Читать книгу Ohne Scham - Dietrich Novak - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеAuf der Straße des 17. Juni in Tiergarten herrschte trotz der vorgerückten Stunde noch reger Verkehr. Sogar in doppelter Hinsicht, denn dort blühte der Straßenstrich. Leichtbekleidete „Damen“ standen ganz zufällig in kleinen Gruppen oder allein vor den Büschen des großen Parks und wurden erst aktiv, wenn ein Auto auffällig langsam fuhr oder gar anhielt.
Janine Siebert, die sich hier Coco nannte, war eine von ihnen. In früheren Zeiten hätte man sie als gefallenes Mädchen bezeichnet, denn bisher war ihr in ihrem Leben nicht viel Glück beschieden. Eine viel zu frühe Heirat, die bald darauf folgende schmutzige Scheidung, Gelegenheitsjobs und schließlich die Prostitution. Sogar das Sorgerecht für ihren Sohn hatte man ihr aufgrund ihres unsoliden Lebenswandels entzogen. Sie sah ihn nur alle paar Wochen und ihr Verhältnis zueinander konnte man durchaus als gestört bezeichnen.
Ein Grund mehr, es den Kerlen heimzuzahlen. Wenn sie schon ständig herumhuren mussten, dann sollten sie auch dafür bezahlen, und nicht zu knapp. Sie kannte ihren Marktwert und war nicht darauf angewiesen, Dumpingpreise zu nehmen, wie manch Süchtige es tat, um damit ihren Drogenkonsum mehr schlecht als recht zu finanzieren.
In dieser Nacht war ihr Typ besonders gefragt. Ob das an den knappen Hotpants aus Leder, der engen Korsage oder den (falschen) roten, langen Haaren lag, konnte sie nicht sagen, aber der Rubel rollte. Und schon wieder hielt ein Wagen. Der Fahrer winkte sie heran. Coco lehnte sich in das heruntergelassene Fenster und präsentierte dabei ihren ausladenden Busen.
»Dachte ich mir doch, dass wir uns bald wiedersehen«, sagte sie kess grinsend.
»Was nimmst du denn so?«
»Kommt ganz darauf an. Ganz normal `nen Hunni. Ohne Gummi noch mal fünfzig und für „französisch“ noch mal fünfzig. Selbstverständlich ohne Küssen, damit das gleich klar ist.«
»Ja, ja, schon gut. Komm, steig ein! Wir fahren dahin, wo es etwas ruhiger ist.«
»Aber anschließend bringst du mich wieder zurück. Ich habe keine Lust, mir Plattfüße zu holen.«
»Na klar, ist doch Ehrensache.«
Janine alias Coco stieg ein und rekelte sich lasziv auf dem Beifahrersitz.
»Was dagegen, wenn ich rauche?«, fragte sie keck.
»Nö, kannst mir auch gleich eine anstecken.«
»Neulich hast du aber nicht geraucht, wenn ich mich nicht täusche. Dabei sollte man meinen, dass du wesentlich aufgeregter warst als heute.«
»Das wechselt bei mir, mal so, mal so. Bist du dir nicht zu schade für das Gewerbe? Ich könnte mir vorstellen, dass es auch sehr eklige Kerle gibt.«
»Solange der Verdienst stimmt. Außerdem nehme ich nicht jeden. Ich erlaube mir die Freiheit, auch mal welche wegzuschicken.«
»Kannst du alles für dich behalten, oder musst du das Meiste an deinen „Beschützer“ abgeben?«
»Was wird das jetzt hier? Willst du quatschen oder bumsen? Die Psychostunde kostet zweihundertfünfzig. Aber ich hatte den Eindruck …«
»Okay, okay, ich bin schon ruhig. Wir sind eh gleich da.«
Lars freute sich auf den Abend mit Anna, die er bei seinem letzten Undercovereinsatz in einem Pflegeheim kennengelernt hatte. Zwischen ihnen hatte es diverse Turbulenzen gegeben, denn Anna nahm ihm übel, dass er ihr verschwiegen hatte, in Wahrheit ein Kommissar des LKA zu sein. Er hingegen wollte nicht einsehen, wie freizügig sie mit den Patienten umging. So hatte er sie einmal dabei überrascht, wie sie sich beim Füttern von einem bettlägerigen alten Herrn an die Brust fassen ließ. Ihre Erklärung, der Kranke verwechsele sie lediglich mit seiner Mutter, hatte Lars nicht sehr überzeugt. Doch als wenig später ein Mordanschlag auf Lars verübt worden war, hatten sich alle Wogen geglättet. Anna war halb verrückt vor Sorge gewesen und hatte sich letztendlich zu ihrer Liebe bekannt. Seitdem sahen sie sich so oft wie möglich.
Das Pflegeheim im Berliner Norden war Schauplatz einer Mordserie gewesen. In ihm hatte ein sogenannter Todesengel sein Unwesen getrieben, indem er alte Menschen vorzeitig zu Tode gebracht hatte. Valerie und Hinnerk konnten den Pfleger, der unter falscher Identität auftrat, schließlich überführen.
Pikanter Weise war in dem Heim auch Valeries Vater Christoph gestorben, ebenso wie Herbert Schindlers Frau. Ob beide Todesfälle auch auf das Konto des Todesengels gingen, konnte jedoch nicht geklärt werden. Eine von Valerie veranlasste Obduktion beziehungsweise Autopsie ihres Vaters war ergebnislos verlaufen, denn den deutlich erhöhten Kaliumspiegel wiesen die Mehrzahl aller Leichen auf. Bei Irene Schindler hätte sogar eine Exhumierung erfolgen müssen. Dabei hatte aber die Staatsanwaltschaft nicht mitgespielt.
Anna hatte schon den Tisch in ihrer kleinen, aber gemütlichen Dachgeschosswohnung gedeckt und empfing Lars mit einem innigen Kuss.
»Na, was machen unsere Schäfchen? Haben sie mich inzwischen vergessen?«, fragte Lars.
»Keineswegs. Es vergeht kein Tag, an dem sie nicht nach dir fragen. Du hast ordentlich Eindruck hinterlassen. Selbst die olle Semmler gibt nicht auf und will wissen, ob du nicht doch irgendwann deinen Dienst bei der Kripo quittieren willst. Kein Wunder, die neuen Pflegekräfte, die sie eingestellt hat, sind nicht gerade der Hit. Sabine schiebt eine ruhige Kugel, und Volker reißt sich auch kein Bein aus.«
»Und was macht Martha Hildebrandt? Misstraut sie immer noch allen und jedem?«
»Selbstredend, anstatt zur Ruhe zu kommen, jetzt wo der Unhold überführt ist ... Ihr Misstrauen gegenüber Ruth gibt sie trotzdem nicht auf. Nur, dass Jan Franke auch zu den Opfern gehörte, schlägt noch immer Wellen. Alle scheinen seine ekelhaften Sprüche vergessen zu haben. Wenn sich schon einer selber als Todeskuss bezeichnet … Trotzdem, so ein Ende hat er sicher nicht verdient.«
»Wer hat das schon …? Im Moment sind wir gerade an einem Fall dran … Das darf ich dir eigentlich nicht sagen …«
»Komm, jetzt hast du schon angefangen. Ich werde es bestimmt nicht in die Zeitung setzen.«
»Dann müsste ich dir auch deinen süßen Hintern versohlen. Also schön, es geht um eine junge Frau, die man in einem Park erdrosselt aufgefunden hat. Ich hoffe, du gehst nicht auch nachts in grünen Anlagen spazieren …«
»Mit Vorliebe. Ich wollte schon immer mal wissen, wie es ist, von einem Mann verfolgt und lustgekillt zu werden.«
»Das finde ich gar nicht komisch. Du siehst doch …«
Anna verschloss ihm mit einem Kuss den Mund. »Blödmann, meinst du, ich weiß nicht, wie gefährlich das ist? Und, habt ihr schon eine Spur?«
Lars schüttelte verneinend den Kopf. »Der Mann der besten Freundin des Opfers hätte gut ins Bild gepasst. Er war wohl scharf auf sie. Doch an seiner Kleidung hat es kein Genmaterial von ihr gegeben. Nicht mal etwas Erde aus dem Park haben wir an seinen Schuhen gefunden. Seiner Sekretärin hätte ich zugetraut, ihm ein falsches Alibi gegeben zu haben, doch sie schwört Stein und Bein … Müssen wir eben weitersuchen.«
»Wie sah die denn aus, seine Sekretärin? War sie hübsch?«
»Atemberaubend, einen Busen und eine Figur, sag ich dir, nicht so eine graue Maus wie eine Pflegeschwester, namens Anna.«
Anna hämmerte mit den Fäusten auf ihn ein. »Du Schuft, nimm das sofort zurück.«
»Gnade«, wimmerte Lars. Wer fragt eigentlich mich, wie es mir gefällt, dass du beinahe täglich mit diesem Volker zusammenkommst? Der sieht doch blendend aus. Ich könnte mir vorstellen, dass die Weiber nach dem verrückt sind.«
»Ich sage doch, er ist eine taube Nuss. Stinkend faul und eingebildet. Da nützt sein Aussehen auch nichts. Mit einem gewissen Kommissar kann er es jedenfalls nicht aufnehmen.«
»Da bin ich aber beruhigt. Sag mal, was riecht denn hier so seltsam?«
»Um Gottes willen, mein Braten …« Anna rannte in die Küche, um anschließend ein Wutgeheul auszustoßen. »Entweder wir essen Kartoffeln mit Gemüse oder ich brate schnell noch Fischstäbchen«, sagte sie, als sie sich etwas beruhigt hatte.
»Ist denn da gar nichts mehr zu machen?«, fragte Lars. »Ich mag es etwas schärfer angebraten …«
»Ich auch, aber das ist nur noch Presskohle.«
Als Lars am nächsten Tag ins Präsidium kam, war nur Marlies Schmidt anwesend, die fleißige Kriminalassistentin mit den krausen Naturlocken, die alle Aufgaben einer Sekretärin bestens verrichtete und von Hinnerk Lieschen genannt wurde, was nicht abwertend gemeint war. Valerie nannte sie liebevoll Schmidtchen. Aber alle waren sich einig, dass sie die gute Seele der Abteilung war.
»Wo ist denn unser Traumpaar?«, fragte Lars.
»Unterwegs, es gibt einen neuen Mordfall, wieder eine junge Frau.«
»Na bravo, und mir sagt wieder keiner was.«
»Sei nicht albern, ihr könnt unmöglich zu dritt am Tatort auftauchen. Außerdem hast du doch einen Fall. Lös erst mal den.«
»Sehr witzig. Du weißt doch, wie das hier läuft. Ich darf die Kleinarbeit machen, und die beiden kassieren die Lorbeeren.«
»Ooch, willst du auf den Arm? Oder soll ich dir einen 1A Kaffee servieren, falls du die Kaffeemaschine nicht selbst bedienen willst.«
»Sag bloß, die zweite Leiche liegt auch in einem Park?«
»Nicht ganz. Es wäre wohl vermessen, den Grunewald als einen solchen zu bezeichnen. Die Frau soll auf die gleiche Art stranguliert worden sein wie Daniela Wilke.«
»Dann haben wir es also mit einem Serientäter zu tun? Na bravo!«
»Du wiederholst dich …«
Der kleine Parkplatz im Grunewald war vollständig abgesperrt. Sehr zum Verdruss von einigen Autofahrern, die von dort aus einen Spaziergang machen wollten. Rechtsmediziner Knud Habich war schon voll in seinem Element, als Valerie und Hinnerk eintrafen.
»Grüß dich, wo ist Tina? Nicht dass du mir nicht reichst … Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen«, sagte Valerie, und Hinnerk grinste.
»Sie meint, ich schaffe das ganz gut alleine.«
»Davon bin ich überzeugt. Was gibt es zu berichten?«
»Es handelt sich um die dreißigjährige Janine Siebert. Der Aufmachung nach eine Prostituierte. Tod durch Strangulation mit einem herkömmlichen Kabelbinder. Todeszeitpunkt in den frühen Morgenstunden zwischen ein und zwei Uhr.«
»Also ganz ähnlich wie bei unserem anderen aktuellen Fall. Wer hat sie gefunden?«, fragte Hinnerk.
»Eine Familie, die einen Waldspaziergang machen wollte. Der Kleine wollte vorher noch mal Pipi machen, und da lag sie im Gebüsch, wie weggeworfene Lumpen.«
»Sehr treffend formuliert, denselben Eindruck hatten wir bei der anderen Leiche auch.«
»Hallo, guten Morgen, so schnell sieht man sich wieder«, sagte Manfred Hoger von der Spurensicherung.
»Morgen, wie sich die Bilder gleichen, kann ich nur sagen«, antwortete Valerie. »Doch diesmal hat es nachts nicht geregnet. Demnach müsste es mehr verwertbare Spuren geben.«
»Ich will dich ja nicht enttäuschen, aber es sieht kaum so aus. Außer ein paar abgebrochener Äste und zwei Zigarettenkippen, haben wir noch nichts Brauchbares entdeckt.«
»Ich gehe dann mal die Augenzeugen befragen«, sagte Hinnerk, »bis gleich.«
»Dem Ausweis nach handelt es sich um eine gewisse Janine Siebert, wohnhaft in der Kurfürstenstraße, Nummer … Doch das wisst ihr sicher schon.«
»Dann hatte sie es ja nicht weit zur „Arbeit“. Ein Wunder, dass sie den Freier nicht mit hoch genommen hat«, bemerkte Valerie.
»Für mich deutet das darauf hin, dass sie den Mann woanders aufgelesen hat, oder umgekehrt.«
»Wie kommst du darauf?«
»Wenn sie in einem Bordell gearbeitet hätte, wäre sie nicht mit ihm hier raus gefahren. Und die wenigsten Huren nehmen ihre Freier mit in die eigene Wohnung. Dafür gibt’s schließlich die Stundenhotels.«
»Guter Hinweis. Dann ist sie wahrscheinlich auf den Strich gegangen. Nur eben nicht in der Kurfürstenstraße, sondern eher in der Oranienburger Straße oder am 17. Juni.«
»Genau.«
»Hat sie außer dem Ausweis noch etwas anderes dabei gehabt?«
»Ein Bündel Geldscheine, etwas billigen Schmuck und ihr Handy, bitte schön!« Hoger überreichte Valerie mehrere Klarsichttüten.
»Also kein Raubmord. Warum wundert mich das nicht? Wahrscheinlich weil dem anderen Opfer auch nichts gestohlen worden ist. Gut, mal sehen, ob eine der Kippen von Janine Siebert stammt. Mit etwas Glück ist die andere vom Täter. Dann macht mal schön weiter. Vielleicht findet ihr noch mehr.«
»Ja, und ihr sucht mal schön den Täter, bevor noch mehr dran glauben müssen.«
»Worauf du einen lassen kannst.«
Valerie ging zurück zum Wagen, wo Hinnerk schon auf sie wartete. »Na, hat die Befragung etwas Brauchbares ergeben?«, wollte sie wissen.
»Nicht wirklich. Mutter und Kind waren sichtlich verstört. Der Vater hat’s etwas gelassener genommen. Aber der Spaziergang hat sich für heute erledigt.«
»Das glaube ich gerne. Auch wenn er dir etwas kaltschnäuzig vorkam, ist wohl kaum anzunehmen, dass er etwas damit zu tun hat. Sonst hätte er nicht seine Familie hierher geführt.«
»Ja, denke ich auch. Wahrscheinlich gehört er nur zu den abgebrühten Tatort-Sehern. Die Folgen werden ja in einer Tour wiederholt.« Hinnerk öffnete galant Valerie die Beifahrertür und setzte sich dann hinters Steuer. »Hm, bilde ich mir das ein, oder riecht es hier drinnen immer noch nach Blut?«
»Das fällt dir jetzt, nach so langer Zeit ein?«
»Ja, vielleicht liegt es daran, dass mir die Waldluft wesentlich besser gefallen hat.«
Hinnerk spielte auf die Tatsache an, dass sich ein flüchtiger Täter seinerzeit in einem Wäldchen in ihrem Dienstwagen mit Hinnerks Waffe erschossen hatte. Als sie den Wagen wiederbekommen hatten, war er zwar gründlich gereinigt worden, doch allein das Wissen über den Vorfall verursachte Hinnerk noch immer Magendrücken.
»Ich besorge dir ein oder zwei Duftbäume«, sagte Valerie. »Möchtest du Vanille, Zimt, Lavendel oder doch Rosen?«
»Egal, Hauptsache kein Tannenduft.«
Zurück im Präsidium, verglich man die beiden Fälle, die eindeutig dieselbe Handschrift des Täters trugen.
»Vom Typ her scheint er nicht festgelegt zu sein«, meinte Hinnerk, »die Frauen haben so gut wie nichts gemeinsam, einzig das Alter stimmt überein. Wir müssen unbedingt herausfinden, wo der gemeinsame Nenner bei den beiden liegt.«
»Vielleicht reicht es schon, dass beide Frauen sind«, bemerkte Lars trocken.
»Du meinst, allgemeiner Hass auf Frauen? Das ist mir zu simpel«, sagte Valerie. »Es ist doch durchaus möglich, dass die beiden sich kannten, oder zumindest den Täter. Für Janine kommt ein Stammkunde infrage, und Daniela könnte eine verflossene Geliebte sein. Was hat diese Birgit noch mal gesagt? Daniela habe sich immer im Guten getrennt? Vielleicht denkt sie das nur. Welche männlichen Kontakte hat Daniela auf ihrem Handy gespeichert?«
»Ja, ich bin ja schon dran. Wisst ihr, was es bedeutet, die Kerle alle ausfindig zu machen?«
»Vorhin hast du dich noch beklagt, dass du nicht mit in den Grunewald durftest«, rutschte Marlies raus.
»Olle Petze. Du kannst wohl auch nichts für dich behalten?«
»Hallo, hallo, nichts gegen unser Schmidtchen«, begehrte Valerie auf. »Wir müssen unbedingt in die Wohnung von Daniela Wilke. Mit etwas Glück finden wir aufschlussreiche Korrespondenz. Das Gleiche gilt für die Wohnung von Janine Siebert. Und für euch beide habe ich eine Sonderaufgabe: Ihr dürft heute Abend den Straßenstrich abklappern. Manfred hat da einen interessanten Hinweis gegeben. Ich schlage vor, ihr teilt euch auf. Einer macht den 17. Juni, der andere die Oranienburger.«
»Alles klar, Chefin«, sagte Lars. »Und was machst du?«
»Ich werde mich um die Huren auf der Kurfürstenstraße kümmern, nachdem ich die Wohnung inspiziert habe. Vielleicht hat eine Kollegin etwas beobachtet.«
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist, alleine loszugehen«, meinte Lars, »Huren können mitunter sehr unangenehm werden, ganz zu schweigen von ihren Zuhältern.«
»Wenn du dich fürchtest, könnt ihr ja gemeinsam gehen.«
»Ich meinte das mehr in Bezug auf dich …«, maulte Lars.
»Schon klar, aber vielleicht ist es wirklich besser, ihr geht gemeinsam. Ich werde mit denen schon fertig. Falls nicht, komme ich in Begleitung wieder.«
»Ich mache dir einen anderen Vorschlag«, sagte Hinnerk zu Valerie. »Wir beide machen jetzt die Wohnung von dieser Siebert und anschließend die Kurfürstenstraße. Da ist auch schon am Tage was los. In der Zwischenzeit kümmert sich Lars um die Wohnung von Daniela Wilke. Und heute Abend besuche ich mit ihm die beiden anderen Straßen.«
»Damit kann ich leben«, sagte Lars.
»Ich auch«, stimmte Valerie zu, »dann nichts wie los!«
In der Kurfürstenstraße standen Valerie und Hinnerk vor dem Haus, in dem Janine Siebert gewohnt hatte. Ein reines Appartementhaus, wie man auf den ersten Blick sah.
»Hast du den Schlüssel?«, fragte Valerie
»Nein, ich denke, du …«
»Mist, ich erinnere mich, sie hatte zwar den Ausweis und das Geld dabei, doch keine Schlüssel. Entweder sie hat ihn woanders deponiert, oder der Täter hat ihn mitgenommen.«
»Siehst du, wie gut, dass du nicht alleine hier bist. Womöglich werden wir oben schon erwartet.«
»Wir hätten gerne Zutritt zum Appartement von Frau Siebert«, sagte Valerie kurz darauf zu dem Mann am Empfang.
»Da kann ja jeder kommen …«
»Wir sind aber nicht jeder. Hauptkommissarin Voss, und das ist meine Kollege Hauptkommissar Lange.« Valerie zückte ihren Dienstausweis.
»Ach so, warum sagen Sie das nicht gleich? Ist etwas mit Frau Siebert?«
»Das kann man wohl sagen. Sie liegt mausetot in unserer Leichenhalle.«
»Wie unangenehm.« Der Mann nahm den Schlüssel von einem etwas versteckt angebrachten Bord und reichte ihn weiter.
»Ist dieser Platz zu jeder Zeit besetzt?«, wollte Hinnerk wissen.
»Ja, das gehört zu unserem Service.«
»Dann brauchen die Mieter also ihre Schlüssel nicht mitzunehmen? Wie in einem Hotel?«
»Ganz richtig, sie können, brauchen aber nicht.«
»Und Frau Siebert hat ihren hier gelassen?«
»Ja, sie wollte ihn wohl nicht mit zur Arbeit nehmen.«
»Verstehe, hat heute schon mal jemand danach gefragt?«
»Nein, nicht dass ich wüsste. Wir hätten ihn ohnehin nicht herausgegeben. Es sei denn, er hätte sich als Kripobeamter ausgewiesen. Doch das war bis zu diesem Moment noch nicht der Fall.«
»Danke, das dürfte auch besser so sein.«
Das Appartement machte einen nüchternen, fast kalten Eindruck. Außer reichlich Garderobe, Dessous, jeder Menge Schuhe und Perücken, gab es kaum persönliche Dinge. Janine schien sich nicht oft darin aufgehalten zu haben. Vielleicht hatte sie es sogar nur zum Schlafen benutzt. Dementsprechend mager war die Ausbeute. Es gab keinen Desktop-PC und keine Korrespondenz. Die einzigen Briefe, die ordentlich in einer Schachtel lagerten, waren von Frau Sieberts Sohn. Das Datum ließ erkennen, dass der letzte Brief schon sehr lange her war.
»Was für ein trauriges Leben«, sagte Hinnerk, »sie muss emotional regelrecht verkümmert gewesen sein. Keine Familienfotos, keine Lieblingsbücher, kaum CDs und DVD, nichts.«
»Wie heißt es so schön? Jeder ist seines Glückes Schmied«, meinte Valerie, »mit der Kohle, die sie verdient hat, hätte sie weiß Gott mehr anfangen können. Doch vielleicht hat sie noch irgendwo einen Rückzugsort, und wenn es nur eine bessere Laube ist.«
»Das bringt wohl nichts hier. Die Kollegen von der KTU können zwar mal durchgehen, doch es sieht nicht so aus, als wären hier Männer ein und ausgegangen. Ich sag mal gleich Lieschen Bescheid«, meinte Hinnerk und zückte sein Handy. »Hallo Lockenköpfchen, wir sind jetzt in der Siebertwohnung, veranlasse bitte, dass die KTU hier mal nach dem Rechten sieht. Vielleicht finden sie Spuren von alten Bekannten von uns.«
»Mach ich. Und, habt ihr die Mädels schon aufgemischt?«
»Nein, das kommt als Nächstes dran. Bye, bis später.«
Hinnerk versiegelte vorsichtshalber das Appartement und sagte unten Bescheid, dass man den Schlüssel der KTU aushändigen sollte. Dann stiegen sie in den Wagen und fuhren ein Stück die Kurfürstenstraße hinauf, denn das Appartementhaus lag mehr zum Zoo hin, und der Straßenstrich spielte sich weiter unten zwischen der Potsdamer Straße und der Genthiner Straße ab.
Als Hinnerk einen Parkplatz gefunden hatte, steuerte Valerie ohne Umschweife auf eine Blondine zu, die nur einen dünnen Mantel mit Leopardendruck trug.
»Hallo, Schwester, willst du mir etwa Konkurrenz machen?«, fragte sie unverblümt, »dann solltest du erst einmal deinen Gouvernantenknoten lösen und deine weißblonde Mähne aufschütteln. Und deine Klamotten … Jeans, Lederjacke und T-Shirt sind so sehr Neunziger, dass es einen jammert.« Sie öffnete ihren Mantel und zeigte ihr knappes Bustier, ihren Stringtanga und den schmalen Hüftgürtel mit Strapsen. »So etwas kommt hier besser an.«
»Danke für den Tipp, doch ich bin aus einem anderen Grund hier.« Valerie zog das Foto von Janine Siebert aus der Tasche und hielt es der Hure vor die Nase. »Kennst du die? Läuft die hier auch?«
»Ach, von der Kripo, ja? Kam mir gleich so komisch vor, was eine wie du hier macht. Nein, die habe ich noch nie gesehen, aber vielleicht solltest du mal die Csardasfürstinnen da drüben fragen. Vielleicht ist das eine von denen. Nur ob die dich verstehen werden …?«
»Nein, diese Frau war keine Ungarin, sondern eine Deutsche.«
»Tja, dann hast du Pech. Über siebzig Prozent der Mädels hier kommen inzwischen aus Osteuropa. Die meisten sind derzeit Ungarinnen. In der Lützowstraße, der Bülowstraße und der Potsdamer Straße stehen noch Rumäninnen und Bulgarinnen. Außerdem gibt es hier noch Slowakinnen, Tschechinnen und einige Polinnen. Deutsche wie ich sind derzeit in der Minderzahl. Du sagst war? Warum? Ist sie etwa tot?«
»Ja, man hat sie stranguliert.«
»Ekelhaft, aber mit uns kann man es ja machen …«
»Warum gibt sich eine so hübsche Frau wie du zu so etwas her?«
»Wenn du mir irgendeine Chance auf etwas anderes bieten kannst, womit ich Geld verdiene, bitte, dann bin ich gleich weg von der Straße ...«
»Geld ist doch nicht alles im Leben ...«
»Wenn man genug davon hat, nicht. So, du findest mich also hübsch? Täusche ich mich, oder weißt du die Reize einer Frau zu schätzen?«
»Das stelle ich nicht in Abrede.«
Die Hure grinste wissend.
Plötzlich gab es Unruhe auf der Straße. Hinnerk befragte gerade ein paar Frauen mit osteuropäischem Aussehen, die kein Wort verstanden, weil sie weder Deutsch noch Englisch sprachen, als ein Zuhälter aus einer Art Trinkhalle kam und mit einer Trillerpfeife pfiff, woraufhin mehrere Frauen auf ihn zu rannten.
»Ich denke, das können wir knicken«, sagte Hinnerk, als er zu Valerie kam, »oder hattest du mehr Glück?«
»Nein, die heiße Blondine meinte, Janine noch nie hier gesehen zu haben. Und mein Gefühl sagt mir, dass sie mich nicht angelogen hat.«
»Dann haben wir vielleicht auf der Oranienburger oder dem 17. Juni mehr Glück.«
»Das wäre zu wünschen.«
Lars hatte sich derweil Zutritt zu Daniela Wilkes Wohnung verschafft. Sie war sehr gemütlich eingerichtet, andere hätten den romantischen Stil womöglich für etwas zu verspielt angesehen, denn überall standen jede Menge Staubfänger herum, aber Lars gefiel es. Die junge Frau hatte es sich ganz nach ihrem Geschmack anheimelnd gemacht, nur vielleicht ein klein wenig übertrieben. In der Küche stand noch etwas Geschirr in der Spüle und der Kühlschrank bot allerlei Köstlichkeiten, die nun leider verderben würden. Im Schlafzimmer lagen getragene Sachen über einem Stuhl. Sogar der Wäscheständer war noch nicht abgeräumt. Man hatte das Gefühl, Daniela Wilke müsste jeden Moment nach Hause kommen. Lars wusste es besser, und ihn beschlich ein beklemmendes Gefühl. Doch er versuchte, es abzuschütteln, zog sich Einmalhandschuhe an und begann, Danielas persönliche Dinge zu durchsuchen. Darunter fanden sich Briefe eines gewissen Timo, die sich gar nicht so einverstanden mit der Trennung anhörten. Lars tütete alles ein und bemerkte, dass ihm so langsam die Zeit davonlief. Deshalb nahm er noch Danielas Laptop an sich und verließ bald darauf die Wohnung.
Ben war etwas früher von der Ganztagsschule weggegangen, weil er seiner Großmutter einen Besuch abstatten wollte. Karen stand lächelnd in der Tür, als er ankam.
»Na, du hast wohl etwas geahnt?«, sagte sie.
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Dann geh mal in den Garten und sieh nach, womit sich Herbert beschäftigt.«
Jetzt vernahm er ein immer deutlicher werdendes Bellen und aufgeregte Quietschgeräusche, die er bei seiner Ankunft den Nachbarn zugeordnet hatte. Herbert Schindler tobte ausgelassen mit einem kleinen Hund herum, der durch sein wuscheliges Fell Ähnlichkeit mit einem überdimensionalen Wollknäuel hatte.
»Ist der goldig«, sagte Ben, »um welche Rasse handelt es sich?«
»Um keine bestimmte. Da mischen sich einige, doch das sind oft die robustesten Hunde, weil sie nicht so überzüchtet sind. Tach, erst mal, mein Lieber, schön, dass du uns besuchen kommst.«
Ben gab Herbert die Hand und bückte sich dann gleich, um den kleinen Kerl zu begrüßen. »Wie heißt er? Habt ihr ihn aus dem Tierheim?«
»Nein, ein befreundetes Ehepaar hat ungewollt „Nachwuchs“ bekommen. Auf einen Namen haben wir uns noch nicht festgelegt. Fällt dir spontan einer ein?«
»Ist es ein Rüde oder eine Hündin?«
»Letzteres.«
»Dann nennt sie doch Cleo beziehungsweise Cleopatra. Das passt zu Cäsar.«
»Ja, das gefällt mir. Was sagst du Karen?«
Bens Großmutter stand in der offenen Terrassentür und verzog das Gesicht. »Wenn du uns endgültig lächerlich machen willst … Die Nachbarn werden denken, jetzt sind wir völlig übergeschnappt. Herbert kann nämlich ohne Vierbeiner nicht mehr leben. Nicht dass ich Cäsar nicht auch vermisse, doch ich hoffte, er würde sich jetzt etwas mehr um mich kümmern.«
»Das eine schließt das andere doch nicht aus, Liebste …«
»Und wenn wir mal verreisen wollen? Du stürzt dich von einer Abhängigkeit in die Nächste. Und dann auch noch so ein junges Tier … In unserem Alter sollte man sich einen alten Hund nehmen, wenn überhaupt, der ebenso wie wir seine Ruhe haben will.«
»Wenn ihr verreist, kann ich mich um ihn kümmern«, sagte Ben spontan. »Ich wollte sowieso fragen, ob ich nicht lieber bei euch wohnen kann …«
Für einen Moment war es muckmäuschenstill, sogar der Hund verstummte.
»Koch uns doch mal einen schönen Kaffee«, sagte Herbert zu Karen, »und bring deinen selbstgebackenen Kuchen mit, der wird Ben genauso schmecken wie mir.«
»Verstehe, das soll wohl ein Gespräch unter Männern werden«, meinte Karen, »sagt Bescheid, wenn ich dazustoßen darf …«
»Jederzeit, Liebste, wir schätzen doch deinen Rat …«
Karen lachte und ging zurück in die Küche.
»Also, was ist los?«, fragte Herbert Ben, »hat es zu Hause Ärger gegeben?«
Ben druckste herum. »Nicht direkt, aber ich wäre wirklich lieber hier. Mama und Papa sind doch eh kaum zu Hause. Vor lauter Arbeit kennen die fast nichts.«
»Ich glaube, jetzt bist du etwas ungerecht. Ich erinnere mich an die Zeit, als dein Vater seine Überstunden abbummelte, da hat er einiges mit dir unternommen.«
»Das ist drei Jahre her … Sie müssen auch nicht dauernd etwas mit mir machen. Die Ausflüge an den Wochenenden finde ich meistens ziemlich öde. Ich wäre lieber mit meinen Kumpels zusammen.«
»Das ist in deinem Alter ganz normal. Also, was ist es dann?«
»Mama und ich verstehen uns nicht mehr. Sie wirft mir ungeheure Dinge vor, und ich vergreife mich dann im Ton, wie sie es ausdrückt.«
»Du, auch das ist normal. Teenager denken, ihre Eltern ticken nicht richtig, und umgekehrt. Das war schon immer so. Was genau wirft sie dir denn vor?«
»Sie meint, ich sei emotional verkümmert, weil ich angeblich weder um meinen Großvater noch um Papas Freundin getrauert habe. Auch Minkas und Cäsars Tod habe mich nicht berührt. Das ist so eine Gemeinheit. Um beide Tiere habe ich nächtelang geweint. Sie hat es nur nicht mitgekriegt. Auch behauptet sie, ich ginge nie auf den Friedhof. Das ist eine glatte Unterstellung. Ich besuche öfter Marions Grab, weil ich sie wirklich gern hatte. Na schön, Opa habe ich nur zweimal besucht. Für mich war er ein fremder Mann. Außerdem hat er sowieso nichts mehr davon, egal, ob ich hingehe oder nicht.«
»Das stimmt. Man kann auch an jemanden denken, ohne an seinem Grab zu stehen. Jungen in deinem Alter sind oft etwas überfordert mit diesen Orten. Ich weiß, dass Christoph dich oft vor den Kopf gestoßen hat. Das hat er nicht mit Absicht getan, es war seine Krankheit. Meine Frau hat sich damals auch sehr verändert, weißt du. Das war nicht immer leicht für mich. Genauso ging es deiner Oma. Sie hat viel durchgemacht. Trotzdem war dein Großvater ein lieber Mensch, davon bin ich überzeugt, sonst wäre Karen nicht so lange mit ihm verheiratet gewesen. Versuch, ihm zu verzeihen. Unter anderen Umständen hätte er bestimmt alles für dich getan und wäre sehr stolz auf dich gewesen.«
»Für hätte und wäre kann ich mir auch nichts kaufen …«
Herbert gab Ben ein Zeichen, als Karen mit einem vollen Tablett im Garten auftauchte.
»Habe ich etwas verpasst?«, fragte sie möglichst unbefangen.
»Dein Enkel würde gerne zu uns ziehen.«
»Aber das kommt doch überhaupt nicht infrage. Deine Mutter würde mir das nie verzeihen. Sie würde denken, ich hätte dich dazu überredet. Versteh mich nicht falsch Ben, du bist immer herzlich willkommen, aber hier wohnen ist etwas anderes.«
»Ich habe mir schon gedacht, dass ihr nicht mitspielt«, sagte Ben bekümmert.
»Die Gründe habe ich dir eben genannt. Wenn du Sorgen hast, kannst du damit immer zu uns kommen.«
»Ben fühlt sich von seiner Mutter missverstanden …«
»Glaubst du, uns ist es in deinem Alter anders gegangen? Das ist ein Generationsproblem, das sich unaufhörlich wiederholt. Das ist so alt wie die Welt. Deine Mutter liebt dich von ganzem Herzen. Und dein Vater ist damals deinetwegen zu euch zurückgekehrt, vergiss das nicht. Warte noch vier, fünf Jahre, dann kannst du dir eine eigene Wohnung nehmen. Dann wird sich euer Verhältnis wieder bessern.«
»Red doch noch mal mit deiner Mutter, so wie du es eben mit mir gemacht hast«, sagte Herbert. »Viele Missverständnisse entstehen, weil die Menschen nicht miteinander reden.«
Ben nickte. Im Grunde genommen hatte er nichts anderes erwartet. Doch einen Versuch war es wert gewesen. Und vielleicht hatte Herbert sogar Recht. Wenn Valerie nicht richtig zuhörte oder auf ihrer Meinung beharrte, musste man sie eben vom Gegenteil überzeugen.