Читать книгу "Lasst uns reden" … über Depression - Dirk Biermann - Страница 8

Оглавление

GEERBT, ERWORBEN ODER SELBST SCHULD?

Eine Annäherung an die Ursachen von Depression

Eine Frage mit der Bitte um eine kurze und präzise Antwort: Welche Ursachen haben Depressionen?

Diese Frage steht anfangs oft im Mittelpunkt, wenn wir mit der Erkrankung Depression konfrontiert sind. Das ist nachvollziehbar, weil der Zustand von Depression so schwer zu fassen ist und wir uns Klarheit und Sicherheit wünschen. Dennoch möchte ich nicht gleich darauf antworten.

Warum nicht?

In erster Linie ist eine Depression da, und sie will behandelt werden. Der Mensch, der unter den depressiven Symptomen leidet, braucht Hilfe und Unterstützung. Anfangs zu isoliert auf die Ursachen depressiven Erlebens zu schauen lenkt von dem ab, was in der konkreten Situation akut gebraucht wird.

Nämlich?

Verständnis, Einfühlungsvermögen und fachkundige Begleitung sowie die sensible, aber beharrliche Ermunterung, aktiv am Genesungsprozess teilzuhaben, so gut es geht. Stellen Sie sich vor, Sie machen eine Kreuzfahrt, und ein Passagier fällt über Bord: Erforschen Sie als Erstes, wie es dazu kommen konnte, ob die Reling zu niedrig war oder ob sich der Mitreisende fahrlässig verhalten hat? Oder werfen Sie ihm möglichst rasch einen Rettungsring zu?

Ein interessantes Bild. Aber es ist Ihnen schon bewusst, dass Sie sich um eine klare Antwort drücken, oder?

Willkommen in der Welt der Depression. Klare Antworten und einheitliche Regeln gelten hier nicht. Dafür ist das Wesen des depressiven Erlebens und Empfindens viel zu individuell und komplex. Das gilt auch für die möglichen Ursachen.

Dann auf der theoretischen Ebene: Können Sie uns sagen, welche Ursachen Depressionen häufig haben?

Man weiß es nicht genau.

Wie bitte?

Sie baten eingangs um eine kurze Antwort. Und um eine präzise. Doch lassen Sie mich zielgerichteter antworten: Um das Phänomen der Depression ranken sich nach wie vor viele Vermutungen und Mutmaßungen. Ist sie erblich? Ist es ein organisches Problem? Oder spielen aktuelle und als belastend eingestufte Lebensereignisse die Hauptrolle? Die Wahrheit liegt nach aktuellem Wissensstand bei einem Sowohl-als-auch. Organische und psychische Vorgänge gehen Hand in Hand und können schon nach kurzer Zeit kaum noch voneinander getrennt beobachtet werden. Genetische Besonderheiten und prägende Kindheitserlebnisse zum Beispiel können die Schwelle für Erschöpfungszustände und Depression senken, hinzu kommt aber immer ein Auslöser wie eine körperliche Erkrankung, ein hormonelles Ungleichgewicht oder ein als belastend eingestuftes Lebensereignis. Bei diesen Ereignissen geht es meist um die Themen »Verlust«, »Misserfolg«, »Überforderung« und »Ausweglosigkeit«. Dauerstress ist auffällig häufig beteiligt. Als Ursache oder Folge verändert sich die Biochemie des Organismus und kann zu einem Ungleichgewicht der Stoffwechselvorgänge im Gehirn, im Darm sowie auf hormoneller Ebene führen. Das hat Einfluss auf die Arbeitsweise unserer Nervensysteme, besonders im Gehirn. Und das wiederum kann depressives Empfinden auslösen oder es vertiefen. Ob Depression in erster Linie eine organische, psychische oder soziale Störung ist, wird noch immer kontrovers diskutiert, ein behandlungsbedürftiger Zustand ist sie auf jeden Fall. Wichtig ist, dass wir unterscheiden lernen, was depressive Symptome verursachen kann, was sie auslösen kann und, vor allem, was sie aufrechterhält. Auf dieser dritten Ebene liegen unsere größten Einflussmöglichkeiten.

Die Depression ist also ein komplexes Geschehen mit verschiedenen Ursachen, Auslösern und Ausdrucksformen?

Nach dem heutigen Stand des Verstehens kann sich depressives Erleben aus biologischen, psychischen oder sozialen Gründen entwickeln. Deshalb wird dieses Ursachenmodell »bio-psycho-sozial« genannt. Es gibt innere und äußere Aspekte, die eng miteinander verzahnt sind und die sich in einer Art Wechselspiel gegenseitig fördern. Dabei bleibt meist unklar, was konkret Ursache, Auslöser und Folge ist.

Depression ausschließlich als Folge eines belastend erlebten Auslösers zu sehen greift also ebenso zu kurz wie die rein biologische Sichtweise, die Depression zum Beispiel allein als Folge eines aus dem Gleichgewicht geratenen Stoffwechsels im Gehirn versteht, auch wenn solche körperlichen Vorgängen im weiteren Verlauf eine Rolle zu spielen scheinen.

Doch selbst wenn es zu besonderen Lebensereignissen kommt oder zu einem biologischen Ungleichgewicht, scheinen manche Menschen über stabile innere und äußere Rahmenbedingungen zu verfügen, die ein depressives Erleben weniger nötig machen.

Wie sehen diese stabilisierenden Faktoren aus?

Positive äußere Rahmenbedingungen sind zum Beispiel Wertschätzung im Beruf und im Privatleben – und ein als tragfähig erlebtes soziales Netz mit wohltuenden Freundschaften, einem angenehmen Kollegenkreis und/oder einer funktionierenden Partnerschaft. Wichtig für die psychische Gesundheit scheint es zu sein, dass das soziale Netz im Ganzen eher positiv bewertet wird, statt dass es Probleme bereitet.

Also im Umkehrschluss der zwischenmenschliche Konflikt als Stressauslöser?

Und Auslöser für depressive Verstimmungen, wenn diese zwischenmenschlichen Konflikte dauerhaft zu heftig sind und die Betroffenen nicht das Gefühl haben, mit dieser schwierigen Situation angemessen umgehen zu können. Sprich, dass ihnen die geeigneten Bewältigungsstrategien fehlen. Das sind ungünstige innere Faktoren für psychische Gesundheit.

Und erneut der Umkehrschluss: Was wären förderliche innere Faktoren für psychische Gesundheit?

Ein gesundes Urvertrauen, ein stabiles Selbstbild sowie die Fähigkeit, Dinge und Menschen akzeptieren zu können, obwohl sie nicht eins zu eins in die gerade aktuelle Weltanschauung passen – das sind Beispiele für stabile innere Faktoren. Ebenso ein guter Kontakt zu sich selbst und seinen Bedürfnissen. Die Fähigkeit des Loslassenkönnens scheint ebenfalls von großer Bedeutung zu sein.

»Du musst nur loslassen, dann ist alles gut« … das hört sich nach Ponyhof an. Das Leben ist aber oft komplizierter.

Auf jeden Fall ist es differenzierter. Die schöne heile Kindheitswelt, die allein aus förderlichen, liebevollen und behüteten Momenten besteht, ist für die meisten von uns tatsächlich Wunschdenken. Das heißt aber nicht, dass jeder Mensch eine schlimme Kindheit hatte, die im Erwachsenenalter mühevoll aufgearbeitet werden muss. Belastende Situationen, emotionale Verletzungen und Erfahrungen von Verlust gehören zum Leben dazu. Sie sind das Leben. Genauso wie die glücklichen Momente. Aber manche Menschen erwischt es schwerer. Deren Rahmenbedingungen machen sie verletzlicher und anfälliger für die Entwicklung depressiven Erlebens.

Was führt zu solch einer Verletzlichkeit für Depression?

Diese Verletzlichkeit für depressives Erleben kann an traumatische Kindheitserfahrungen gekoppelt sein. Hatte ein Mensch in jungen Jahren sehr belastende Erlebnisse, kann dies verhindern oder zumindest erschweren, dass sich ein stabiles Selbstwertgefühl entwickelt. Mit konkreten Auswirkungen für das Thema »Depression«, weil meist wenig Vertrauen besteht, mit schwierigen Situationen umgehen zu können. Dies hat schon früher im Leben nicht geklappt, warum sollte es künftig funktionieren? Die Überzeugung, dass keine geeigneten Bewältigungsstrategien zur Verfügung stehen, wirkt sich direkt auf die Art des Denkens aus und mündet in einer negativen Sicht auf sich selbst und seine eigenen Möglichkeiten, auf die Welt und die Zukunft. Man könnte auch sagen: Ein derart geprägter Mensch ist dem Leben gegenüber grundsätzlich pessimistisch eingestellt. Ungesunde Denkmuster und Verhaltensweisen sind infolge dieser Anschauung erlernt.

Gibt es auch rein körperliche beziehungsweise organische Gründe, die einen Menschen anfälliger für Depressionen machen?

Es gibt genetische Einflussfaktoren, die eine Rolle zu spielen scheinen. Darauf möchte ich später noch eingehen. Auch diese rein körperlichen Voraussetzungen entscheiden über das Ausmaß der Verletzlichkeit für depressives Erleben. Fachleute sprechen übrigens häufig von »Vulnerabilität«, wenn sie die Verletzlichkeit für Depression meinen. Nur für den Fall, dass Ihnen der Ausdruck mal unterkommt.

Es gibt also individuell unterschiedliche Veranlagungen für Depressionen, die sich genetisch bedingen, aber auch auf dem Boden schlimmer Kindheitserfahrungen entwickeln können. Es kommt zu Depressionen, wenn ein Mensch nun mit extremen Erfahrungen oder Situationen konfrontiert wird, die ihm arg zu schaffen machen, und er den Eindruck hat, damit nicht umgehen zu können. Und wenn kein tragfähiges soziales Netz besteht. Kann man das so sagen?

Das ist fast korrekt. Wenn auch mit dem Hinweis, dass es sich dabei um eine stark vereinfachte Zusammenfassung handelt. Nicht einverstanden bin ich mit der Aussage, dass es unter diesen Umständen zwangsläufig zu einer Depression kommt. Es kann sich eine Depression auf diesem Boden entwickeln. Das kommt der Realität näher.

Das sind wirklich komplexe Zusammenhänge. Um wirklich sicherzugehen: Können Sie die aktuellen Erkenntnisse zu den möglichen Ursachen der Depression noch mal in Ihren Worten zusammenfassen?

Depressionen haben keine einfachen Ursachen, sondern entstehen aus sich gegenseitig bedingenden Aspekten. Die genetische Veranlagung und prägende Kindheitserlebnisse können eine Rolle spielen. Ebenso körperliche Erkrankungen und belastende Lebensereignisse. Diese vier Faktoren wirken bei jedem Menschen individuell unterschiedlich ausgeprägt. In ungünstigen Fällen treffen aufgestaute Auslöser auf eine niedrige Depressionsschwelle. Dann können schon für andere Menschen unbedeutende Alltagserlebnisse eine Depression auslösen. Und wiederum andere Menschen bleiben trotz schwerster Schicksalsschläge relativ stabil.

Auch wenn es immer wieder zu beobachten ist, dass Depressionen in manchen Familien gehäuft auftreten, gehen Experten davon aus, dass es die angeborene Depression nicht gibt. Allerdings gibt es genetische Besonderheiten, die vor einer Depression schützen oder sie begünstigen können. Diese jeweilige Veranlagung kann die Depressionsschwelle senken – für die Depression selbst ist sie aber nicht verantwortlich.

Vergleichbar wirken entwicklungshemmende Erfahrungen in der Kindheit wie Verlust, Gewalt, Überforderung oder Vernachlässigung. Diese Belastungssituationen führen zu Dauerstress und schädigen durch die permanente Ausschüttung von Stresshormonen das in der Entwicklung befindliche kindliche Gehirn. Die Fachliteratur spricht von einer biologischen Narbe, die so entsteht. Im Erwachsenenalter reichen verhältnismäßig leichte Stressoren, um bei speziellen Themen den Stresspegel rapide anschwellen zu lassen und zu depressiven Symptomen zu führen. Diese Mechanismen erklären auch, warum der eine Mensch auf eine belastende Situation mit intensivem Stress reagiert, der andere aber gelassen bleibt.

Doch alle bislang skizzierten Ursachenfragmente wirken nicht für sich allein, sondern brauchen einen Auslöser, um die Dynamik von Depression in Gang zu setzen. Auslöser können körperliche Vorgänge sein oder belastend wirkende Lebensereignisse. Zum Beispiel Arbeitsplatzverlust, Scheidung, Tod eines nahen Angehörigen, schwere Erkrankungen oder Unfälle sowie chronische Belastungen wie die Pflege eines Angehörigen, besonders bei Demenz. Oder Dauerstress im Job. Lang anhaltende zwischenmenschliche Konflikte zählen ebenso dazu.

Auch bis dato völlig gesunde Menschen können bei einer entsprechend kritischen Situation mit einer depressiven Verstimmung reagieren. Ausschlaggebend sind neben der Schwere des Ereignisses die individuellen Verarbeitungs- und Bewältigungsmöglichkeiten des Einzelnen. Und das vor dem Hintergrund, inwiefern Dauerstress die körperlichen und psychischen Kräfte bereits aufgezehrt hat.

Nur der Vollständigkeit halber. Gibt es weitere mögliche Ursachen für depressives Erleben?

Ganz konkrete sogar. Depressives Erleben kann sich begleitend zu psychischen Erkrankungen entwickeln, zum Beispiel Sucht, Angst, Panik, Phobien, Zwangserkrankungen oder Essstörungen. Ebenfalls zu beobachten sind Depressionen als Folge eines chronischen Schmerzleidens oder einer schwerwiegenden körperlichen Krankheit wie Krebs, Aids, Schlaganfall, Durchblutungsstörungen im Gehirn und vielen weiteren mehr. Ein gestörter Stoffwechsel, ein entgleister Hormonhaushalt, ein Ungleichgewicht der Darmmikrobiota oder Funktionsstörungen der Schilddrüse können ebenfalls Ursache beziehungsweise daran beteiligt sein.

Sie haben nun schon zweimal das Stichwort »Darm« genannt. Können Depressionen auch im Darm beginnen?

Unser Darm ist ein erstaunliches Organ, das von geschätzt hundert Billionen Bakterien besiedelt sein soll. Neuere Forschungen verfolgen die Idee, dass ein Ungleichgewicht dieser Darmmikrobiota mit einem Zuviel oder Zuwenig an bestimmten Bakterien die Entwicklung von Depression beeinflussen kann. »Darmmikrobiota« ist übrigens die korrekte Bezeichnung anstelle von »Darmflora«.

Aber es heißt doch immer, Depression findet im Kopf statt?

Der Darm und das Gehirn stehen in direkter nervlicher Verbindung. Die Bakterien im Darm produzieren Botenstoffe, die den sogenannten Vagusnerv aktivieren. Über diesen Nerv sendet der Darm Impulse an das Gehirn und umgekehrt. Im Gehirn findet dann die weitere nervliche Verarbeitung auf Grundlage von Physik und Biochemie statt. In der Wissenschaft wird inzwischen vom »Bauchgehirn« als zweitem eigenständigen Gehirn neben dem Kopfgehirn gesprochen. Immerhin verfügt dieses Bauchgehirn über geschätzt hundert Millionen Nervenzellen.

Dann haben Redewendungen wie »Das ist mir auf den Magen geschlagen« also einen viel tieferen Sinn als angenommen?

Exakt. Unsere psychische Verfassung hat im Bauch beziehungsweise Darm oft seinen nervlichen Ursprung und wird über Nervenimpulse, Hormone und auch über das Immunsystem transportiert und im Kopf weiterverarbeitet. Manche Forscher sind sogar der Ansicht, dass das Kopfgehirn bis zu neunzig Prozent seiner Impulse aus der Bauchregion erhält.

Ein anderes angesprochenes Thema: Wie hängen Sucht und die Entwicklung von Depression zusammen?

Depression und Sucht gehen häufig Hand in Hand. Aber oft kann nicht genau festgestellt werden, was zuerst da war: die Sucht oder die Depression.

Zwei unterschiedliche Szenarien sind vorstellbar. Erstens: Depressionstypische Symptome wie Unruhe, Angst oder Panik werden mit Alkohol oder auch Medikamenten gedämpft beziehungsweise per Eigenmedikation selbst behandelt. Das klappt anfangs gut, allerdings muss die Dosis stetig erhöht werden. Daraus kann eine psychische und/oder körperliche Abhängigkeit entstehen. Möglichkeit Nummer zwei: Es besteht eine Abhängigkeit, was als emotional stark belastend erlebt und nicht akzeptiert werden kann, woraus sich möglicherweise eine Depression entwickelt.

Die konkrete Behandlung zielt bei der Kombination von Depression und Sucht oft erst auf Entgiftung und Abstinenz. Erst dann können die vorhandenen Symptome genau angeschaut werden. Andererseits ist zu beachten, dass die Sucht durchaus auch als Schutz eingesetzt wird, um besonders belastende Dinge, für die es scheinbar keine Bewältigungsmechanismen zu geben scheint, nicht an sich herankommen lassen zu müssen.

Gilt das auch für Medikamente?

Sofern das Medikament süchtig machen kann, ja. Beruhigungsmittel, die sogenannten Benzodiazepine, gehören dazu und dürfen kontinuierlich nur wenige Wochen eingenommen werden. Darüber hinaus können einige Medikamente als Nebenwirkung Depressionen auslösen. Das sind meist Präparate, die sich auf den Gehirnstoffwechsel oder den Hormonhaushalt auswirken wie manche Herz-Kreislauf-Mittel, Blutdrucksenker, die Pille oder Antibiotika. Nach Absetzen des Medikaments bilden sich diese Depressionen aber vollkommen zurück.

Schildern Sie doch bitte, was auf dem Weg in die Depression und während ihres Verlaufs konkret mit dem betroffenen Menschen geschieht.

Dies ist auf körperlichen und psychischen Ebenen vielfältig miteinander verzahnt. Es gibt biologisch orientierte Forschungen, die sich mit Botenstoffen im Gehirn und im Darm sowie dem Hormonhaushalt beschäftigen. Und es gibt den Blickwinkel, der das Zustandekommen und den Erhalt depressiven Erlebens als gelerntes Verhalten betrachtet. Jeder dieser Ansätze hat eine eigene Logik. Ich möchte aber noch mal betonen, dass diese beiden Ebenen im weiteren Verlauf depressiven Empfindens kaum noch voneinander getrennt werden können, weil körperliche Vorgänge und eine veränderte Art, zu denken und sich zu verhalten, recht zügig Hand in Hand gehen. Da die sogenannte kognitive Verhaltenstherapie besondere Erfolge bei der Behandlung belastender Effekte depressiven Erlebens verzeichnen kann, lohnt sich jedoch ein intensiverer Blick auf diesen Ansatz.

Aber bitte bleiben Sie verständlich.

Grundlage für jeden verhaltenstherapeutischen Blick auf die Mechanismen depressiven Erlebens sind die Erkenntnisse, wie der Mensch lernt und wie sich dies konkret in Zeiten der Depression äußert. Kurz gesagt: In der depressiven Dynamik werden positive Reize immer weniger, negative Reize immer mehr. Der depressiv erlebende Mensch nimmt alles, was Freude macht und für Gefühle von Glück und Zufriedenheit sorgen könnte, weniger intensiv wahr beziehungsweise interpretiert das Wahrgenommene im Sinne der bereits beschriebenen negativen Sichtweise um. Im Alltag schleicht sich so immer mehr Schwere und Routine ins Leben, der Betroffene orientiert sich zunehmend an den belastend erlebten Pflichten und vernachlässigt darüber vieles, was ihm früher einmal Freude bereitet hat. So kommt es zu einer weiteren Verschiebung: Negative Reize werden verstärkt wahrgenommen, die positiven hingegen seltener. Ein Teufelskreis setzt sich in Bewegung.

Diese Reiztheorie bezieht sich auch auf den Prozess der Aufrechterhaltung von Depression. Anfangs erfährt der depressiv erlebende Mensch viel Aufmerksamkeit und Fürsorge. Die Zuwendung ist groß. Das sind lerntheoretisch betrachtet positive Verstärker, die zu einem sozial geprägten Krankheitsgewinn führen und die Chronifizierung der Symptome fördern können. Mit dieser Chronifizierung erschöpft sich der Elan von Angehörigen und Freunden, die sich aus Frust und Ratlosigkeit zurückziehen, was von den depressiv leidenden Menschen durch die schwarze Brille wahrgenommen und als Zurückweisung und weiteres Zeichen der Wertlosigkeit gewertet wird. Ihr ohnehin angeschlagenes Selbstwertgefühl wird zusätzlich negativ verstärkt.

Depressives Erleben ist in diesem Verständnis also das Ergebnis eines Lernprozesses?

Dieser sogenannte kognitive Theorieansatz spricht von einer erlernten Hilflosigkeit sowie von einer ungesunden Art und Weise der Informationsverarbeitung, die zu einer selbstbeschränkenden Denkweise führt. Beides begünstige die Entwicklung von Depressivität und sorge gleichzeitig für ihre Aufrechterhaltung und Vertiefung.

Verstehe ich das wirklich richtig: Hilflosigkeit lässt sich lernen?

Nach dieser Theorie sind nicht nur die fehlenden positiven Reize das Problem, sondern die wiederkehrende Erfahrung, keine Einflussmöglichkeit zu haben, die als belastend erlebte Situation zu bewältigen. Das wird als »erlernte Hilflosigkeit« bezeichnet. Aus den prägenden Gefühlen von Hilflosigkeit und Ohnmacht resultieren Passivität und Resignation. Effekte, die wiederum die Erwartung zukünftiger Erlebnisse prägen.

Manifestiert sich diese Dynamik, werden sogar Situationen, in denen objektiv eine Handlungsmöglichkeit besteht, als nicht steuerbar bewertet. Dafür verantwortlich ist die menschliche Eigenart der selektiven Wahrnehmung: Wir alle sehen – unterschiedlich ausgeprägt – in erster Linie das, was wir zu sehen glauben beziehungsweise zu sehen erwarten, aber weniger das, was tatsächlich ist. Die persönliche Wahrheit muss nicht immer mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Wer hat nicht schon mal am Realitätssinn seiner Mitmenschen gezweifelt? Oder musste sich selbst solche Vorwürfe gefallen lassen. Natürlich völlig haltlos, was die eigene Person betrifft … aber das ist eine andere Geschichte.

Selektive und subjektive Wahrnehmung prägt unser Dasein. Das führt keineswegs ständig zu depressivem Erleben. Gefährdet sind vielmehr Menschen, die ihre Wahrnehmung mit einer Art »Schuld-Scanner« abtasten. So werden alle Indizien herausgefiltert, die beweisen, dass man an negativen Erfahrungen selbst schuld ist und diese Ereignisse verursacht hat. Auf die Spitze getrieben, dominiert die Überzeugung, dass dieses schuldhafte Versagen bei allen Lebensthemen zutrifft und immer so sein wird. Im Umkehrschluss werden positive Ereignisse als purer Zufall interpretiert, man selbst habe natürlich nichts zum Gelingen beigetragen. Sogar bestandene Prüfungen lassen sich in der Bewertung so zurechtbiegen, dass positive Verstärker ausgeschlossen bleiben.

Im Ergebnis entsteht kaum ein Gefühl für Selbstwirksamkeit, also die Fähigkeit, belastend erlebte Situationen bewältigen zu können, indem sie verändert oder akzeptiert werden. Die Hilflosigkeit ist erlernt.

Und die ungesunde Art zu denken?

Denkprozesse resultieren aus der Art der Informationsverarbeitung. Ich möchte daran erinnern, dass wir uns weiterhin in einem Theoriemodell bewegen, das keinen Anspruch auf absolute Wahrheit hat. Auch wenn es die Realität sehr nachvollziehbar zu beschreiben scheint.

Bei depressiv erlebenden Menschen dominiert demnach eine negative Sicht, die sich auf die eigene Person, die Umwelt und die Zukunft bezieht. Alle Situationen, die eine unterschiedliche Interpretation zulassen, werden nach diesem Schema beurteilt: Ist das Glas halb voll oder halb leer? In Zeiten der Depression ist es meist halb leer.

Um den wahrgenommenen Mangel sich selbst und anderen gegenüber argumentieren zu können, werden unbewusst sogenannte systematische Denkfehler begangen. Das können willkürliche Schlussfolgerungen sein, indem man sich die Schuld für etwas gibt, woran man gar nicht direkt beteiligt war, oder selektive Verallgemeinerungen: Negative Feedbacks zu persönlichen Leistungen und Aktionen werden wahrgenommen, positive oder neutrale hingegen ausgeblendet. Bei der Übergeneralisierung werden negative Aspekte der eigenen Person stark hervorgehoben und ebenso stark verallgemeinert, und bei der Minimierung werden positive Feedbacks, die man von anderen erhält, heruntergespielt oder uminterpretiert, zum Beispiel als unehrlich gemeint bewertet.

Weitere dieser systematischen Denkfehler und Denkverzerrungen werden als »Maximierung« bezeichnet. Dabei werden negative Aspekte stark überbetont. Man tendiert zur Personalisierung: Vieles wird persönlich genommen, statt die Kritik an der Sache zu sehen, und zu verabsolutierendem Schwarz-Weiß-Denken, das in bester Entweder-oder-Manier auf Nuancen und Differenzierung verzichtet.

Wie wirken sich diese Aspekte auf das bio-psycho-soziale Erklärungsmodell aus?

Wer eine genetisch bedingte oder lebensgeschichtlich geprägte Veranlagung zur Entwicklung einer Depression aufweist, reagiert sensibler auf auslösende Faktoren. Diese Sensibilität steigt, je höher die jeweilige Person den emotionalen Wert der Auslöser bewertet. Das wirkt sich auf Verhaltens- und Denkmuster aus. Die Wahrnehmung beginnt sich zu verändern und wird selektiver. Negative Aspekte erfahren größere Beachtung, was die Denkmuster zusätzlich verändert: Im Sinne einer depressiven Triade werden die eigene Person, die Umwelt und die Zukunft negativer betrachtet. Unerfreuliche Ereignisse werden verstärkt am eigenen Versagen festgemacht und positive Erlebnisse ausgeblendet oder heruntergespielt. Die Zahl der negativen Reize steigt, die Zahl der positiven sinkt. Das fördert das depressive Erleben zusätzlich. Eine Dynamik mit sozialem Rückzug, systematischen Denkfehlern und Denkverzerrungen setzt sich in Gang und wirkt wie ein Teufelskreis, der wie auf einer Spirale immer tiefer in Grübelschleifen und in depressives Erleben hineinführen kann.



Подняться наверх