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Kapitel 1

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»Wenn du jetzt nicht aufstehst, wirst du unweigerlich zu spät zur Schule kommen, Ben.«

»Na und? Ist doch eh immer derselbe Kram, den niemand später braucht«, die Stimme des Teenagers war gelangweilt und überzeugt zugleich.

»Du hast zwei Möglichkeiten: Entweder du verzichtest heute darauf, Stunden im Bad zu verbringen, und riechst im Laufe des Tages etwas streng, oder du lässt dein Fahrrad stehen und Papa oder ich fahren dich zur Schule. Wie du dann allerdings zurückkommst, ist deine Sache.«

»Mama, du nervst. Ja, ich dusche etwas schneller und fahre dann mit euch.«

»Eins zu null für dich«, sagte Hinnerk, »waren wir in der Pubertät auch so anstrengend?«

»Wenn es nach meiner Mutter geht, ich schon. Du warst hingegen bestimmt ein Musterknabe«, antwortete Valerie.

»Denkste, meine Eltern hatten es auch nicht leicht mit mir.«

»Dachte ich mir’s doch.«

Das Paar neckte sich wie in alten Zeiten. Dabei waren sie seit vier Jahren geschieden, lebten aber seit etwa drei Jahren wieder zusammen im gemeinsamen Haus. Der gemeinsame Sohn Ben war damals überglücklich gewesen, als sein Vater zurückgekehrt war. Die Zeit dazwischen hatte Hinnerk Lange bei seiner Freundin Marion Haberland gelebt, die er durch einen Mordfall kennen und lieben gelernt hatte. Hinnerk war nämlich ebenso wie seine Frau Valerie Voss Hauptkommissar beim LKA Berlin. Schon bald nach der Trennung hatten beide gemerkt, dass die Scheidung ein Fehler gewesen war. Leider hatte ihre erneute Annäherung und die Tatsache, dass sie wieder miteinander schliefen, dazu geführt, dass Marion nach einem heftigen Streit aus dem Haus gelaufen und durch einen mit überhöhter Geschwindigkeit fahrenden Lkw ums Leben gekommen war.

Die Zeit danach war eine harte Prüfung für beide gewesen, denn Hinnerk hatte sich an Marions Tod die Schuld gegeben und war depressiv geworden. In der Wohnung seiner Freundin oder einem Hotel hatte er nicht bleiben wollen und war zu Frau und Kind zurückgekehrt. Mit viel Geduld und Spucke, wie man in Berlin sagte, war es Valerie schließlich gelungen, Hinnerks Lebensgeister wieder zu wecken. Seitdem waren sie glücklich miteinander, auch ohne Trauschein.

Nur der dreizehnjährige Ben hatte sich von einem bezaubernden Kleinkind zu einem nörgelnden, schlecht gelaunten Teenager entwickelt. Valerie und Hinnerk hofften jedoch, dass die Phase nicht allzu lange anhalten würde.

Auf halbem Weg zu Bens Schule meldete sich Valeries Handy. »Voss, was gibt’s?«, meldete sie sich wie üblich. »…Wo ist das…? Verstehe, wir sind gleich da. Wir haben einen neuen Fall«, wandte sie sich an Hinnerk. »Ben, wir müssen dich leider hier rauslassen. Doch du kannst dir ausnahmsweise ein Taxi nehmen. Nur heute, damit das klar ist. Das nächste Mal kommst du eben zu spät zur Schule, wenn du wieder bummelst.«

»Den kleinen Schlenker könntet ihr ruhig noch machen«, maulte Ben.

»Nein, wir müssen gleich weiter. Also, Taxi oder zu Fuß?«

»Taxi natürlich, ich kann schließlich nichts dafür, dass eure Arbeit schon wieder ruft …«

»Wo müssen wir hin? Erzähl schon«, sagte Hinnerk, als Ben ausgestiegen war.

»Nach Pankow in den Bürgerpark. Weibliche Leiche, die Kollegen sind schon vor Ort. Der Haupteingang ist in der Wilhelm-Kuhr-Straße. Am besten du fährst über Wollankstraße …«

»Danke, Schatz, das Navi wird uns ohne Probleme hinbringen.«

Als sie kurz darauf im Park ankamen, hatte die Spurensicherung schon das Gelände weitläufig abgesperrt. An einem dichten Gebüsch machte sich bereits Rechtsmedizinerin Tina Ruhland an der Frauenleiche zu schaffen.

»Ach, sieh an, unsere Hauptkommissare Hanni und Nanni. Euch kriegt man wohl seit eurer Versöhnung wiederum nur im Doppelpack …«

»Das liegt in der Natur der Sache, wenn man in einem gemeinsamen Haushalt lebt. Dir auch einen schönen guten Morgen«, sagte Valerie.

Tina und Valerie hatten vor vielen Jahren ein Verhältnis gehabt, das Valerie nach der Heirat mit Hinnerk abrupt beendet hatte. Ein Stachel, der bei Tina tief saß, obwohl sie sich inzwischen mit Staatsanwältin Ingrid Lindblom tröstete, was mittlerweile ein offenes Geheimnis war. Trotzdem warf sie immer noch gelegentlich Spitzen, was Valerie gehörig nervte.

»Wer ist die Tote und welche Todesursache liegt vor?«, fragte Hinnerk, um die beiden Frauen nicht noch zu mehr spitzen Reden zu ermuntern.

»Daniela Wilke, 30, wohnhaft in der Wollankstraße, Nummer … Todesursache: Ersticken durch Strangulation, wie der Kabelbinder um ihren Hals beweist. Todeszeitpunkt: etwa zwanzig Uhr. Da will ich mich aber aus bekannten Gründen nicht festlegen.«

»Schon klar, warum hat es so lange gedauert, bis man sie gefunden hat?«

»Das müsst ihr die Kollegen von der Spusi fragen. Ich vermute aber, dass es zwei Gründe gibt. Einmal das regnerische Wetter, da kommen kaum Spaziergänger vorbei, und die etwas versteckte Lage. Für Jogger war die Leiche vom Weg aus kaum zu erkennen.«

»Dieser Meinung kann ich mich nur anschließen«, sagte Manfred Hoger von der Spurensicherung.

»Hallo, guten Morgen, also hat sie kein Jogger gefunden?«

»Morgen, doch, reiner Zufall, weil ihn ein dringendes Bedürfnis geplagt hat.«

»Hat die Leiche genau so dagelegen oder hast du sie bewegt?«, wollte Valerie von Tina wissen.

»Nein, ich bin ja nicht von gestern«, antwortete Tina. »Bevor keine Fotos gemacht worden sind …«

»Dann ist sie nicht extra drapiert worden, wie es öfter vorkommt. Womöglich noch mit gefalteten Händen oder Blumen darin«, überlegte Valerie laut. »Sieht eher so aus, als habe der Täter sie wie Lumpen oder Müll entsorgt. Wahrscheinlich ein Zeichen seiner Verachtung. Glaubt ihr, Fundort ist gleich Tatort?«

»Mit großer Wahrscheinlichkeit. Jedenfalls gibt es keine erkennbaren Schleifspuren«, meinte Manfred. »Der nächtliche Regen hat allerdings die meisten Spuren beseitigt. Doch, wenn ihr mich fragt, ist es nahezu unmöglich, die Leiche unbemerkt von der Straße aus bis hierhin zu schaffen. Es ist eher davon auszugehen, dass der Täter der Frau hier aufgelauert hat.«

»Und augenscheinlich hat sie sich nicht gewehrt«, sagte Tina. »Es gibt keine Kampfspuren und auf den ersten Blick kein fremdes Gewebe unter ihren Fingernägeln.«

»Demnach könnte sie den Täter gekannt haben«, überlegte Valerie laut, »vielleicht haben sie sogar gemeinsam den Park aufgesucht, und es hat unterwegs Streit gegeben … Ich frage mich andernfalls, was eine Frau veranlassen könnte, am Abend allein durch den dunklen Park zu gehen …«

»Sehnsucht nach Abgeschiedenheit, Depressionen …« Hinnerks Stimme klang völlig emotionslos. »Hatte sie ein Handy dabei?«

»Jep, bitte schön!«, Manfred überreichte Hinnerk eine Plastiktüte mit einem einfachen Handy darin.

»Dann wollen wir doch mal sehen, ob sie irgendwelche Nachrichten erhalten hat …« Hinnerk rief die Mailbox auf, woraufhin eine weibliche Stimme mitteilte, dass Daniela vier neue Nachrichten hatte.

»Ich bin’s, Birgit. Warum hast du dein Handy nicht eingeschaltet? Eigentlich müsstest du doch schon längst zu Hause sein. Doch über Festnetz erreiche ich dich nicht. Bist du etwa doch durch den Park gegangen und dem Traumprinzen begegnet? Melde dich, mache mir langsam Sorgen«, lautete die erste Nachricht. Die weiteren drei waren allesamt von derselben Person und klangen zunehmend panisch.

Hinnerk durchsuchte das Telefonregister und fand auf Anhieb eine Birgit darunter. Sogleich stellte er die Verbindung her.

»Na endlich, wo steckst du denn? Habe bis in die frühen Morgenstunden versucht, dich zu erreichen. Hallo …? Daniela …?«, erklang eine sympathische Stimme am anderen Ende der Verbindung.

»Hier spricht Kommissar Lange vom LKA. Nennen Sie mir bitte Ihre vollständige Adresse und Ihren Namen …«

»LKA? Ich verstehe nicht. Ist Daniela etwas passiert?«

»Würden Sie bitte meine Frage beantworten? Wir sind dann gleich bei Ihnen.«

»Ja, ich heiße Birgit Schubert und wohne in der Heinrich-Mann-Straße, Nummer … Das ist gleich hinter dem Bürgerpark.«

»Gut, warten Sie bitte auf uns!«

Nachdem Valerie und Hinnerk sich noch einmal mit der Rechtsmedizinerin und den Kollegen von der Spurensicherung unterhalten hatten, um die neuesten Erkenntnisse zu erhalten, machten sie sich auf den Weg zu Birgit Schubert. Sie wurden bereits von einer hübschen, jungen Frau ungeduldig erwartet, die vom Weinen gerötete Augen hatte. Schon im Flur des gemütlichen Eigenheims wollte Birgit wissen, wie die Kripo an Danielas Handy kam.

»Es tut uns leid. Ihre Freundin ist heute Morgen im Bürgerpark tot aufgefunden worden«, sagte Valerie.

»Was hat man ihr angetan? Ist sie vergewaltigt worden? Hach, ich habe so sehr auf sie eingeredet, nicht die Abkürzung durch den Park zu nehmen. Es kam doch wirklich nicht darauf an, ob sie ein paar Minuten früher zu Hause ankam ... Noch dazu, wo sie sich seit Tagen verfolgt fühlte.«

»Demnach hat Frau Wilke den frühen Abend hier bei Ihnen verbracht?«, fragte Hinnerk.

»Ja, wir haben nachmittags zusammen Kaffee getrunken. Dabei hat sie mir von ihrem Verfolger erzählt.«

»Was genau? Kannte sie den Mann?«

»Nein, ihr gegenüber hat er sich ja nicht blicken lassen. Trotzdem spürt man doch irgendwie, wenn man beobachtet wird. Das ging schon ein paar Tage so. Wir haben noch zusammen überlegt, wer es sein könnte. Ich wollte wissen, ob sie einen Verehrer abgewiesen hat, oder ob sich ein verflossener Lover wieder gemeldet hat. Beides hat Daniela verneint. Vielleicht kannte sie den Mann gar nicht. Es soll ja so Verrückte geben, die sich in einen verlieben, ohne einen zu kennen. Aber sie haben mir noch nicht gesagt, was man ihr angetan hat …«

»Ihre Freundin ist nach vorläufigen Erkenntnissen nicht vergewaltigt worden, doch man hat sie stranguliert.«

Birgit kamen erneut die Tränen. »Was für ein schrecklicher Tod«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Es muss furchtbar sein, keine Luft mehr zu bekommen.«

Valerie nickte. »Fällt Ihnen irgendjemand ein, der Ihrer Freundin das angetan haben könnte? Vielleicht ein Exfreund?«

Birgit Schubert schüttelte verneinend den Kopf. »Wie gesagt, wir haben uns auch schon den Kopf zerbrochen. Aber Danielas Beziehungen sind immer friedlich auseinandergegangen. Man hat sich eben geirrt oder jeder in eine andere Richtung entwickelt, wie das heute so läuft. Teilweise hält der Kontakt aber noch immer an, auf freundschaftlicher Basis. Da gab es keinen, der sie hinterher bedroht hat. Das kann ich mit Bestimmtheit sagen.«

»Wie lange kennen Sie sich schon? Seit der Schulzeit?«

»Nein, ich bin ja zwei Jahre jünger und hier in Pankow zur Schule gegangen. Daniela am Wedding. Wir haben uns als Teenager beim Sport kennengelernt. Wir waren beide im selben Handballverein. Nach meiner Heirat bin ich mit meinem Mann hier in dieses Haus gezogen. Daniela hat sich erst vor knapp einem Jahr eine Wohnung in der Wollankstraße genommen. Seitdem haben wir uns regelmäßig gesehen und viel Zeit miteinander verbracht, denn mein Mann mochte sie auch. Nicht so, wie Sie jetzt vielleicht denken. Er hat einen ganz anderen Typ, eben so wie mich. Aber menschlich haben sie sich gut verstanden.«

»Haben Sie gestern alle drei Kaffee getrunken?«

»Nein, mein Mann ist erst später von der Arbeit gekommen, da war Daniela schon weg.«

»Wann genau kam Ihr Mann nach Hause?«

»So gegen neun. Warum? Sie denken doch nicht etwa … Ich sage doch, er stand nicht auf Daniela. Und ein Mörder ist er schon gar nicht.«

»Wir würden uns gerne mit ihm persönlich unterhalten. Richten Sie ihm bitte aus, er möge sich bei uns auf dem Präsidium melden.«

»Ja, wenn Sie darauf bestehen … Aber es ist einfach lächerlich. Er hätte Daniela nie etwas angetan … überhaupt keiner Frau.«

Ben hatte am Abend noch immer schlechte Laune wegen des verpatzten Morgens. Und dass er von der Schule mit der BVG zurückfahren gemusst hatte, gefiel ihm überhaupt nicht.

»Warum steht das Mistding eigentlich immer noch hier herum?«, fragte er, als er mit dem Fuß gegen den Kratzbaum stieß. »Minka ist doch schon eine ganze Weile tot und kommt bestimmt nicht wieder.«

»Vielleicht mäßigst du dich etwas in deinem Ton«, sagte Valerie böse. »Minka hat uns jahrelang die Treue gehalten und war länger bei uns als du, falls dir das nicht bewusst ist. Wir können sie nicht einfach so vergessen und zur Tagesordnung übergehen. Außerdem hat dein Vater mir damals die Katze geschenkt, deshalb überlasse ich ihm, ob und wann es eine Nachfolgerin geben wird. Du scheinst sie als Einziger nicht sonderlich zu vermissen.«

»Katzen leben nun mal nicht ewig …«

»Das ist alles, was du zu sagen hast? Mir scheint, Trauer scheint nicht so dein Ding zu sein. Als Cäsar starb, hast du auch keine Träne vergossen …«

»Ich durfte ihn ja damals nicht behalten. Lieber habt ihr ihn einem fremden Mann gegeben …«

»Dieser fremde Mann lebt immerhin mit deiner Großmutter zusammen, und ein besseres Herrchen hätte sich Cäsar nicht wünschen können.«

»Na, dann ist doch alles gut …«

»Gar nichts ist gut, ihr habt in den letzten Jahren ungezählte Stunden gemeinsam verbracht, in denen ihr gespielt und herumgetollt habt. Ich dachte, es wäre so etwas wie ein Freund für dich gewesen.«

»Was wird das jetzt hier, eine Grundsatzdiskussion?«, fragte Ben frech.

»Wenn du so willst, ja. Ich habe dich zwar geboren, frage mich aber die letzte Zeit, ob ich dich wirklich kenne.«

»Dann hättest du es eben lassen sollen. Abtreibungen sind doch bei euch Frauen an der Tagesordnung.«

»Du hältst jetzt sofort deinen frechen Mund. Was fällt dir eigentlich ein, so mit mir zu reden? Ich habe lediglich bemerkt, dass von dir eine emotionale Kälte ausgeht, die mir Angst macht. Das Grab deines Großvaters hast du noch nicht ein einziges Mal besucht und das von Tante Marion auch nicht, soviel ich weiß.«

»Was weißt du schon? Sie haben schließlich nichts mehr davon, wenn man ihre Gräber besucht. Und lass die Tante weg, für mich war es immer Marion.«

»Danke für die Belehrung. Du kannst in dein Zimmer gehen und über deine Frechheit mir gegenüber nachdenken. Dein Abendbrot bringt dir dein Vater.«

»Entschuldige, dass ich nicht unsichtbar bin …«

Valerie griff das erste beste Stück, das sie erreichen konnte, in diesem Fall eine Illustrierte, die sie nach Ben warf. Der wich geschickt aus und verschwand grinsend.

»Was ist denn mit euch beiden los?«, fragte Hinnerk, der gerade aus dem Bad kam.

»Dein Sohn ist frech, aufsässig und ich fürchte, ein emotionsloses Monster.«

»Na, na, immer langsam mit den jungen Pferden. Schließlich ist er auch dein Sohn. Was meinst du mit emotionsloses Monster?«

»Er kann einfach keine Trauer empfinden. In kurzer Folge haben wir zwei geliebte Haustiere verloren, und es geht ihm am Arsch vorbei. Und die Gräber von seinem Opa und von Marion existieren für ihn nicht.«

»Du weißt doch gar nicht, ob er trauert. Vielleicht zeigt er es nur nicht. Seine Kumpel würden es sicher uncool finden, wenn er sich seine Trauer anmerken ließe. Und zum Thema Friedhöfe: Du weißt, dass das Verhältnis zwischen Ben und deinem Vater nicht das beste war. Mehr als einmal hat Christoph seinen Enkel im Pflegeheim nicht erkannt oder ihn sogar aus dem Zimmer gewiesen.«

»Das lag an seiner Krankheit und nicht daran, dass er Ben nicht mochte.«

»Für ein Kind macht das keinen Unterschied. Er fühlte sich einfach abgelehnt. Und unter uns gesagt, dass deine Mutter sich so schnell mit einem anderen Mann getröstet hat, wird ihm auch mehr als seltsam vorgekommen sein.«

»Herbert ist für Karen ein wahrer Glücksfall. Erinnere dich an ihre Alkoholprobleme, als Papa sie verlassen hatte. Und die beiden verbindet ein ähnliches Schicksal. Herbert hat auch seine Frau verloren, weil sie unter derselben Krankheit wie Papa litt.«

»Das weiß ich doch. Aber versetze dich in die Lage eines Neunjährigen, der sieht, wie seine Oma so kurz nach dem Tod ihres Mannes sich einem anderen zuwendet. Vom Verstand her konnte er das bestimmt nicht begreifen. Und im Falle von Marion tust du ihm Unrecht. Ich habe schon öfter einen Strauß Freesien auf ihrem Grab gefunden. Du weißt, dass Ben diese Blumen sehr mag. Er hat Marion schon zu Lebzeiten öfter welche mitgebracht.«

»Hätte ich mir denken können, dass du ihm die Stange hältst. Doch das entschuldigt nicht seine Frechheit mir gegenüber. Sein Abendessen kannst du ihm jedenfalls bringen. Ich habe keine Lust, ihn heute noch einmal zu sehen.«

Valerie übersah in ihrer Enttäuschung und Hilflosigkeit, dass sie Ben tatsächlich Unrecht tat. Nach Minkas Tod hatte er nächtelang geweint, es aber vor den Eltern verborgen. Ähnlich hatte es sich verhalten, als Cäsar, der liebe Labradorrüde, gestorben war. Valerie hatte ihn damals kurzfristig aufgenommen, als sie und Hinnerk Cäsars Herrchen des mehrfachen Mordes überführt hatten. Bens Enttäuschung war grenzenlos gewesen, dass er ihn nicht behalten durfte. Es war schließlich ein gewaltiger Unterschied, ob ein berufstätiges Ehepaar eine Katze oder einen Hund hielt, denn der brauchte Auslauf und konnte tagsüber nicht sich selbst überlassen werden. Da war es eine mehr als glückliche Fügung gewesen, dass Herbert Schindler, der neue Lebensgefährte von Valeries Mutter Karen, einen Narren an Cäsar gefressen hatte und ihn nicht mehr missen wollte.

Mit den Friedhöfen war es eine andere Sache. Die gehörten nun mal nicht zu den Lieblingsorten von Dreizehnjährigen. Wenn Ben hin und wieder seine Abneigung überwand, dann nur, weil er Marion ehrlich gemocht hatte. Doch da er wusste, wie seine Mutter darauf reagierte, sprach er nicht darüber, wie sehr er die Freundin seines Vaters vermisste. Und seinen Vater mochte er darauf nicht ansprechen, weil er wusste, wie sehr Hinnerk der Tod von Marion zu schaffen machte. Alles in allem nur dumme Missverständnisse. Doch ein bisschen genoss es Ben auch, sich von seiner Mutter missverstanden zu fühlen. Bestätigte es doch seine Meinung über Erwachsene. Über die schwierige Zeit der Pubertät konnte er ohnehin nur mit seinen Kumpels reden, wenn überhaupt, denn die gingen ihm gelegentlich ebenfalls gehörig auf die Nerven.

Am nächsten Tag meldete sich Steffen Schubert im Präsidium. Der smarte Geschäftsmann machte auf den ersten Blick einen guten Eindruck, doch der konnte täuschen, wie Valerie und Hinnerk wussten.

»Meine Frau sagte mir, Sie wollen mich sprechen? Es geht sicher um Daniela. Schreckliche Sache …«

»Ganz recht. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben«, meinte Hinnerk.

»Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Wie gut kannten Sie Daniela Wilke, Herr Schubert?«

»So gut, wie man die beste oder eine der besten Freundinnen seiner Frau eben kennt. Die meiste Zeit haben die beiden Frauen aber allein verbracht.«

»Und Sie, haben Sie Frau Wilke auch ohne Ihre Frau getroffen?«

»Nein, obwohl sie mir schon sehr gut gefiel. Doch mit der Freundin der eigenen Frau etwas anzufangen, ist nicht die feine englische Art.«

»Ihre Frau meinte, Frau Wilke sei nicht unbedingt Ihr Typ gewesen …«

»Kann sein, dass ich mal so etwas geäußert habe, damit Birgit nicht auf dumme Gedanken kommt.«

»Nun, so dumm waren die Gedanken ja wohl nicht, wenn ich Sie richtig verstanden habe.«

»Doch, Daniela hätte Birgit das nie angetan. Sicher, sie hatte nicht gerade Glück mit den Männern, doch deshalb auf mich zurückzugreifen …«

»Glauben Sie, sie hat auch an Ihnen Gefallen gefunden, sich aber nur nicht getraut, dem nachzugeben?«

»Weiß ich nicht, kann sein. Das Thema wurde nie berührt.«

»Jetzt kommen Sie, als Mann spürt man doch, ob eine Frau einen mag …«

»Gemocht hat sie mich, das steht außer Frage. Doch ob sie auch geil auf mich war? Keine Ahnung, kann sein, kann auch nicht sein. Extra mit den Titten oder dem Arsch hat sie jedenfalls nicht gewackelt.«

»Und das haben Sie bedauert und wollten ihr Glück an einem neutralen Ort versuchen, zum Beispiel in einem dunklen Park …«

»Quatsch, ich sage doch, sie wäre nie darauf eingegangen. Der Ort spielte dabei keine Rolle.«

»Wo waren Sie an jenem Abend zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr?«

»Im Büro, bis auf die zwanzig Minuten, die ich für den Heimweg brauche.«

»Kann das jemand bestätigen?«

»Ja, meine Sekretärin. Wenn Sie glauben, ich hätte Daniela umgebracht, sind Sie auf dem Holzweg.«

»Das wird festzustellen sein. Mein Kollege Kommissar Scheibli wird Sie jetzt nach Hause begleiten, wo sie ihm bitte die Kleidungsstücke und Schuhe aushändigen, die Sie an jenem Abend getragen haben.«

»Muss das sein? Ich meine, dass ich noch mal mitkomme. Kleidung und Schuhe kann Ihnen auch Birgit aushändigen.«

»Ja, natürlich, das geht auch. Demnach tragen Sie heute etwas anderes?«

»Sicher, ich weiß ja nicht, wie Sie es halten. Ich trage jeden Tag einen anderen Anzug, und die Schuhe wechsle ich auch öfter. Verzeihung, war nicht so gemeint.«

»Macht ja nichts, ich trage schon mal zwei Tage dieselbe Jeans, manchmal sogar eine Woche. Und mit meinen Lieblingsschuhen würde ich am liebsten ins Bett gehen.«

»Ja? Na, jedem Tierchen sein Pläsierchen.«

»Gut, Sie hören dann von uns. Und nach der Untersuchung bekommen Sie selbstverständlich Ihre Sachen wieder.«

»Alles klar, dann noch einen schönen Tag, die Herrschaften. Und viel Glück bei der Ermittlung, denn ich bin bestimmt nicht der Täter, den Sie suchen.«

Steffen Schubert verließ sichtlich erleichtert das Kommissariat, woraufhin Valerie schallend zu lachen anfing.

»Was erzählst du denn für einen Bockmist? Du und deine Jeans eine Woche tragen? Schon nach einem Tag rümpfst du die Nase. Und ich weiß nicht, wem die Batterie von Schuhen gehört. Deine scheinen es offensichtlich nicht zu sein, wo du immer dieselben trägst.«

»Lass mich doch den Kerl ein wenig provozieren beziehungsweise aus der Reserve locken.«

»Denkst du, es ist unser Täter?«, fragte Lars.

»Eher nicht. Sonst hätte er nicht so bereitwillig zugegeben, dass er gerne mal mit Daniela Wilke geschlafen hätte. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen zu behaupten, dass er sie nicht ausstehen konnte.«

»Dann schickst du mich also völlig umsonst seine Sachen holen?«

»Was heißt umsonst? Umsonst ist der Tod. Vielleicht finden die Forensiker überraschender Weise Danielas Genspuren auf seinem Anzug, oder Erdspuren an seinen Schuhen, die zum Tatort passen.«

»Wäre nicht so ungewöhnlich, wo er in der Nähe wohnt und sicher öfter mal einen Spaziergang macht …«

»Du, wenn es dir zuviel ist, ich kann auch selbst fahren …«

»Nein, nein, ich mache das schon«, sagte Lars, »und auf dem Rückweg fahre ich noch in seiner Firma vorbei, um mir die Sekretärin vorzuknöpfen.«

»Bravo, das nenne ich Arbeitseifer.«

»Verscheißern kann ich mich alleine …«

Nachdem Lars die Kleidungsstücke und Schuhe von Steffen Schubert aus dessen Haus abgeholt hatte, machte er sich auf den Weg zu Schuberts Firma. Sie befand sich in einem großen Bürokomplex an der Moabiter Stromstraße. Im Sekretariat empfing ihn eine adrette junge Frau, die gut vorbereitet zu sein schien.

»Ah der Herr Kommissar«, gurrte sie, »dass Sie sich selber auf den Weg machen … Mein Name ist Anita Winkler … Ich hätte Ihnen das Alibi meines Chefs auch telefonisch bestätigen können.«

»Demnach hat er Sie schon informiert. Riecht ein bisschen nach Absprache.«

»Aber ich bitte Sie, das ist gar nicht nötig. Bei uns wird es öfter mal spät, so auch an dem bewussten Abend. Ich wusste, was auf mich zukommt, als ich die Stelle hier angenommen habe.«

»Geht Ihre berufliche Beziehung auch ins Private über?«

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen. Herr Schubert lädt mich gelegentlich zum Essen ein. Das Bett teilen wir nicht miteinander, falls Sie darauf anspielen. Schließlich ist er glücklich verheiratet.«

»Das war noch nie ein Hinderungsgrund. Sie sind eine attraktive Frau, und Ihr Chef scheint nach der Einschätzung meiner Kollegen kein Kostverächter zu sein.«

»Darüber möchte ich mir kein Urteil bilden …«

»Sie sind sich darüber im klaren, dass eine Falschaussage bestraft wird … Immerhin ermitteln wir in einem Mordfall.«

»Geben Sie sich keine Mühe. Herr Schubert hat die Firma gegen zwanzig Uhr vierzig verlassen. Das würde ich jederzeit beeiden.«

»Nun gut, dann nehme ich das so zu Protokoll. Sollte sich jedoch etwas Gegenteiliges herausstellen, werden Sie schneller mit uns Kontakt bekommen, als Ihnen lieb ist.«

»Bitte, wenn Sie sonst keine Fragen haben, würde ich jetzt gerne weiterarbeiten.«

»Eine Frage hätte ich noch: Herr Schubert trug an jenem Tag einen dunkelgrünen Anzug und braune Schuhe, richtig?«

»Netter Versuch, nein, sein Anzug war blau und die Schuhe schwarz.«

»Sie schauen sich Ihren Chef wohl immer ganz genau an?«

»Als gute Sekretärin hat man so etwas im Blick. Wollen Sie auch noch das Krawattenmuster wissen?«

»Danke, nicht nötig.«

Ohne Scham

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