Читать книгу Behandlung von chronischen Schmerzen mit dem Biokinematik Therapiekonzept. Körperliche Fitness und Beweglichkeit zurückgewinnen – muskulär bedingte Fehlfunktionen und Arthrose vermeiden - Dirk Ohlsen - Страница 5

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Die Bewegung des Körpers und die Bedeutung der Muskulatur

Zur Bewegung benötigt der Mensch Bausteine, die sich verkürzen und verlängern können – die Muskeln. Sie stellen als Struktur die größte Masse des Körpers dar und sind in Summe der größte Energieverbraucher. Der Anteil von Muskeln am Gesamtgewicht beträgt bei einer Frau etwa 27-43% und beim Mann etwa 37-57%. Knochen machen nur etwa 12-15% des Körpergewichts aus. Muskeln arbeiten in praktisch allen inneren Organen, wie Herz oder Darm. Lediglich die Milz ist hiervon ausgenommen.

Aus didaktischen Gründen wird nachfolgend von den „Muskeln“ gesprochen, obwohl es sich in Wirklichkeit um eine wesentlich komplexere Struktur aus Muskeln, umhüllendes und durchziehendes Bindegewebe sowie Sehnen handelt, die den Körper als Fasziennetz verbunden durchlaufen.

In diesem Buch werden etwas differenzierter aktiv bewegende und passiv bewegte Körperstrukturen unterschieden. Aktiv bewegend sind hier die Muskeln im eigentlichen Sinne, die stark durchblutet sind und die sich wie eine Art Teleskopstange unter Energieverbrauch entweder zusammen- oder auseinander bewegen können. Die von der Aktivität der Muskeln bewegten passiven Strukturen sind im Wesentlichen die Sehnen, Bänder und Knochen. Eine Sonderrolle nimmt das den ganzen Körper durchziehende fasziale Bindegewebe ein, das ebenfalls eine gewisse Eigenaktivität hat. Diese Aktivität ist im Vergleich zum Energieverbrauch der Muskulatur eher gering – sie spielt jedoch u.a. bei Unfallverletzungen und Überdehnungen eine überaus wichtige Rolle.

Grundsätzlich sollte bei inneren Erkrankungen oder chronischen Schmerzzuständen immer ein Zusammenhang mit der Muskulatur in Betracht gezogen werden. Übergroße Muskelverspannungen und Muskel-FUNKTIONSDEFIZITE können zahlreiche Probleme hervorbringen. Doch die Muskulatur ist vielleicht die von der Medizinwissenschaft und den Ärzten immer noch am meisten vernachlässigte Struktur im Körper. Ihr Zustand kann qualitativ hochwertig nur durch körperliche Untersuchung/Tastbefund und über die Prüfung der Beweglichkeit/Muskelfunktion analysiert werden. Dagegen liefern technische oder bildgebende Diagnoseverfahren, wie Kernspintomographie oder Ultraschall unzureichende Ergebnisse. Daher besteht die grundsätzliche Gefahr, dass mit Hilfe derartiger radiologischer Bilder vermeintliche Ursachen diagnostiziert werden, die entweder überhaupt nichts mit den Beschwerden zu tun haben oder die erst die Folge einer muskulären Funktionseinschränkung über längere Zeit hinweg sind. Wenn allein aufgrund eines bildgebenden Verfahrens am Ende dann die Notwendigkeit einer Operation abgeleitet wird, entstehen Gefahren für den Patienten. Selbst die deutschen Krankenkassen sind heute bereits der Meinung, dass am Bewegungsapparat zu viel unnütz operiert wird.

Für viele Ärzte sind die Muskeln leider etwas mehr oder weniger Unwichtiges, zumindest was Therapieoptionen anbelangt. Orthopäden schauen beispielsweise nur wenig auf die Muskulatur, sondern nehmen vor allem Knochen, Knorpel und Bandapparate ins Visier und sehen diese als Ursache von Problemen an. Die hier sichtbaren Effekte sind oftmals nicht Ursache der Erkrankungen, sondern ein nachfolgendes Ereignis – ausgelöst durch körperliche Anpassungsvorgänge. Die im Bereich der Behandlung von Schmerzen ebenfalls häufig konsultierten Neurologen betrachten besonders Nerven als Ursache und berücksichtigen Muskeln ebenfalls kaum. Die Sportmedizin betrachtet Muskeln genauer, legt den Schwerpunkt jedoch auf die Erzielung sportlicher Höchstleistungen und weitaus weniger auf chronische Erkrankungen des Bewegungsapparates. Ganz generell wird in der Medizinwissenschaft derzeit mehr die Kraft als die Beweglichkeit der Muskeln in Augenschein genommen. Im weiteren Verlauf dieses Buch wird daher auch der Nutzen von isolierter Kräftigung von Muskeln in Frage gestellt werden. Kräftigungs- oder Stärkungsprogramme sind bei chronischen Schmerzproblemen mit muskulärer Ursache nur in wenigen Fällen wirklich sinnvoll, da sie die meist bereits stark eingeschränkte Beweglichkeit noch weiter reduzieren. Ein Betroffener bleibt daher oft Dauerpatient und die Statistiken zum Wachstum von chronischen Schmerzzuständen (+3-5% pro Jahr) untermauern diese Sichtweise.

Leider scheint weltweit die überwiegende Anzahl der Menschen unter Verspannungen oder muskulären Schmerzproblemen zu leiden, ohne dass von medizinischer Seite die wirkliche Ursache gefunden werden kann. Oftmals kommt es deshalb zu langwierigen Therapieversuchen an der falschen Stelle. Manchmal werden Betroffene auch mit der Diagnose „eingebildeter Schmerz“ und der Empfehlung von Psychopharmaka nach Hause geschickt. Häufig wird es auch als „altersbedingtes Leiden“ eingestuft, bei dem therapeutisch nichts mehr unternommen werden kann.

In derartigen Fällen wäre ein fürsorglicheres Vorgehen, welches kreativ andere, auch muskuläre Ursachen in Erwägung zieht, sicherlich zu befürworten. Da der Körper permanent auf die Aufrechterhaltung seiner Gesundheit achtet, muss in Wirklichkeit eine tieferliegende Ursache für das Bestehen der Schmerzprobleme vorliegen. Diese sollte gesucht und gefunden werden, anstatt lediglich die Symptome beispielsweise mit Medikamenten oder Operationen zu bekämpfen. Derartige Interventionen zur Behandlung von chronischem Schmerz haben nur selten auf Dauer ihre Berechtigung.

Das Zusammenspiel von Muskeln

Sofern im Körper eine Bewegung durchgeführt wird, sind daran immer mindestens zwei Muskeln involviert. Die meisten Muskeln sind über Sehnen mit jeweils zwei Knochen verbunden. Zusammen mit einem Gelenk bildet sich so die kleinste funktionierende Bewegungseinheit des Körpers. Während der eine Muskel sich nun zusammenzieht, muss der andere Muskel im gleichen Umfang und genauso gleichmäßig nachlassen. Diese Synchronizität ist von entscheidender Bedeutung, um eine harmonische Bewegung, bei der ein Gelenk nicht überbelastet wird, überhaupt erst zu ermöglichen.

Diese zwei Muskeln werden jeweils als Spieler (Agonist) und Gegenspieler (Antagonist) bezeichnet. Vom Aufbau her betrachtet besteht jeder dieser Muskeln aus vielen einzelnen Muskelfaserbündeln. Während einer Bewegung werden abwechselnd bestimmte Muskelfasern des Spielers zusammengezogen, während die genau entgegen stehenden Muskelfasern des Gegenspielers gleichzeitig nachlassen müssen. So ergibt sich eine hochkomplexe Bewegungsbahn, die geometrisch genau definiert ist. Beide Muskelgruppen – sowohl der Agonist als auch der Antagonist – verbrauchen während der Bewegung Energie (ATP). Hierbei kommen in der Natur sowohl einfache lineare, als auch genau kreisförmige Bewegungen niemals vor. Dreidimensional betrachtet handelt es sich bei Lebewesen immer um spiralförmige Bewegungsmuster, die praktisch ohne Wirkungsgradverluste arbeiten. Dies steht im Gegensatz zur Ingenieurskunst, in der meist auf lineare und kreisförmige Bahnen zurückgegriffen wird. Hier treten immer Wirkungsgradverluste und Reibungskräfte auf. Die Natur des Menschen ist daher weitaus perfekter. Ein wichtiger Aspekt, warum der Körper nicht einfach mit einer Maschine verglichen werden darf.

Die gesamte Struktur von über 600 Muskeln ist von Bindegewebsfasern umgeben und durchzogen, deren wichtige Bedeutung erst langsam erforscht wird. Zahlreiche Wissenschaftler gehen mittlerweile davon aus, dass dieses System über eigenständige Kommunikationswege verfügt, die noch nicht einmal auf Nervenbahnen angewiesen sind. Dieses Faszien-Gewebe, das den ganzen Körper durchzieht, wird ausschließlich vom Unterbewusstsein gesteuert. Es kann als ein eigenständiges Organsystem im Körper angesehen werden, dass die Bewegung und Steuerung des Körpers unterstützt. Auch bei Unfällen wird es relevant, denn es kann sich beispielsweise blitzschnell reflexartig verhärten, um die Verletzung von Knochen oder anderen Geweben zu vermeiden. Ein Mensch könnte im Notfall mit dem logischen Verstand und anschließender, zeitverzögerter Reaktion niemals blitzartig eine Entscheidung treffen, um Schaden von seinem Körper abzuwenden.

So nützlich dieser Schutzreflex des Bindegewebes ist – bei chronischen Schmerzzuständen spielt er oft eine Hauptrolle und sollte deshalb intensiv in eine Behandlung miteinbezogen werden. In vielen Fällen sind sogar ein früherer Unfallschock und heutige, fasziale Gewebespannung in diesem Körperbereich miteinander „verknüpft“.

Darüber hinaus kann die Betrachtung der Muskeln und des Fasziengewebes als ein untrennbar miteinander verbundenes Bewegungssystem erklären, warum viele Schmerzen und Beschwerden weit ab von der eigentlichen Problemstelle entfernt liegen können. In der Schmerztherapie kann dieser Zusammenhang, der oft auch als Muskelketten-Denken bezeichnet wird, sehr zielführend sein.

So kann beispielsweise ein Knieschmerz seine wirkliche Ursache in den Muskelstrukturen der Fußsohle haben. Funktional sind Muskeln also miteinander verbundene Strukturen (Muskelketten), die den Körper von unten bis oben durchziehen und wo ähnlich wie im Staffellauf permanent Kräfte von einem Muskelfaserbündel auf das nächste übergeben werden. Hierbei beginnt jede Bewegungsbahn prinzipiell am ersten Halswirbel (Atlas) als Aufhängepunkt und endet in den Händen bzw. den Füßen. Die Knochen sind Teil dieser Bewegungsbahn, was sich über ihre Spannungslinien (Spongiosa Struktur) leicht nachvollziehen lässt.

Dieses komplexe Zusammenspiel geschieht unmerklich und wird vom Unterbewusstsein gesteuert. Grundsätzlich spürt man eine funktionsfähige Muskulatur nicht – erst die Auswirkungen von Störungen können als Grobmotorigkeit, Schmerz, Kribbeln, Taubheit, Missempfindungen oder auch Lähmungen bewusst werden. Derartige Symptome können daher grundsätzlich eine muskuläre Ursache haben und dürfen daher medizinisch nicht pauschal einer Nervenstörung zugeschrieben werden.

Für das synchrone Zusammenspiel der Muskulatur ist es erforderlich, dass der Körper in den jeweiligen Einzelfasern Signalgeber (Rezeptoren) hat, die dem Unterbewusstsein permanent mitteilen, wie der jeweilige Spannungszustand eines Muskelfaserbündels zu einem bestimmten Zeitpunkt ist. Die hierbei an das Gehirn zu übertragende Datenmenge pro Sekunde ist unbeschreiblich hoch – die Anzahl derartiger Messfühler wird auf über 10.000 geschätzt. Die Wissenschaftler nennen diese Sensoren u.a. „Propriozeptoren“ (u.a. Golgi, Ruffini, Pacini). Deren Informationen sind beispielsweise notwendig, um überhaupt das Gleichgewicht halten zu können. Denn das Gehirn verknüpft diese Daten mit den Informationen aus den Gleichgewichtsorganen des Innenohrs und berechnet so die Lage des Körpers im Raum. Anschließend steuert es dann blitzschnell alle jeweiligen Muskeln so an, dass der Mensch in der Balance bleibt. Bei jedem Ein- und Ausatmen oder mit jeder Kopfbewegung ist eine Anpassung in der Fußmuskulatur nötig. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass es weniger um die Betrachtung einzelner Muskelfasern geht, sondern um die Steuerung der gesamten Muskelketten durchgehend vom Kopf bis zum Fuß. Dies zeigt, warum es einige Zeit dauert, bis das Laufen gelernt wurde und welche Perfektion sich hinter artistischen Höchstleistungen auf unterbewusster Steuerungsebene verbirgt.

Behandlung von chronischen Schmerzen mit dem Biokinematik Therapiekonzept. Körperliche Fitness und Beweglichkeit zurückgewinnen – muskulär bedingte Fehlfunktionen und Arthrose vermeiden

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