Читать книгу "Lasst uns reden" … über Depression - Dirk Biermann - Страница 9
ОглавлениеUND DANN WURDE MIR DAS ALLES ZU VIEL
Mögliche Auslöser für Depressionen
Das bio-psycho-soziale Modell macht deutlich, dass ein individueller und ineinander verzahnter Ursachen-Mix zu einem depressiven Erleben führen kann. Sind belastende Lebensereignisse als Auslöser stets daran beteiligt?
Auch darüber gehen die Einschätzungen auseinander. Überwiegend besteht in der Fachwelt die Ansicht, dass auslösende Ereignisse von Bedeutung sind. Auslöser für depressives Erleben können klar nachvollziehbare Erlebnisse sein, die als derart belastend bewertet werden, dass sie kurzfristig zu einer depressiven Verstimmung führen. Depressives Erleben kann aber auch Ergebnis von mittel- und langfristigen Entwicklungen sein, wobei das auslösende Moment immer mehr in den Hintergrund tritt und teilweise kaum noch erkennbar ist, wie zum Beispiel bei den Langzeitfolgen traumatischer Kindheitserlebnisse.
Hört sich schon wieder ein wenig nach »Man weiß es nicht genau« an.
Der Mensch ist ein Mysterium. Vielleicht liegt es daran. Dennoch scheint es ratsam, sich mit belastenden Ereignissen als möglichen Auslösern auseinanderzusetzen. Zahlreiche Beispiele aus der Praxis belegen einen direkten Zusammenhang.
Was sind denn typische Auslöser?
Alles, was die Psyche belastet und nicht bewältigt wird, kann zu depressivem Erleben führen. Das hatten wir schon ganz am Anfang dieses Gesprächs festgestellt. Es stellen sich immer die Fragen: Bis wann ist diese Reaktionsweise nachvollziehbar und sogar gesund? Und ab wann sind die Auswirkungen behandlungsbedürftig?
Können Sie konkrete Beispiele nennen? Allem »Sowohl-als-auch« zum Trotz?
Verlustsituationen sind klassisch für ein belastendes Lebensereignis mit dem Potenzial für eine depressive Verstimmung oder sogar für tieferes depressives Erleben. Der Tod des Partners oder naher Angehöriger und Freunde gehört dazu. Aber auch der Verlust durch Trennung und Scheidung oder der Verlust des Arbeitsplatzes. Der Eintritt in den »wohlverdienten Ruhestand« geht mit dem Verlust sozialer Anerkennung und eines geregelten Tagesablaufs einher. Wer in eine fremde Stadt zieht, verliert unter Umständen seine Freunde und Bekannten aus den Augen. In den Wechseljahren haben Mann und Frau mit dem Verlust der Jugendlichkeit zu kämpfen. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Bitte nennen Sie weitere Beispiele.
Lebensbrüche und Umbrüche sind ebenfalls typisch, auch wenn es eine große Schnittmenge mit den Verlusterlebnissen gibt. Wenn Kinder als junge Erwachsene das Haus verlassen, bleiben verlassene Mütter und Väter zurück. Der Umzug im Alter von der eigenen Wohnung in ein Heim, der Eintritt ins Rentenalter. All das kann belasten. Oder Beispiele aus jüngeren Lebensjahren: Die Pubertät bietet etliche mögliche Auslöser für depressives Erleben, der Auszug von daheim in die erste eigene Wohnung ebenfalls. Das Mädchen, das die Entwicklung zur Frau vor lauter Angst nicht zu vollziehen vermag und darauf im ungünstigen Fall mit Essstörungen reagiert, woraus sich wiederum ein depressives Erleben entwickeln kann. Wenn ein Kind die Partnerschaft ergänzt, verändern sich die Rollenanforderungen der jungen Mütter und Väter erheblich. Längere Krankenhausaufenthalte stellen gleichfalls vieles auf den Kopf.
Verlustsituationen, Lebensbrüche … und?
Ständige zwischenmenschliche Konflikte, insbesondere innerhalb der Partnerschaft und der Familie sowie Mobbingsituationen am Arbeitsplatz werden als sehr belastend eingestuft. Was Beziehungsthemen anbetrifft, besonders von Frauen.
Frauen gehen mit ihren Sorgen übrigens bevorzugt nach innen, während Männer auf Frust traditionell mit äußeren Aktionen reagieren wie Wut und Aggressionen oder schnellem Autofahren – oder versuchen, diese unangenehmen Gefühle mit Alkohol zu dämpfen. Das Klischee lässt an dieser Stelle grüßen, dennoch steckt ein Stück Wahrheit in diesen Aussagen. Außerdem wollten Sie konkrete Beispiele.
Richtig. Haben Sie weitere?
Die permanente Sorge um den Arbeitsplatz oder um die Gesundheit, auch massive materielle Sorgen. Die Konfrontation mit akuten, chronischen oder lebensbedrohlichen Krankheiten wie Krebs, Aids oder einer beginnenden Demenz. Permanenter Stress und Erschöpfung, Einsamkeit und Isolation. Stalker-Erlebnisse. Innere Konflikte, wenn man nicht weiß, ob man sich vom Partner trennen oder der Beziehung noch eine Chance geben soll. Wenn Coming-out-Prozesse belasten. Kränkungen und fehlende soziale Anerkennung. Kurz: zahlreiche Situationen, die mit Verlust, Misserfolg und innerer Not zu tun haben.
Belastende Kindheitserlebnisse hatten Sie ebenfalls genannt.
Traumatische Erlebnisse im Zusammenhang mit körperlicher und sexualisierter Gewalt oder Vernachlässigung können ein machtvoller Auslöser sein. Die zerstörerische Energie dieser Erfahrungen sickert häufig erst viele Jahre später ins Bewusstsein und kommt scheinbar wie aus heiterem Himmel.
Scheinbar?
Wenn ein Kind eine zutiefst belastende Erfahrung verdrängen muss, diese quasi von seinem bewussten Erleben abspaltet, bedeutet es ja nicht, dass diese Erfahrung nicht wirkt. Ganz im Gegenteil: Sie wirkt jeden Tag. Den Betroffenen ist es bloß selten bewusst. Und wenn die Erinnerungen Jahre später an die Oberfläche drängen, kommen sie oft mit solch einer Wucht, dass der Organismus die Notbremse zieht. Ja, ziehen muss, weil die damit einhergehenden biologischen Vorgänge sehr direkt wirken und kaum wirksame Bewältigungsstrategien gelernt wurden. Statt Selbstwirksamkeit regiert die erlernte Hilflosigkeit. So greifen die Faktoren ineinander, die wir bislang kennengelernt haben.
Ein simples »Wenn-dann« trifft wahrscheinlich auch bei den Auslösern einer Depression kaum zu, oder?
Grundsätzlich kann alles, was nicht bewältigt wird, eine depressive Verstimmung auslösen. Doch nicht alle Menschen empfinden alles als gleich belastend. Das auslösende Ereignis muss zur Persönlichkeit »passen«, damit es belastend wirkt. So ist also nicht das Ereignis an sich entscheidend, sondern das Wechselspiel zwischen Persönlichkeit und Umwelt. Ein Mensch, der sich zum Beispiel stark von sozialer Anerkennung abhängig fühlt, wird Abweisung, persönlichen Misserfolg oder Kränkung ungleich belastender einstufen als einer, dem Einschätzungen anderer relativ gleichgültig sind. Hingegen kann eine Person, die einen hohen Anspruch an Selbstständigkeit und Autonomie hat und es gewohnt ist, aktiv an die Dinge heranzugehen, alles gern kontrolliert, leistungsbezogen denkt und perfektionistisch ist, einen Verlust des Handlungsspielraums als unerträglich empfinden. Die verpasste Beförderung, Arbeitslosigkeit oder die Pensionierung sind aus dieser Sicht gute Gründe für depressive Symptome. Und wer kennt nicht die ähnlich lautenden Berichte über Leistungssportler, die infolge einer Verletzung von einem Tag auf den anderen alles verloren haben, was ihnen wichtig war und woraus sie Lebenskraft geschöpft hatten?
Ist das immer so?
Das sind zwei Beispiele, die im Fachjargon als »Soziotropie« und »Autonomie« bezeichnet werden. Es handelt sich um bewusst einseitig geschilderte Modelle, die eine grundsätzliche Möglichkeit verdeutlichen sollen. In der Realität haben fast alle Menschen beide Ausdrucksweisen in unterschiedlicher Ausprägung zur Verfügung. Je nach Lebenssituation mal direkter, mal weniger stark ausgeprägt.
Was bedeutet eigentlich »verarbeiten« im Zusammenhang mit belastenden Lebensereignissen?
Solange Ereignisse nicht akzeptiert werden können, ist die daran gekoppelte Energie der Gefühle noch in der längst vergangenen Situation gebunden. Es kommt, plastisch ausgedrückt, zu einer Energieblockade, weil das belastende Ereignis den natürlichen Fluss des Lebens unterbrochen hat, teilweise bis zum Stillstand in manchen Bereichen. Dann wird der Mensch nach wie vor von den belastenden Gefühlen gesteuert, die mit diesem Ereignis zusammenhängen. Bewusst oder unbewusst. Aber die Energie der Gefühle wirkt. Der Umkehrschluss lautet so: Wer ein Ereignis oder eine Erfahrung als zugehörig zu seinem Leben betrachtet und akzeptieren kann, dass es stattgefunden hat, hat das Erlebnis verarbeitet und kann auf seinem Lebensweg weiter voranschreiten. Und dies mit allen seinen Kräften. Es sind ja keine seiner Lebenskräfte in vergangenen Situationen gebunden.
Kann man sagen, warum es manchen Menschen leichter fällt, Erlebnisse zu verarbeiten, und manchen schwerer?
Weil hier das bio-psycho-soziale Erklärungsmodell in allen seinen Facetten zum Tragen kommt. Warum der eine Mensch ein ähnliches Gefühl oder die identische Situation als bedrohlicher bewertet als ein anderer, ist völlig individuell. Dennoch handelt es sich um eine der entscheidenden Fragen bei der Behandlung von Depression. Diese Frage ist Gegenstand einer psychotherapeutischen Behandlung, die im erfolgreichen Fall die depressive Reaktion überflüssig machen kann, weil das, was zuvor abgelehnt und nicht akzeptiert werden konnte, nun in den persönlichen Erfahrungsschatz eingegliedert werden kann.
Also akzeptieren, vergeben und vergessen?
O nein. Ein großes Missverständnis. Zu akzeptieren heißt nicht, dass dadurch alles gut ist und eine große rosa Decke über erlebtes Leid gelegt wird. Ein Lebensereignis zu akzeptieren bedeutet ganz simpel die Anerkennung, dass es stattgefunden hat. Das kann ein enormer Schritt sein. Wenn ich etwas anerkenne, kann ich die damit verbundenen Gefühle zulassen, die so lange an mir gezehrt haben. Dann kommt meine Energie ins Fließen, und es besteht die Möglichkeit, das Geschehen in einen Zusammenhang zu bringen, den ich verstehe. Durch die Akzeptanz hat die belastende Erfahrung die Chance, sich zu verändern, und zwar so, dass ich damit zurechtkommen kann. Akzeptanz ist kein passiver Akt, sondern Ausgangspunkt für stimmiges Handeln im Tun, Nichttun oder Abwarten.
Ist Akzeptanz ein Schlüssel zum Verständnis der Depression?
Das ist eine philosophische Frage, die je nach Weltanschauung unterschiedlich beantwortet werden kann. Ich persönlich glaube, ja. Denn wenn ich etwas partout nicht anerkennen will, entferne ich mich Schritt für Schritt von der Wirklichkeit und damit vom natürlichen Lebensfluss. Wer hat noch nie die Erfahrung gemacht, dass einen das Leben selbst zu nähren scheint, wenn man in Zuversicht und ohne ständige moralische Bewertungen den Entwicklungen folgt, die ungefragt und unaufgeregt auf einen zukommen? Wenn man das, was man nicht direkt beeinflussen kann, anerkennt und akzeptiert, scheint sich vieles wie von allein in die richtige Richtung zu bewegen. Alles, was ich beeinflussen kann, obliegt natürlich weiter meiner Verantwortung. Ebenso wie meine Entscheidungen. Akzeptanz und Verantwortung sind in dieser Anschauung die zwei Seiten der gleichen Medaille.
Womit der erste Schritt zum Loslassen getan ist.
Es bleibt philosophisch: Wenn ich die Verantwortung für meine Entscheidungen im Leben übernehme und bereit bin, das, was ich nicht beeinflussen kann, zu akzeptieren, kann die Erkenntnis wachsen, dass Lernen, Wandel und Wachstum das gesamte Leben prägen und dass Loslassen genauso dazugehört wie das Willkommenheißen.
Eine weitere Medaille mit zwei Seiten.
Wenn wir einen realistischen Blick auf das Leben wagen, stellen wir fest: Das gesamte Leben ist Wandel, Wachstum und Entwicklung. Wir kommen als Säugling auf die Welt und entwickeln uns jeden Tag. Körperlich und geistig. Wenn nichts Gravierendes dazwischenkommt, sterben wir als Greis. In dieser Zeit verändern wir uns ständig und lernen kontinuierlich Neues.
Das Bild vom Leben als Fluss macht dies sehr anschaulich. Ein Fluss lässt sich nicht aufhalten, ohne dass es zu Schwierigkeiten kommt – zu Deichbrüchen und Überflutungen. Aus verschiedenen möglichen Gründen sperren sich manche Menschen gegen Entwicklungsschritte. Sie weigern sich, dem Fluss des Lebens zu folgen. Nicht weil sie schwach oder dumm sind, sondern weil sie mit Situationen konfrontiert sind, die sie gegebenenfalls als zu bedrohlich empfinden, und glauben, keine geeigneten Strategien zu haben, um damit umgehen zu können.
Lebensschwellen verdeutlichen dies oft: Der Wechsel von der Schule in das Berufsleben, der Auszug von zu Hause und der Umzug in eine andere Stadt, die Geburt von Kindern, der Auszug der Kinder … stets werden gewohnte Lebensumstände in ihren Grundfesten erschüttert, plötzlich ist vieles nicht mehr so, wie es einmal war. Ebenfalls beim Verlust des Arbeitsplatzes, bei Trennungen und Todesfällen. Wer innerlich an den alten Zuständen festhält, obwohl sie im Außen nicht mehr vorhanden sind, gerät in Schwierigkeiten. Das ist keine Frage der Weltanschauung, sondern der Realitätsnähe beziehungsweise -ferne. Der Mensch wehrt sich gegen die Veränderung, er will, dass alles beim Alten bleibt, obwohl das Leben rechts und links an ihm vorüberfließt.
Das depressive Erleben mit den typischen Symptomen des Stillstands und der Schwere kann dann eine Möglichkeit des Ausdrucks sein, um sich noch nicht in die unbekannte und beängstigende Situation der Veränderung hineinbegeben zu müssen. Aber natürlich ist es Voraussetzung, dass diese Mechanismen auf einen entsprechenden genetischen, biologischen und lebensgeschichtlichen Boden fallen, damit daraus eine Depression entsteht. Es reagieren ja nicht alle jungen Eltern mit depressiven Symptomen auf die Geburt ihres Kindes.
Ist nicht loslassen zu können ein übergreifendes Phänomen?
Verlust, Misserfolg und gefühlte Ausweglosigkeit treffen den Menschen an seiner verletzlichsten Stelle. Wo diese Aspekte auf starre Muster treffen, entsteht depressives Erleben.
Was verstehen Sie unter starren Mustern?
Eigenschaften wie dogmatisch, perfekt, leistungsbezogen, übergenau, anspruchsvoll gegenüber sich selbst und anderen, überidentifiziert mit beruflichen und privaten Rollen. Starre Muster können zur Überzeugung führen, unbedingt an etwas festhalten zu müssen. Das verhindert die Akzeptanz und die Trauer über den Verlust oder den Misserfolg und macht den Stillstand zum vermeintlichen Überlebensprinzip. Dieser Stillstand wird zwar als belastend erlebt, noch mehr Angst bereitet indes die Ungewissheit des vermuteten Abgrunds, der sich auftäte, wenn man den Verlust und die daraus resultierenden Gefühle zuließe.
Lassen sich weitere Persönlichkeitsmerkmale nennen, die die Entwicklung einer Depression begünstigen?
Die genannten Merkmale lassen depressive Symptome entstehen, weil sie Flexibilität, Akzeptanz und Loslassen erschweren. Ähnlich wirken ein hohes Maß an Selbstkritik, die Schwierigkeit, Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken, sowie ein harscher und inflexibler Anspruch an das eigene Leistungsniveau. Wenn ein belastendes Ereignis auf solche Persönlichkeitsmerkmale trifft, werden aus Tendenzen schnell starre Muster im Verhalten und Denken, die eine Akzeptanz dessen, was ist, immer weniger zulassen.
Aber bitte bedenken Sie stets: Bei Depressionen handelt es sich um eine vorübergehende Störung des Erlebens. Nicht um ein Persönlichkeitsmerkmal.
Gibt es gefährdete Bevölkerungsgruppen?
Geschiedene Menschen sollen statistisch betrachtet ein höheres Risiko haben, auf belastende Lebensereignisse mit depressivem Erleben zu reagieren als verheiratete. Und geschiedene Männer ein höheres als geschiedene Frauen. Die Statistik sagt auch, dass dieses Risiko zusätzlich bei Menschen ansteigt, die in Trennung leben.
Womit erneut ein Zusammenhang von Stress und Depression ins Auge fällt. In diesem Fall ausgelöst durch zwischenmenschliche Konflikte.
Und trotzdem sind es immer Anlagen und Auslöser, die zusammenkommen müssen. Nur Stress allein genügt nicht, um daraus die Notwendigkeit zum depressiven Erleben ableiten zu können. Andererseits kann festgestellt werden, dass unsere Leistungsgesellschaft mit ihrem Perfektionsanspruch grundsätzlich immer mehr belastenden Stress erzeugt. Der sogenannte moderne Mensch scheint den Kontakt zu den natürlichen Rhythmen des Lebens verloren zu haben. Zeiten der Entspannung, des Kräftesammelns, der Reflexion und der Stille werden immer seltener. Das macht uns auch verletzlicher bei belastenden Lebensereignissen.