dass es keine gemeinsame Zukunft für sie beide geben würde. Und seitdem hatte sie ihn nicht wiedergesehen. Warum sollte er heute ausgerechnet …?
Halt! Hatte da nicht ein Ast geknackt? Wenn doch nur das rettende Tor endlich in Sicht käme … Herrje, warum kam denn niemand? Waren alle aus Zucker, um sich vor ein paar Regentropfen zu fürchten? Daniela beschleunigte ihre Schritte und merkte, wie sie zu schwitzen anfing.
Dann ging alles sehr schnell. Plötzlich nahm sie einen dunklen Schatten wahr, dessen Verursacher sich ihr in den Weg stellte.
»Du?«, fragte sie ungläubig, »was machst du hier?« Es sollten die letzten Worte sein, die sie in diesem Leben sprach.