Читать книгу Der FC Bayern, seine Juden und die Nazis - Dietrich Schulze-Marmeling - Страница 7
ОглавлениеKapitel 2
Debüts, Premieren und eine »ansteckende Seuche«
1901 tritt dem FC Bayern Kurt Landauer bei, der bis zum Jahr 1933 zur prägenden Figur des Vereins werden sollte. Der 17-Jährige stammt aus dem vor den Toren Münchens gelegenen Planegg. Seine Eltern sind die sehr wohlhabenden jüdischen Kaufmannseheleute Otto und Hulda Landauer. Die »Münchner Neuesten Nachrichten« beschreiben Otto Landauer als »Kommerzienrat« und »Inhaber des bekannten Modehauses an der Kaufinger Straße«, also in der besten Stadtlage.
Die Kaufingerstraße ist Teil der großen Ost-West-Achse der historischen Altstadt und gehört somit zur alten Salzstraße von Salzburg bzw. Reichenhall über Landsberg in die Schweiz. Münchens Kaufleute hatten hier einst ihre Wohnhäuser errichtet. Im 19. Jahrhundert wurden die barocken Wohnhäuser durch Kaufhäuser ersetzt.
Die Landauers waren in der Kaufingerstraße 19 zu Hause, aber eine Epidemie in der Münchner Universitätsklinik trieb Hulda Landauer zur Geburt ihres dritten Kindes nach Planegg, begleitet von ihrer Hebamme. Wie die Autoren des Films »Kick it like Kurt« herausfanden, ist das Geburtshaus Kurt Landauers die heutige Bahnhofstraße 31 in Planegg. Kurt Landauer bedauert später, als Einziger der Familie kein »echter Münchner« zu sein.
Kurt Landauer hat sechs Geschwister: Gabriele, Henny, Paul Gabriel, Franz, Leo und Alfons. Alfons, der jüngste der Brüder, wird sich 1928 nach dem Börsenkrach am »schwarzen Freitag« das Leben nehmen.
Die großbürgerliche Familie Landauer ist bildungs-, kunst- und kulturbeflissen, denkt standesbewusst und politisch liberal. Man pflegt regen Kontakt zu Künstlern und Literaten. So gehört u. a. die in Berlin geborene expressionistische Malerin Gabriele Münter zum Freundeskreis. Münter ist 1901 nach München gezogen, wo sie in Schwabing der von ihrem Lehrer und Lebensgefährten Wassily Kandinsky gegründeten Gruppe »Der Blaue Reiter« angehört, die bedeutende deutsche und russische Expressionisten vereinigt. Im Nationalsozialismus wird Gabriele Münter mit einem Ausstellungsverbot belegt. Kandinskys Werke werden zur »entarteten Kunst« erklärt und 57 von ihnen aus deutschen Museen entfernt.
Mit seiner Fußballvernarrtheit steht Kurt Landauer in seiner Familie zunächst allein. In der Kommunikation mit den anderen Familienmitgliedern fehlt es daher häufig an Gesprächsstoff und an gemeinsamen Interessen. Erst einige Jahre später treten auch die jüngeren Brüder Franz und Leo dem FC Bayern bei.
Kurt Landauer beginnt beim FC Bayern als Aktiver, übernimmt aber im Laufe der Jahre mehr und mehr administrative Aufgaben.
Verstärkung aus den Niederlanden
Nicht nur deutsche Juden sind beim FC Bayern willkommen, sondern auch Ausländer. 1902 zieht der aus Arnheim stammende Niederländer Willem Hesselink nach München, um sein Studium der Chemie fortzusetzen. Daheim hat der Sohn eines Weingroßhändlers, der auch Vizekonsul von Spanien war, bereits an der Universität Leiden unter den späteren Nobelpreisträgern Hendrik Anton Lorentz (1902) und Heike Kamerlingh Onnes (1913) studiert. An der Ludwig-Maximilian-Universität wird nun Conrad Wilhelm Röntgen, Nobelpreisträger 1901, zu seinen Professoren gehören.
Wie viele hinzugezogene Studenten vor ihm schließt sich auch Hesselink dem FC Bayern an. Der Neue erweist sich als Glücksfall für den Klub. Mit seinen 24 Jahren bringt er bereits ein enormes Ausmaß an Erfahrung mit – als Spieler wie als Organisator; 1892 zählte er als 14-Jähriger zu den Gründern von Vitesse Arnheim. Hesselink war ein vielseitiger Athlet. Neben Fußball betrieb er noch Cricket, Tauziehen und Leichtathletik. Über eine Meile und im Weitsprung stellte er Landesrekorde auf. Sein 6,20-Meter-Sprung aus dem Jahr 1898 wird erst 1910 übertroffen. Im Tauziehen wurde Hesselink mit seinem Team niederländischer Meister.
1899 schloss er sich der HVV Den Haag an, der Haagse Voetbal Vereniging. Wie Vitesse Arnheim hatte auch der HVV seine Wurzeln im Cricket. Diese Sportart spielt in den Niederlanden und besonders in Den Haag eine wichtige Rolle. Der in den Niederlanden aufgewachsene Schriftsteller Joseph O’Neill lässt in seinem Roman »Niederland« seine zentrale Figur, den Bankier und Hobby-Cricketer Hans van den Broek, über Den Haag und Cricket philosophieren: »Ich bin aus Den Haag, wo sich holländisch bürgerlicher Snobismus und holländisches Cricket, durchaus nicht gänzlich ohne Zusammenhang, am stärksten kon zentrieren.«
Vor dem Ersten Weltkrieg ist die HVV der erfolgreichste Fußballklub der Niederlande. Von 1900 bis 1914 gewinnt sie achtmal die nationale Meisterschaft. Bei den ersten beiden Titeln, 1900 und 1901, ist auch Willem Hesselink dabei. Das in Berlin erscheinende Sportjournal »Sport im Wort« charakterisiert ihn nach einem Spiel der Berliner Preußen in den Niederlanden als »zweifellos gefährlichsten Spieler«. Mehrfach wird er in die Bondselftal berufen, der inoffiziellen Nationalmannschaft der Niederlande.
Ein Ausländer als Star und Präsident
1903 wird Willem Hesselink Präsident des FC Bayern und beerbt in dieser Funktion den Preußen Franz John. Auf dem Feld avanciert er gleichzeitig zum ersten ausländischen Star des Klubs. Daneben agiert das Multitalent auch noch als Trainer.
Sein Studium vernachlässigt er darüber keineswegs. Am 27. Juli 1904 reicht der Bayern-Präsident seine Dissertation ein. Das süffige Thema lautet: »Über die Weine des Weinbaugebietes am Douro, die sog. Portweine«. Es folgt eine Beschäftigung als Doktor der Chemie an der Hohen Philosophischen Fakultät.
Am 14. Mai 1905 läuft Hesselink zum ersten und letzten Mal für die nun offizielle niederländische Nationalmannschaft auf. Es ist das zweite offizielle Länderspiel der Niederlande. Vor 30.000 Zuschauern in Rotter-dam fährt die Elftal gegen Belgien einen späten, aber klaren Sieg ein. Erst in der 74. Minute erzielt Hesselink die Führung. Zweimal Eddy De Neve, Sohn eines Majors der Königlichen Niederländisch-Indischen Armee und in Jakarta aufgewachsen, und der Arnheimer Guus Lutjens erhöhen in den folgenden zehn Minuten auf 4:0, was auch der Endstand ist.
Nach einem Zwischenaufenthalt in Frankfurt/M. (1907-1908) kehrt Hesselink in die Niederlande zurück, wo er in Arnheim ein gerichtsmedizinisches Laboratorium aufbaut und zum Direktor des Gesundheitsamtes avanciert. Hesselink wird Mitglied der Internationalen Akademie für Kriminologie und erwirbt den Ruf eines Experten für Blutanalysen, Fingerabdrücke und Schriftvergleiche. Sporthistoriker Andreas Wittner: »Noch heute kann man sich im Niederländischen Polizei-Museum in Apeldoorn über Dr. Willem Hesselink und seine zahlreichen Erfolge in der Verbrecherjagd informieren.«
Dem Fußball bleibt Hesselink weiterhin treu. Er spielt noch einige Jahre für Vitesse und wird 1913 und 1914 mit dem Klub, den er mitgegründet hat, niederländischer Vizemeister. Daneben agiert er auch als Trainer des Teams und Schatzmeister des Klubs. Von 1917 bis 1922 ist Hesselink dann Präsident von Vitesse.
Lehrstunden
Der FC Bayern entwickelt schon früh eine Vorliebe für internationale Begegnungen. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges bestreitet der Klub 361 Spiele, 50 davon sind internationale Freundschaftsspiele – eine erstaunliche Zahl, die Ambitionen und weltoffenes Denken dokumentiert.
Die meisten der internationalen Kräftemessen gehen verloren. Allerdings sind es auch ansehnliche Hausnummern, mit denen man es aufnimmt. Zum Auftakt muss es gleich der Deutsche Fußball-Cub (DFC) Prag sein, der am 25. Mai 1896 von deutschnational gesinnten Juden in der Moldaustadt gegründet wurde und aus dessen Reihen der erste DFB-Vorsitzende Ferdinand Hueppe stammt. Obwohl in Österreich-Ungarn ansässig, werden die Prager 1903 an der ersten deutschen Fußballmeisterschaft teilnehmen und es bis ins Finale schaffen. Auf der Suche nach Mitgliedsvereinen hatte der junge DFB auch »deutsche« Klubs in Österreich und Böhmen zum Beitritt und zur Teilnahme an Meisterschaften eingeladen.
Am 9. Dezember 1900 reisen die Bayern nach Prag, wo ihnen der DFC eine Lehrstunde erteilt. 8:0 siegen die Prager, gegen die man vor dem Krieg noch vier weitere Spiele bestreitet.
Im Mai 1904 wird die DFB-Ära des DFC beendet sein. Nachdem der DFB der FIFA beigetreten ist, dürfen Nicht-Reichsdeutsche dem Verband nicht mehr angehören. Fortan spielt der DFC Ligafußball in Böhmen bzw. ab 1919 in der Tschechoslowakei. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Prag im März 1939 wird man den Traditionsklub als »jüdischen Verein« kurzerhand auflösen.
Bis in die 1920er Jahre aber gehört der Klub zu den besten Adressen auf dem Kontinent; insgesamt 16 DFCler tragen das österreichische oder ungarische Nationaltrikot, darunter Adolf Patek, der von 1958 bis 1961 den FC Bayern trainieren wird. Ebenso der jüdische Publizist Dr. Paul Fischl, später Verleger und Herausgeber des »Prager Tageblatts«. Für den österreichisch-jüdischen Schriftsteller Friedrich Torberg war Fischl »einer der besten Fußballer aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg«. Nach 1933 wird sein Verlag »J. Kittl Nachfolger« vielen von den Nazis verfemten Autoren – so Ernst Weiß, Ludwig Winder, Julien Green, Sinclair Lewis – eine neue Heimat bieten.
Bayerns zweiter internationaler Auftritt führt den Klub nach Südtirol, wo man sich in Meran dem Akademischen Sportverein Graz mit 1:5 geschlagen geben muss. Von den ersten zehn internationalen Begegnungen gehen neun verloren, einige davon deutlich.
Nach drei Auslandsreisen fungiert am 6. März 1904 erstmals der FC Bayern als Gastgeber. An der Schwabinger Clemensstraße geht man gegen die Blue Stars St. Gallen mit 0:10 unter. Sechs Wochen später endet das zweite Kräftemessen gegen die blauen Sterne mit dem gleichen Ergebnis.
Und die Lehrstunden gehen weiter. Auch die zweite Begegnung mit dem DFC Prag geht im Juni 1906 an der Karl-Theodor-Straße mit 1:11 in die Hose. Sechs Tage später kommt es noch etwas derber, als Slavia Prag, ein 1892 von sportbegeisterten Studenten gegründeter bürgerlicher Renommierklub und der älteste tschechische Verein, an der Karl-Theodor-Straße seine Visitenkarte abgibt. Der vom Schotten John William Madden trainierte Klub der Prager Intellektuellen, der heute von Fans des »proletarischen« Lokalrivalen Sparta als »Judenklub« beschimpft wird, schenkt den Bayern gleich 13 Tore ein. Das 0:13 vom 10. Juni 1906 ist die höchste Niederlage überhaupt, die die Bayern bis heute bezogen haben.
Ein halbes Jahr später zeigen sich die Bayern leicht verbessert. Diesmal behält Slavia »nur« mit 8:0 die Oberhand. Schämen müssen sich die Münchner nicht, denn vom 25. März 1897 bis zum 21. März 1909 gelingt es keiner tschechischen Elf, Slavia zu schlagen. John William Maddens Elf zählt zu den besten Teams Europas.
Im Frühsommer 1903 reist der FC Bayern erstmals in die Schweiz. In St. Gallen verliert man am 31. Mai gegen den heimischen FC (2:3), einen Tag später erreicht man gegen den FC Zürich immerhin ein Unentschieden (2:2). Mit dem schweizerischen Vizemeister FC St. Gallen, bereits 1879 gegründet und damit heute der älteste noch bestehende Klub im Land der Eidgenossen sowie einer der ältesten auf dem europäischen Kontinent, gehen die Bayern eine Sportfreundschaft ein.
Vor dem Ersten Weltkrieg spielen die Bayern besonders häufig gegen Teams aus dem deutschsprachigen Teil der Schweiz – insgesamt 17-mal. Gegen Schweizer Fußballer gibt es dann endlich auch den ersten Sieg in einem internationalen Spiel: Am 9. Mai 1907, beim zwölften Versuch gegen ein ausländisches Team, behalten die Bayern an der Plinganerstraße gegenüber den Old Boys Basel mit 2:1 die Oberhand.
In der Saison 1913/14 tritt der FC Bayern gleich dreimal gegen die Wiener Amateure an, wobei man zweimal verliert (1:2, 0:1). Das einzige Unentschieden (1:1) erreicht man Mitte August 1913, als man sich für einige Tage in der Donaumetropole aufhält (und sich auch mit der Vienna misst). Hinter den Wiener Amateuren verbirgt sich der spätere FK Austria; die Umbenennung erfolgt am 18. November 1926 auf einer Generalversammlung im Wiener Domcafé, zu einem Zeitpunkt, als in Österreich der Profifußball legalisiert wird. Amateure/Austria ist der Klub des assimilierten jüdischen Bürgertum Wiens, ebenso sehr ein Gesellschafts- wie ein Fußballverein.
Kräftig Lehrgeld muss man gegen Teams aus dem »Fußball-Mutterland« bezahlen. Gegen das Amateurteam The Pirates verliert man am 29. April 1908 an der Schwabinger Leopoldstraße mit 0:8, gegen die Profis von den Blackburn Rovers am 18. Mai 1910 an gleicher Stelle mit 0:7. Mit dem FC Sunderland, dem FC Middlesborough und den Tottenham Hot spurs kommen weitere englische Profiteams nach München. Sunder-land gewinnt am 30. Mai 1909 mit 5:2, Middlesborough am 12. Mai 1913 mit 9:1. Die Tottenham Hotspurs, der Klub aus der britischen Metropole, dem viele Londoner Juden anhängen, schlagen die Bayern an der Leopoldstraße mit 6:0. Die »Spurs« sind am 9. Mai 1914 letzter ausländischer Gast, bevor der Erste Weltkrieg die erste internationale Ära des Klubs abrupt beendet.
Es waren also nicht in erster Linie Siege, die der FC Bayern bei seinen internationalen Spielen anstrebte. Vielmehr suchte man sich namhafte Gegner aus, von denen die eigenen Spieler in taktischer und spielerischer Hinsicht lernen konnten und die für die Münchner Zuschauer attraktiv waren. Dass nicht wenige dieser Vereine in einem ähnlichen bürgerlichintellektuellen Milieu zu Hause waren wie die Bayern und häufig jüdische Akteure in ihren Reihen hatten, dürfte kein Zufall sein. Dies gilt auch für einige der süddeutschen Konkurrenten der Bayern.
Juden im süddeutschen Fußball
Ein Vierteljahrhundert bevor der FC Bayern seinen ersten nationalen Titel feiern darf, gewinnt der FC Freiburg die Deutsche Meisterschaft – jener Verein also, dem die Münchner in den ersten Jahren wesentlich ihr Überleben zu verdanken hatten. Es ist ein illustres Team, das am 19. Mai 1907 in Mannheim Viktoria 89 Berlin mit 3:1 bezwingt. Mit Dr. Paul Goldberger de Budda, Dr. Louis C. de Villiers, Dr. Felix Hunn, Dr. Josef Glaser und Dr. Hofherr laufen gleich fünf Promovierte auf.
Das Tor hütet Dr. Paul Goldberger de Budda, Spross einer jüdischen Großbürgerfamilie in Wien. Die Wurzeln der Familie liegen in Budapest, genauer: Obuda, das 1872 mit Buda und Pest zur Stadt Budapest fusionierte. Vater Edmund Goldberger ist Vizepräsident des Verwaltungsrates der Firma Sam F. Goldberger & Söhne Aktiengesellschaft, Revisor der Österreichisch-Ungarischen Bank und Präsident des Kreditvereins der Allgemeinen Depositenbank. Sein Abitur hatte Paul Goldberger noch 1899 in Wien gebaut, wo er 1900 mit dem First Vienna Football Club den Challenger Cup gewann. Im Herbst 1901 ging er an die Technische Hochschule in Berlin-Charlottenburg und kickte für Britannia Berlin. Im Frühjahr 1905 zog der Doktorand nach Basel, wo er über das N-Bromphthalimid promovierte. Nach dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft wechselt Goldberger zum Frankfurter Kickers FC, für den anfänglich auch Walther Bensemann gespielt hat. Dort hütet er nicht nur das Tor, sondern arbeitet auch im Vorstand mit. 1911 gehört Goldberger zu den treibenden Kräften einer Fusion von Kickers und Frankfurter FC Victoria, die 1920 in die Turn- und Sportgemeinde Eintracht, der späteren Eintracht Frankfurt aufgeht.
Goldberger ist nicht der einzige Jude im siegreichen FFC-Team. Im Mittelfeld führt Max Maier Regie, Sohn eines jüdischen Fettviehhändlers mit Wohnsitz in der Freiburger Rheinstraße 68. 1910 wandert Maier nach Argentinien aus.
Zwei prominente jüdische Kicker bringt auch der von Walther Bensemann gegründete Karlsruher Fußball-Verein (FV) hervor, der 1910 Deutscher Meister wird: den damals erst 18-jährigen Julius Hirsch und den 20-jährigen Gottfried Fuchs. Mit Fritz Förderer bilden Hirsch und Fuchs den besten Innensturm im deutschen Fußball. Der Fußballhistoriker Hardy Grüne bezeichnet den Champion als erstes »Dream-Team« im deutschen Fußball. 1912 wird der KFV nach 1905 und 1910 ein drittes Mal das nationale Finale erreichen, allerdings den »Störchen« von Holstein Kiel unterliegen.
Josef Frey, ein langjähriges KFV-Mitglied, wird in Josef Werners Buch »Hakenkreuz und Judenstern« mit der Aussage zitiert, dass der KFV »wegen der Mitgliedschaft zahlreicher jüdischer Bürger, teils respektvoll, teils missgünstig oder gehässig, als ›Judenverein‹ bezeichnet« wurde.
Am 26. März 1911 läuft erstmals ein Jude für die DFB-Auswahl auf. Beim Länderspiel gegen die Schweiz, dem elften offiziellen Auftritt der DFB-Elf, stürmen die Deutschen mit dem nun 21-jährigen Karlsruher Gottfried Fuchs. Gespielt wird auf dem Kickers-Platz im gediegenen Stuttgart-Degerloch. Die Platzherren sind ein gutbürgerlicher Verein, zu dessen Gründungsmitgliedern 1899 auch jüdische Bürger wie der 2. Vorsitzende Karl Levi gehörten. Im Milieu des Lokalrivalen VfB wird die Anlage einige Jahrzehnte später als »Hebräerwies« und »Golanhöhen« firmieren. Auf diesem Platz also schlägt Deutschland die Schweiz mit 6:2 und Debütant Fuchs gleich zweimal zu.
Am 17. Dezember 1911 feiert auch der nun 19-jährige Julius Hirsch seinen Einstand in der Nationalelf. Auf dem MTV-Platz an der Münchner Marbachstraße unterliegt Deutschland den Ungarn mit 1:4. Debütant Hirsch geht leer aus, trifft aber dafür einige Monate später, am 24. März 1912 im niederländischen Zwolle, gleich viermal – als erster deutscher Nationalspieler überhaupt. Deutschland und die Niederlande trennen sich 5:5, den weiteren deutschen Treffer erzielt Hirschs Freund, Glaubensgenosse und Vereinskamerad Gottfried Fuchs.
Beide fahren auch zum olympischen Fußballturnier nach Stockholm. Die erste Begegnung gegen Österreich geht mit 1:5 in die Hose, vom »jüdischen Duo« ist nur Hirsch dabei. Im folgenden Spiel gegen Russland werden zwei historische Rekorde aufgestellt: Deutschland gewinnt mit 16:0, der höchste Sieg in der Länderspielgeschichte des DFB. Zehn Treffer gehen auf das Konto von Gottfried Fuchs. Auch dieser Rekord steht noch heute.
Townley, Hogan und der saubere Pass
Der Karlsruher FV ist ein ausgesprochen moderner Verein. Im Januar 1909 hatte man mit dem Engländer William J. Townley einen Profitrainer verpflichtet. Townley brachte seinen Akteuren technische Raffinessen bei, verbesserte ihre Ballbehandlung, ließ sie Spielzüge und Angriffskombinationen einüben und machte sie mit dem schottischen Flachpassspiel vertraut. »Stoppen, schauen, zuspielen« lautete sein Motto. Hardy Grüne: »Townley revolutionierte Deutschlands Fußball. Statt nach dem hierzulande noch üblichen ›möglichst hart und weit schießen‹ zu verfahren, führte ›der alte Blackburn Rover‹, wie er liebevoll von der Presse genannt wurde, britische Errungenschaften ein.« Sämtliche KFV-Teams, ein Novum im deutschen Fußball, spielten nach dem »Townley-System«.
Seine Trainerkarriere hatte der zweifache englische Nationalspieler 1908 beim bereits vorgestellten DFC Prag begonnen. In England gab es einen Überschuss an Trainern – zumal man im »Mutterland« zunächst der Auffassung frönte, dass die Position eines hauptamtlichen Trainers überflüssig sei. Die abwertende Haltung gegenüber dem Beruf des Fuß-balltrainers entsprang der arroganten Auffassung, dass England in Sachen Fußball eine angeborene und ewige Überlegenheit besitze.
Auf dem Kontinent musste man hingegen lernen und war sich dessen bewusst. Moderne und ambitionierte Klubs rissen sich um englische und schottische Übungsleiter.
Auch einige nationale Verbände engagierten Engländer. So betreute Jimmy Hogan 1910 die niederländische Nationalelf bei ihrem 2:1-Sieg über Deutschland in Kleve und während der Olympischen Spiele 1912 das Team Österreichs. Wie Townley legte Hogan großen Wert auf Passgenauigkeit und Ballkontrolle – Dinge, die man eher mit dem »wissenschaftlichen« Fußball Schottlands denn mit dem englischen Spiel assoziierte. Mithilfe der in ihrer Heimat verschmähten britischen Übungsleiter holte der Kontinent nun gegenüber dem »Fußball-Mutterland« England beständig auf.
Erste Schritte zum Professionalismus
1910 versichert sich der FC Bayern der Dienste des österreichischen Profi-Torwarts Karl Pekarna. 1904 war Pekarna vom First Vienna Football Club zu den Glasgow Rangers gewechselt. In Schottland war der Profi-fußball bereits seit 1893 legal. Der Weltklassekeeper wurde nur wenige Monate nach seiner Ankunft am Clyde zum schottischen »Fußballer des Jahres« gewählt. Heimweh trieb ihn zurück an die Donau, von wo er 1907 an die Isar und zum FC Wacker München weiterzog.
Beim innerstädtischen Wechsel von München-Laim nach Schwabing fließt viel Geld. Außerdem besorgt der FC Bayern Pekarna die Stelle eines Abteilungsleiters in einem Geschäft für Sportartikel.
Vor der Saison 1911/12 erkennt man beim FC Bayern die enorme Bedeutung der Trainerfrage. In den Spielzeiten 1909/10 und 1910/11 hat-ten sich die Bayern insgesamt fünfmal mit Townleys Karlsruher FV gemessen und dabei ebenso häufig den Kürzeren gezogen. Insbesondere 1910/11 hatten die Bayern die Überlegenheit der Badenser zu spüren bekommen. In der Saisonvorbereitung endet ein Testspiel in Karlsruhe mit einer 1:4-Niederlage. Im Kampf um die Süddeutsche Meisterschaft gewinnt der KFV in München mit 3:1 und daheim sogar mit 5:0, Bayerns höchste Niederlage in einem Pflichtspiel dieser Spielzeit.
Allerdings haben die 5.000 Zuschauer, die zum Hinspiel an die Leopoldstraße gekommen sind, eine hübsche Summe in die Klubkasse gespült. Was tun mit den Einnahmen? Soll das Geld in ein neues Sportgelände oder in die Mannschaft investiert werden?
Bayerns Präsident ist zu dieser Zeit der Chemiker Dr. Angelo Knorr, der aus einer angesehenen und wohlhabenden Münchner Familie stammt. Der Vater war Inhaber der Handelsfirma Angelo Sabadini, der Großonkel Julius Mitbegründer der Bayerischen Fortschrittspartei und Verleger der liberalen und gegenüber der katholischen Kirche kritischen »Münchner Neuesten Nachrichten«, zeitweise eine der auflagenstärksten Tageszeitungen im Deutschen Reich.
Angelo Knorr plädiert nun für einen Profitrainer: »Durch das von den Karlsruhern im jüngstverflossenen Meisterschaftsspiel gezeigte bestechende Können, dem unsere Mannschaft nicht gewachsen war«, sei nun klar, »dass die Trainerfrage im vollen Umfang aufgerollt ist«. Es sei »nur durch einen englischen Trainer die sportliche Entwicklung unserer Leute möglich«.
Knorr erstellt ein ausführliches Memorandum, in dem er die Chancen und Risiken eines derartigen Weges abwägt. Gute Trainer seien schließ-lich nicht im Überfluss vorhanden. Auch fallen die Erfahrungen mit englischen Übungsleitern nicht überall positiv aus. In Mannheim und Pforzheim hatten sich die Entwicklungshelfer aus dem »Mutterland« mehr im Wirtshaus als auf dem Trainingsplatz herumgetrieben. Schließlich wird zur Saison 1911/12 der Engländer Charles Griffiths engagiert, allerdings zunächst nur »versuchsweise«.
Griffiths ist nicht der erste Brite bei den Bayern, vor ihm haben bereits die Landsleute Thomas Taylor (1908/09) und V. Hoer (1909/10) bei den Bayern unterrichtet. Aber Griffiths ist der erste hauptamtliche Übungsleiter des Klubs und damit der bis dahin teuerste und professionellste. Andreas Wittner über die Auswirkungen der Verpflichtung: »Mit der Trainerverpflichtung taten sich für die Bayern neue Dimensionen auf – finanziell wie sportlich. Für die Aktiven des Bayern-Kaders standen ab sofort wöchentlich fünf Trainingseinheiten auf dem Programm, täglich um 16 Uhr. Bisher hatten sich die Bayern-Kicker lediglich zweimal pro Woche zum Trainingskick getroffen, jetzt sahen sie sich außer mit mehr Training auch noch mit allerlei Übungen konfrontiert, die bisweilen wenig Freude bereiten: Steigerungsläufe bis zu 800 Meter, Dauermärsche über mehrere Stunden, bei jeder Witterung, Übungen mit Hanteln, turnerische Einheiten an den Ringen und am Barren.«
Als der FC Bayern in die Winterpause geht, steht die Mannschaft mit 23:3 Punkten an der Tabellenspitze. In den Wintermonaten wird in einer Reithalle an der Leopoldstraße trainiert – auf Wunsch des Trainers unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Griffiths ist auf die Endrunde zur Deutschen Meisterschaft fokussiert.
Vielleicht war es zu viel des Guten, jedenfalls verlieren die Bayern das erste Spiel nach einer kurzen Winterpause beim FC Pfeil Nürnberg mit 1:2, was den Klub am Ende die Ostkreismeisterschaft und die Teilnahme an der Endrunde zur Deutschen Meisterschaft kostet. Ostkreismeister (und damit faktisch bayerischer Meister) wird die seit April 1911 von William Townley trainierte SpVgg Fürth.
Am 6. April 1912 beschließt eine außerordentliche Mitgliederversammlung des FC Bayern, den Vertrag mit Griffiths aufzulösen.
Landauer holt Townley
Julius Hirsch, der jüdische Nationalspieler, wird in der Saison 1913/14 noch ein weiteres Mal Deutscher Meister. 1913 war er William Townley zur SpVgg Fürth gefolgt. Hirsch erhielt Arbeit bei der vom jüdischen Kommerzienrat Ignaz Bing geführten Firma »Nürnberger Metallwarenfabrik, Gebr. Bing«, ein Unternehmen mit Weltruf und Absatzgebieten in ganz Europa und Übersee. Am 31. Mai 1914 besiegt die SpVgg den VfB Leipzig im letzten Vorkriegs-Endspiel nach Verlängerung mit 3:2. William Townley, im Frankenland als »Begründer der Fußballhochburg Nürnberg-Fürth« und der berühmten »Fürther Schule« gefeiert, ist da schon in München.
Bei den Bayern fungiert inzwischen Kurt Landauer als Präsident, nachdem sich Dr. Angelo Knorr im September 1913 nach Starnberg verabschiedet hat. Der Staatsanwalt hatte Knorr wegen seiner Homosexualität angeklagt. Er wurder erst nach Zahlung einer Kaution von 100.000 RM freigelassen. Verurteilt wurde er nicht. Ein ärztliches Gutachten attestierte ihm Schuldunfähigkeit.
Wenige Jahre nach seinem Klubbeitritt hatte Landauer die Ausbildung nach Italien und Lausanne geführt. 1905 kehrte er zurück nach München, wo er zunächst ins elterliche Geschäft in der Kaufingerstraße eintrat. Unter dem Präsidenten Kurt Landauer wird nun die zwischenzeitlich auf Eis gelegte ambitionierte Trainerpolitik wieder aufgenommen. Am 15. Dezember 1913 unterschreibt mit William Townley der vor dem Ersten Weltkrieg beste und erfolgreichste Trainer im deutschen Fußball beim FC Bayern.
Townleys neuer Arbeitgeber besitzt zu diesem Zeitpunkt bereits den Ruf eines weltoffenen und ambitionierten Klubs, der auch entsprechend zahlen kann. Ansonsten hätte der Engländer Fürth wohl kaum vorzeitig verlassen. Denn bei der Spielvereinigung besaß der »smarte Mann mit Stehkragen, der die Haare streng nach hinten kämmte und in einen Mittelscheitel ordnete« (Chronik SpVgg Fürth), einen Vertrag bis zum 1. Juli 1915; die Ronhöfer allerdings, so die Vereinschronik, wollen Townley »in seinem weiteren Fortkommen nicht schädigen« und lassen ihn zum FC Bayern ziehen.
Erster Weltkrieg
Die Freude über den berühmten Übungsleiter ist nur von kurzer Dauer. Nur wenige Monate nach seinem Amtsantritt muss Townley Deutschland verlassen. Denn mit Ausbruch des Krieges droht dem Engländer die automatische Internierung.
Sein Landsmann Steve Bloomer landet indes in einem Internierungslager in Ruhleben bei Berlin. Bloomer, vor dem Ersten Weltkrieg einer der weltweit besten Spieler (bis heute liegt der Stürmer mit 317 Toren in 536 Erstligaspielen auf Platz drei der »ewigen Torschützenliste« der höchsten englischen Liga), war erst drei Wochen zuvor vom Berliner Klub Britannia 92 als Trainer verpflichtet worden.
Am 28. Juli 1914 hatte Österreich-Ungarn in der Balkankrise Serbien den Krieg erklärt. Am 1. August folgte das Deutsche Reich als Bündnispartner Österreich-Ungarns mit einer Kriegserklärung an Russland. Zwei Tage später, am 3. August, forderten die Deutschen auch noch Frankreich zum Waffengang heraus. Am selben Tag marschierten deutsche Truppen ins neutrale Belgien ein, was England zum Kriegseintritt animierte. Der große Krieg ist Realität, und mit ihm endet Kurt Landauers erste Amtszeit als Präsident des FC Bayern.
Auch viele deutsche Juden folgen mit Begeisterung dem Ruf an die Waffen. Schließlich verspricht der Kaiser, »nur noch Deutsche« zu kennen – »ohne Stammesunterschied, ohne Konfessionsunterschied«. Kaiser Wilhelm II. braucht seine »Kaiserjuden« und ihr finanzielles und geistiges Vermögen. Walter Rathenau, Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau, wird Chef der Kriegsrohstoffabteilung. Albert Ballin, der als Generaldirektor die Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (HAPAG) zur größten Schifffahrtsgesellschaft der Welt ausgebaut hat, bekommt die Zentraleinkaufsgesellschaft übertragen. Ballin gilt als Berater und Freund des Monarchen und wird auch des »Kaisers Reeder« genannt. Der Großvater des späteren Hamburger-SV-Vizepräsidenten Hans Ballin hatte sich zunächst um einen deutsch-englischen Ausgleich bemüht, was aber durch die deutsche Flottenpolitik torpediert wurde. Ballin gehört zu den wenigen, die schon früh die Katastrophe kommen sehen.
Jüdische Emanzipationsbestrebungen und ein »Evangelium der Intoleranz«
In den meisten westeuropäischen Ländern erreichten die Juden ihre Emanzipation in dem Maße, wie der wohlhabende und gebildete Mittelstand zu einem politischen Machtfaktor aufstieg. Nicht so in Deutschland, wo eine richtige bürgerliche Revolution nie stattgefunden hatte.
Ende des 18. Jahrhunderts hatte insbesondere Berlin zumindest auf kultureller Ebene eine Art Symbiose zwischen reichen jüdischen Familien und aufgeklärteren Kreisen der preußischen Aristokratie und des preußischen Mittelstands erlebt. Die preußische Gesellschaft schien die Juden zunehmend zu akzeptieren, eine Entwicklung, die vor allem mit dem Namen Moses Mendelssohn assoziiert wird. Der Freund Lessings wurde zu einer der führenden Persönlichkeiten der deutschen Aufklärung. Mendelssohn glaubte, die Juden könnten dem Antisemitismus dadurch begegnen, dass sie sich aus ihrem geistigen Ghetto befreien, in dem sie seit Jahrhunderten lebten. Die Juden sollten aufhören, sich als eigenes Volk zu betrachten, und die deutsche Kultur annehmen. Außerdem sollten sie ihre Religion von überholten rituellen Formen befreien, um sie als ein Bekenntnis unter anderen akzeptabel zu machen.
Doch in den Jahren nach der napoleonischen Herrschaft über Deutschland wurde selbst in den gebildeten Gesellschaftskreisen die Bereitschaft zur Toleranz gegenüber Juden von patriotischen Gefühlen verdrängt. Den progressiven und kosmopolitischen Anschauungen der Aufklärung wurde nun die Lehre eines integralen Nationalismus mit stark christlicher Beimischung gegenübergestellt. Im Zuge eines rasanten Industrialisierungsprozesses mit schmerzhaften sozialen Verschiebungen und Entwurzelungen erfuhr der Antisemitismus eine neue Konjunktur. Der US-amerikanische Historiker Gordon Craig, der es wie kein anderer seiner Zunft verstand, den Deutschen die Deutschen zu erklären: »Die überlegene Anpassungsfähigkeit der Juden an neue Lebensumstände – die Leichtigkeit, mit der sie sich im Gegensatz zu vielen deutschen Kleinstädtern in das Großstadtleben einfügten – wurde ihnen vorgeworfen und verstärkte den Verdacht, dass sie die soziale Desintegration förderten und von ihr profitierten.«
Juden wurden als Verursacher der Aktienmarktkrise von 1873 denunziert. Da half auch nicht, dass es der jüdische Reichstagsabgeordnete Eduard Lasker gewesen war, der immer wieder auf die Gefahren eines Spekulationsbooms hingewiesen hatte. Und ebenso wenig zählte es, dass noch größeres Unheil durch das energische Eingreifen von jüdischen Bankhäusern wie Bleichröder und Co. verhindert worden war.
Eine neue Art von Antisemitismus betrat nun die Bühne, der die traditionelle christliche Judenfeindschaft rassistisch unterfütterte. Agitatoren wie Eugen Dühring, Paul Lagarde und Wilhelm Marr begründeten das »Undeutschsein« der Juden nun nicht mehr damit, die Juden würden sich dem Christentum verweigern. Vielmehr behaupteten sie, dass Juden von Natur her ein fremdes Element seien. Adolf Stoecker, vom Kaiser zum Hofprediger an den Berliner Dom berufen, versuchte die zur Sozialdemokratie abdriftende Arbeiterschaft durch einen »antikapitalistischen« Antisemitismus für die Kirche zurückzugewinnen. Mit Stoecker wurde der Antisemitismus zu einer politischen Bewegung.
Aber nichts schockierte Deutschlands Juden in diesen Jahren mehr als ein antisemitisches Traktat aus der Feder des zu dieser Zeit prominentesten deutschen Historikers. 1879 veröffentlichte Heinrich von Treitschke in den von ihm selbst herausgegebenen angesehenen »Preußischen Jahrbüchern« einen Artikel unter dem Titel »Unsere Aussichten«, der rhetorisch ausgefeilt und gehässig Deutschlands Juden attackierte. Der Nationalliberale forderte ein »gekräftigtes Nationalgefühl«, das aber mit den Juden nicht zu haben sei. Stattdessen drohe ein »Zeitalter deutsch-jüdischer Mischcultur«, denn aus dem Osten würde »Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine strebsame Schar hosenverkaufender Jünglinge« einwandern, »deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen. In Tausenden deutscher Dörfer sitzt der Jude, der seine Nachbarn wuchernd aufkauft. Am gefährlichsten aber wirkt das unbillige Übergewicht des Judentums in der Tagespresse.« Das Traktat gipfelte in einem Ausruf, der später von den Nazis begierig aufgegriffen wird: »Bis in die Kreise höchster Bildung hinauf (…) ertönt es heute wie aus einem Munde: ›Die Juden sind unser Unglück!‹«
Die folgende hitzige Diskussion ging als »Berliner Antisemitismusstreit« in die Annalen ein. Im »christlichen Lager« war zunächst Treitschkes einziger prominenter Gegenspieler sein Berliner Historikerkollege Theodor Mommsen. Wobei es Mommsen in seinem »Wort über das Judenthum« weniger um die Juden ging als um die Zukunft des deutschen Liberalismus. Während Treitschke den nationalistischen Weg einschlug, trat Mommsen als Verteidiger des »klassischen« Liberalismus auf. So blieb der bittere Nachgeschmack, wie »Zeit«-Autor Uffa Jensen in einem historischen Rückblick konstatiert, »dass sich weder Mommsen noch ein anderer Nichtjude unter den gebildeten Bürgern zum Anwalt ihrer Position, ihrer eigentlichen Emanzipation gemacht hatten. Damit ist eine große Chance vertan worden, ein für alle Mal anzuerkennen, dass Juden Teil des politischen Lebens, der Kultur der Bürger und der deutschen Nation als Ganzes geworden waren – und zwar als Juden.«
Allerdings unterzeichneten ein Jahr später Mommsen und weitere 70 Wissenschaftler, darunter Rudolf Virchow, Rudolf von Gneist und Johan Droysen, eine Erklärung gegen Treitschkes »Evangelium der Intoleranz«, in der sie Antisemitismus, Rassenhass und den »Fanatismus des Mittelalters« geißelten. Der Antisemitismus sei eine »ansteckende Seuche«, eine »künstlich entfachte Leidenschaft der Menge«. Und diese werde »nicht säumen, aus jenem Gerede praktische Konsequenzen zu ziehen«.
Die Debatte ging vorüber, aber die antisemitischen Ressentiments blieben. Im Laufe der 1880er und 1890er Jahre nahm der Antisemitismus vor allem in den deutschen Studentenverbindungen deutlich zu. Die Konservative Partei kündigte 1892 in ihrem Programm den Widerstand gegen »den vielfach sich vordrängenden und zersetzenden jüdischen Einfluss auf unser Volksleben« an, und 1893 saßen im Reichstag immerhin 16 Abgeordnete antisemitischer Splitterparteien.
Die rechtliche Gleichstellung der Juden, wie sie im Wesentlichen mit dem sogenannten Judengesetz von 23. Juni 1847 erfolgt war, blieb von diesen Entwicklungen unberührt. Der Antisemitismus vor 1914 glich mehr, wie Gordon Craig schreibt, »einer hartnäckigen unterschwelligen Infektion, die die Gesundheit des sozialen Organismus nicht ernsthaft gefährdete, sich aber resistent erwies gegenüber allen Versuchen, sie zu überwinden.«
Jüdischer Patriotismus
Der Erste Weltkrieg bietet nun vielen deutschen Juden die Gelegenheit, Vaterlandsliebe unter Beweis zu stellen und ein »Wurzelschlagen im deutschen Wesen« zu belegen. Glaubwürdiger scheint man sein »Deutschsein« kaum demonstrieren zu können: Die christliche Mehrheitsgesellschaft, so hofft man, werde das »jüdische Blutopfer« nach dem Krieg honorieren.
Die bedeutendste Vertretung der deutschen Juden ist der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV), der sich 1893 als Reaktion auf den erstarkenden Antisemitismus im Kaiserreich gebildet hatte. Sein Ziel ist, »die deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens ohne Unterschiede der religiösen und politischen Richtung zu sammeln, um sie in der tatkräftigen Wahrung ihrer staatsbürgerlichen und gesellschaft-lichen Gleichstellung sowie in der unbeirrbaren Pflege deutscher Gesinnung zu bestärken«. Der CV betont die deutsche Volkszugehörigkeit und glaubt an die Möglichkeit einer Synthese von Deutschtum und Judentum. Der zionistischen Auffassung von einer jüdischen Nation mit eigener Geschichte steht man kritisch gegenüber.
Der CV beschwört nun seine Mitglieder: »In schicksalsschwerer Stunde ruft das Vaterland seine Söhne zu den Fahnen. Dass jeder deutsche Jude zu den Opfern an Gut und Boden bereit ist, die die Pflicht erheischt, ist selbstverständlich. Glaubensgenossen! Wir rufen Euch auf, über das Maß der Pflicht hinaus Eure Kräfte dem Vaterland zu widmen.« Auch das national-jüdische Lager macht fürs Vaterland mobil. So heißt es in der Zeitschrift »Der deutsche Zionist«: Wer »gegen Deutschlands Feinde die Waffen führt, handelt nicht nur in Erfüllung einer staatlichen Pflicht, sondern im Bewusstsein, dass er (…) damit zugleich für die eigene Persönlichkeit, die unlöslich im deutschen Wesen Wurzeln geschlagen hat, kämpft, wie jeder andere Deutsche.«
Jüdischer Patriotismus wird zusätzlich dadurch motiviert, dass es gegen das zaristische Russland geht – den Erzfeind, in dem Juden immer wieder Opfer von Pogromen geworden sind. Sogar aus Palästina kommen deutschstämmige Juden herbeigeeilt, um dem »Vaterland« beizustehen.
Landauer an der Front
Für Golo Mann war der gewöhnliche deutsche Jude, ob getauft oder ungetauft, deutsch in seinen Tugenden, deutsch in seinen Lastern, deutsch in Kleidung, Sprache und Manieren, patriotisch und konservativ. Auch für Gordon Craig gab es »nichts Deutscheres als jene jüdischen Geschäftsleute, Ärzte, Anwälte und Gelehrten, die sich 1914 ganz selbstverständlich freiwillig zum Kriegsdienst meldeten«.
Zu ihnen gehört auch Bayerns Präsident Kurt Landauer. Er erlebt den Ersten Weltkrieg im Dienstgrad eines Vizefeldwebels und stellvertretenden Offiziers. Am 23. Juli 1917 bekommt Landauer vom Königlichen Bezirkskommando II München ein Zeugnis ausgestellt, das ihn »nach seinen bürgerlichen und sonstigen Verhältnissen für würdig und geeignet zur Beförderung zum Offizier erachtet«.
Landauer-Neffe Uri Siegel: »Er war in diesem Rang beim Train (eine Art Ausbildungs- und Nachschubkompanie, d. A.), ab 1917 Leutnant bei einer Minenwerfer-Kompanie. Er nahm an Stellungskämpfen an der Somme, Kämpfen an der Aisne und an der Doppelschlacht an der Aisne-Champagne teil. Landauer erhielt den Verdienstorden 4. Klasse mit Schwertern und das EK II.«
Auch Otto Albert Beer, der spätere jüdische Jugendfunktionär des FC Bayern, ist Kriegsfreiwilliger; zuletzt dient er als Leutnant der Reserve. Ebenso Julius Hirsch, Deutschlands zweiter jüdischer Nationalspieler, der das EK II und die Bayerische Dienstauszeichnung verliehen bekommt.
Während der Krieg unter fürchterlichen Opfern auf der Stelle tritt, versucht »Kaiserjude« Albert Ballin seine Kontakte zu nutzen, um die USA vom Kriegseintritt abzuhalten und Kaiser Wilhelm II. zum Verzicht auf einen uneingeschränkten U-Boot-Krieg zu bewegen. Beides scheitert. Am Ende des Krieges gehört Ballin zu den wenigen führenden Kräften Deutschlands, die im Ausland noch als integre Personen betrachtet werden. Auf Wunsch der Obersten Heeresleitung führt er Friedensgespräche mit England. Ebenjene Herren werden später die Dolchstoßlegende strapazieren, derzufolge oppositionelle »vaterlandslose« Zivilisten in der Heimat (sprich: Sozialdemokraten) und das »internationale Judentum« die militärische Niederlage verursacht hätten. Als Albert Ballin 1918 sein diplomatisches und unternehmerisches Lebenswerk zerstört sieht, setzt er seinem Leben mit Gift ein Ende.
Urheber des »Dolchstoß«-Begriffs ist nach Recherchen des Historikers Boris Barth übrigens der spätere langjährige TSV-1860-Funktionär Dr. Ernst Müller-Meiningen, der am 2. November 1918 im Münchner Löwenbräukeller den zur räterepublikanischen Revolution bereiten Zuhörern entgegenruft: »Wir müssten uns vor unseren Kindern und Enkeln schämen, wenn wir der Front in den Rücken fielen und ihr den Dolchstoß versetzten.«
Eine Zählung und ihre Folgen
Die Hoffnungen der deutschen Juden werden also bitter enttäuscht. Je aussichtsloser sich das Kriegsgeschehen für die Deutschen entwickelt, desto stärker wird die Welle des Antisemitismus. 1916 ordnet das Kriegsministerium eine sogenannte Judenzählung im Heer an, angeblich um dem Vorwurf nachzugehen, die Juden drückten sich vor dem Kriegsdienst. Die für die Zählung zuständigen Beamten sind Antisemiten, und de facto bedeutet die Aktion, dass der bisherige Burgfrieden aufgekündigt wird.
Für den Antisemitismus-Forscher Peter Pulzer trug »kein anderer Akt des Krieges mehr dazu bei, die Juden zu entfremden und an ihren Status als Stiefkinder zu erinnern«. Der Militärhistoriker Wolfram Wette sieht in der Zählung eine neue Stufe des Antisemitismus im deutschen Offi-zierskorps, der sich von der Kaiserzeit bis zur Zeit des Nationalsozialismus gehalten und die Verbrechen der Wehrmacht im Osten, besonders ihre Beteiligung am Holocaust, ermöglicht habe.
Unter den deutschen Soldaten, die am Krieg beteiligt waren, befanden sich rund 100.000 Juden, von denen 78 Prozent »Frontdienst« leisteten und etwa 12.000 ums Leben kamen. Mehr als 10.000 waren Freiwillige, fast 30.000 wurden ausgezeichnet, über 19.000 befördert und über 2.000 zu Offizieren ernannt.
Doch die Antisemiten lassen sich durch diese Zahlen nicht beeindrucken. In Schmähschriften wird behauptet, die Juden seien »Drückeberger« gewesen und das »jüdische Blutopfer« habe nicht seinen »pflichtgemäßen Anteil« erreicht. Gordon Craig: »Es war das tragische Dilemma der deutschen Juden, dass sie (…) die Feindseligkeit ihrer Mitbürger umso mehr entfachten, je ähnlicher sie ihnen wurden. (…) Ihre Leistungen und ihre Hingabe (brachten) ihnen nicht die erstrebte Anerkennung ein; und Wohlhabenheit und Bildung, die die Aufklärung als Schlüssel zur Integration betrachtete, nützten ihnen nichts.«
Walther Rathenau hatte bereits 1911 erkannt: »In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Mal voll bewusst wird, dass er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist, und dass keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien können.«
Nach dem Ersten Weltkrieg nimmt der Antisemitismus erst richtig an Fahrt auf – auch und gerade in München. Die Politik des FC Bayern wird dadurch kaum beeinflusst. Der Klub wird sich in den Weimarer Jahren nicht nur einen jüdischen Präsidenten, sondern auch gleich vier jüdische Trainer leisten.