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Exkurs: Das Bruttoinlandsprodukt

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Erste Versuche, das nationale Einkommen zu schätzen, gehen auf das 17. Jahrhundert in England zurück: William Petty und Gregory King legten die Grundsteine für die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR).

Das bei Weitem bedeutendste Maß für die Stärke einer Volkswirtschaft ist das Bruttoinlandsprodukt, dem wir bereits im Exkurs zur Statistik am Ende von Kapitel 2 begegnet sind. Grob gesagt handelt es sich beim BIP um den in Geld gemessenen Wert aller Güter und Dienstleistungen, die in einem Jahr innerhalb eines Staatsgebietes erwirtschaftet werden. Es wird also gemessen, was in Geld bezahlt wurde und was besteuert wurde. Lebensqualität, die durch Nachbarschaftshilfe, Haushalts- und Kindererziehungsarbeit gewonnen wird sowie Elemente der Schattenwirtschaft gehören nicht dazu.

Das BIP kann über drei verschiedene Wege ermittelt werden: In der Entstehungsrechnung wird die Wertschöpfung aller Produzenten als Differenz zwischen dem Wert der produzierten Waren und Dienstleistungen und dem Vorleistungsverbrauch berechnet, wobei die Gütersteuern hinzugefügt und die Gütersubventionen abgezogen werden. Die Verwendungsrechnung ermittelt das BIP als Summe aus privatem und staatlichem Konsum, Investitionen und Außenbeitrag. Bei der Verteilungsrechnung wird das BIP aus der Summe der Arbeitnehmerentgelte, der Unternehmensgewinne und der Vermögenserträge in der Volkswirtschaft berechnet.

Rechnungswesen ist nicht neutral, es „lässt sich den Zwecken einer Organisation entsprechend formen, was wiederum Einfluss auf die weitere Entwicklung dieser Organisation nehmen kann.“ (Mazzucato, S. 111) Dies können Sie sich verdeutlichen, indem Sie auf Betriebsebene die Grundprinzipien des HGB und diejenigen der amerikanischen Rechnungslegung IFRS gegenüberstellen. Ebenso ist es nicht zeitinvariant. Historisch interessant ist vor allem die Entwicklung der Produktionsgrenze. Der französische Nationalökonom (den Begriff Volkswirt gab es damals noch nicht) Quesnay betrachtete im 18. Jahrhundert zum Beispiel die Landwirtschaft, Fischerei, Jagd und den Bergbau als produktiv, die Haushalte, den Staat und sogar die Industrie hingegen nicht. So wird verständlich, dass der Begriff des Wachstums in der Ökonomie erst im frühen 19. Jahrhundert dauerhaft auftauchte, da Kapital theoretisch unbegrenzt wachsen kann, Boden, der bis dato wichtigste Produktionsfaktor, hingegen naturgemäß beschränkt ist. Die wichtigste Änderung in der VGR fand schließlich in den 1970er Jahren statt, in denen übrigens auch der Goldstandard beerdigt wurde. Erst vor weniger als 50 Jahren wurde begonnen, den Finanzsektor in die Berechnung des BIPs miteinzubeziehen. Davor wurde das Finanzwesen nur als Transformationssektor, der nicht produktiv war, betrachtet.

Beim BIP handelt es sich kurz gesagt um eine „in Entwicklung begriffene gesellschaftliche Konvention [..], die sich weder durch physikalische Gesetzmäßigkeiten noch durch absolute ‚Realitäten‘ definiert, sondern Ideen, Theorien und Ideologien der jeweiligen Ära reflektiert, in der sie entstanden ist.“ (Mazzucato, S. 111)

Nach dem bereits gesehenen (vgl. inbesondere den Exkurs zum täglichen Umgang mit Zahlen und Statistik am Ende von Kapitel 2) ist es schlicht aberwitzig, die Entwicklung bzw. den Zustand einer Volkswirtschaft aus einer einzigen Größe ableiten zu wollen. Maßzahlen, die die Dominanz des BIP bisher aber nicht beeinträchtigten, gibt es reichlich; z.B. den Gini-Index, den Engels-Koeffizienten, den Human Development Index, diverse Glücksindizes und den Better-Life-Index der OECD.

Gegen das BIP werden allerdings noch weitere konzeptionelle Gründe ins Feld geführt:

1 Das BIP enthält Größen, die lediglich Wohlstandseinbußen ausgleichen, obwohl tatsächlich nur beschädigte oder verloren gegangene Bestandswerte wie Schäden an Häusern nach einem Sturm wiederhergestellt wurden.

2 Das BIP erfasst zahlreiche Effekte nicht, die den Wohlstand mitbestimmen. Dies betrifft Umweltverschmutzung wie unbezahlte Arbeit.

3 Für die Berechnung des BIPs ist es egal, ob jemand seine Arbeit mit Freude oder aus Zwang erfüllt.

Die „heilige Kuh“ zeitgenössischer Wirtschaftstheorie und -politik ist indes das Wachstum des Bruttinlandproduktes. Wenn von Wachstum des BIPs geredet bzw. darauf abgestellt wird, stellen sich unmittelbar Fragen, wozu das Wachstum da sein soll und was wachsen soll. Diese Fragen sind unabhängig von Umweltfragen gerade deshalb relevant, weil die materiellen Bedürfnisse der überwiegenden Mehrheit der Menschen in den Industrieländern längst gedeckt sind und die meisten Menschen „von dem Geld, das sie nicht haben, Dinge kaufen, die sie nicht brauchen, um Leuten zu imponieren, die sie nicht mögen.“[42]

Wachstum einer Wirtschaft heißt zuallererst, dass der „Gesamtkuchen“, der aufgeteilt werden kann, größer wird. Das bedeutet etwas vereinfacht, dass es „Akteure“ gibt, die ihr Einkommen erhöhen können, ohne das Einkommen anderer Akteure zu verringern. Es handelt sich somit nicht um ein Nullsummenspiel (s. Exkurs zu Kapitel 8), bei dem der Gewinn eines Akteurs den Verlust eines anderen Akteurs bedingt. In den entwickelten Ländern führte dies bis vor ca. 10–20 Jahren dazu, dass die überwiegende Mehrzahl der Menschen einen im historischem Maßstab gesehen beträchtlichen materiellen Wohlstand genoß, ohne dass die wirklich Reichen etwas hergeben mussten. Auf globaler Ebene führte die Arbeitsteilung dazu, dass ein Großteil der Menschen, die in sich entwickelnden Ländern leben, ihrer vormaligen absoluten Armut entkommen konnten. Die alten Industrieländer konnten somit verfolgen, wie der Rest der Welt wohlhabender wurde, ohne etwas abgeben zu müssen. Damit wurde, jedenfalls für eine gewisse Zeit, technischer Fortschritt mit weitgehender Vollbeschäftigung verbunden. Kurz gesagt hat das Wachstum der vergangenen Jahrzehnte die betroffenen Gesellschaften befriedet.

Auch wenn die Wirtschaft in Deutschland nicht mehr wächst, könnte unser Einkommen längerfristig stabil bleiben oder gar steigen, wenn deutsche Unternehmen auch in Zukunft im Ausland entsprechende Gewinne erwirtschaften und diese wieder nach Deutschland zurückfließen. Die Krux ist allerdings, dass globales Wachstum nötig ist, damit unsere heutige Wirtschaft wie gewohnt funktioniert.

Dass wir uns offensichtlich an einem historischen Wendepunkt befinden, hat zahlreiche bestimmende Faktoren, von denen die sich ändernde Demografie die wichtigste Ursachengruppe darstellt. Wenn in alternden Gesellschaften immer weniger Menschen immer mehr Menschen versorgen müssen, könnte dieses Problem theoretisch durch Wirtschaftswachstum, das dann primär auf Innovationen bzw. technischem Fortschritt basiert, eingehegt werden (s. Kapitel 10). Falls dies nicht gelingt, wird der Gesamtkuchen a priori kleiner und wir stehen, wenn wohl auch nicht zuerst in Deutschland, sehr bald nicht mehr nur vor theoretischen Diskussionen zur Einkommens- und Vermögensverteilung.

Die Glücksforschung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einer interessanten neuen wissenschaftlichen Disziplin im Schnittpunkt von Psychologie, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften entwickelt. Bekanntester Vertreter ist der Schweizer Professor Bruno Frey. Außer Frage steht dabei, dass Glück schwer messbar und damit international auch schwer vergleichbar ist. Rankings, in denen die Schweiz, Bhutan oder verschiedene Südseeinseln auf den Spitzenplätzen rangieren, bedienen somit offensichtlich die Wünsche ihrer Empfänger.

Glück oder das Streben nach Glück ist westliches Denken. Die berühmteste Festlegung finden wir in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: Dass „the pursuit of happiness“ zu den selbstverständlichen Wahrheiten gehöre. Etwas auch nur ansatzweise Vergleichbares findet sich im Konfuzianismus nicht.

Bekannt ist, dass eine gute Bildung, lange Lebenserwartung, gute Gesundheitsversorgung und materieller Wohlstand noch lange nicht glücklich machen. Das „Paradebeispiel“ dafür ist Japan: Während sich das Bruttoinlandprodukt per capita von 1958 bis 1991 in etwa versiebenfacht hatte, ging die life satisfaction bei geringen Schwankungen sogar leicht zurück.1[43]

Dies geht sogar weiter als das sogenannte Easterlin-Paradox, das „nur“ besagt, dass die Erhöhung des BIP ab einer gewissen Schwelle nicht mehr mit einer Verbesserung des Glücksgefühls einhergeht. Dies ist auch nicht wirklich überraschend, da „glücklich sein“ schlecht gesteigert werden kann.

Der große griechische Philosoph Aristoteles entwarf in seiner Tugendethik keine Regeln, sondern er stellte auf Haltungen ab. Sind diese Haltungen tugendhaft, stellt sich Glück von allein ein. Hier war ihm John Maynard Keynes ca. 2300 Jahre später mit seinem Wunsch nach einem guten Leben sehr nah.

Das Problem liegt wie so oft in den Begriffen; was also Glück ist bzw. besser was darunter verstanden wird. Ist der Wunsch nach „größtmöglichem Glück“, wie Keynes glaubte, ein vernünftiges politisches oder eher ein ethisches Prinzip, wie der Philosoph David Hume (1711–1776) es darlegte? Erinnern Sie sich hieran, wenn wir in Kapitel 13 das mehr als 2000 Jahre existierende Ideal der alten wie der heutigen Chinesen, Harmonie zwischen Himmel und Erde zu erreichen, besprechen werden.

Sehr empfohlen sei Ihnen an dieser Stelle ein weiteres Vater-und-Sohn-Buch: Robert und Edward Skidelskys „Wie viel ist genug: Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens“. Das Buch wurde in seinem Erscheinungsjahr 2012, zum Höhepunkt der Finanzkrise, sehr wohlwollend aufgenommen, geriet aber mit zunehmender Erholung der Weltwirtschaft wieder schnell in Vergessenheit. Ebenso ist von den bereits erwähnten „Rufen“ nach einer besseren Volkswirtschaftsausbildung an den Hochschulen nur punktuell etwas geblieben.

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