Читать книгу Fettnäpfchenführer Köln - Dirk Udelhoven - Страница 12
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EIN HALBES HÄHNCHEN BITTE
ODER: ALLES KÄSE IN KÖLN
Kaum ist Stefan von der Arbeit zurück, platzt es aus Ulla auch schon heraus. Wie sie einem frechen Brauhauskellner die Meinung gesagt hat. Während sie redet, breitet sich auf Stefans Gesicht ein Grinsen aus. Hallo? Was gibt es denn da zu lachen?
Statt es Ulla zu erklären, will er es ihr lieber zeigen. Direkt vor Ort in einem Brauhaus. Schließlich haben sie beide auch noch nicht gegessen, und so kann man zwei, wenn nicht drei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ulla erfährt Kölner Brauchtum, sättigt ihren Hunger und lernt die typisch kölsche Küche kennen. Da sagt sie nicht nein.
FUTTERN WIE BEI MUTTERN
Die Kölner*innen sind im Grund ihres Wesens einfache, liebenswerte Zeitgenoss*innen mit Sinn für – durchaus auch deftigen – Humor. Wie der Mensch, so sein kulinarischer Geschmack. Die Kölner*innen mögen es geradeheraus, ohne viel Schnickschnack. Regional direkt vom Bauern oder von den Märkten kommen landwirtschaftliche Produkte wie Gemüse, Milch, Butter, Käse, Eier, Fleisch auf den Tisch.
Aber auch Fisch findet sich in den hiesigen Küchen. Zum Beispiel Seefisch wie Matjes bzw. Hering und gerne auch Muscheln, also Miesmuscheln in Weißwein mit Suppengemüse gekocht, klassisch rheinisch mit Schwarzbrot und Butter serviert. Das liegt an der Nähe zur niederländischen Küste. Aber auch Väterchen Rhein spielt seine Rolle. Vor der Industrialisierung wurden viele Süßwasserfischarten im Rhein gefangen. Geangelt wird auch heute noch in Kölle. Doch nur im Hobbybereich. Aale, Barben, Barsche, Karpfen, Zander und einige mehr soll es geben.
Der Rhein hat auch noch aus einem anderen Grund für Kölns kulinarische Bedeutung gesorgt. Seit dem Mittelalter war die Stadt im Besitz des Stapelrechts. Alle Schiffe, die Köln passierten, mussten hier anlegen und ihre Waren für eine bestimmte Zeit abladen und stapeln. Die Bevölkerung durfte die Waren kaufen. Bereits damals wurde genau hier der Trend zur Fusionsküche gelegt. Fremde Kocheinflüsse hielten Einzug in Kölner Küchen.
Erst mal aus der Nachbarschaft, die Niederlande waren nah. Von dort schwappten die Heringe herüber: geräuchert oder eingelegt wie der Matjes-Hering, der Heringsstipp oder Hering nach Hausfrauenart, ein in Sahne eingelegter Hering.
Aus Westfalen übernahm man die deftige Zubereitungsart, aus dem Bergischen Land Backwaren und die sogenannte Bergische Kaffeetafel. Da kommen süße und herzhafte Speisen auf den Tisch: Schwarz- und Graubrot, Hefeblatz, süße Aufstriche, Wurst und Schinken. Ein absolutes Muss: Bergische Waffeln mit heißen Kirschen und Sahne. Getrunken wird natürlich Kaffee und zum Abschluss gern noch ein Korn.
Was viele vielleicht auch nicht wissen: Das älteste erhaltene römische Kochbuch aus dem 3. oder 4. Jahrhundert wurde hier geschrieben. Also mitgeschrieben. Denn Marcus Gavius Apicius, einer der mutmaßlichen Autoren, lebte im heutigen Köln. Das Buch heißt De re coquinaria. Und für alle Nicht-Lateiner die Übersetzung: »Über die Kochkunst.« Apicius selbst steuerte typische Gerichte aus Köln und dem Umland bei.
Gesagt und schon getan. Anders als am Vormittag ist das Brauhaus jetzt rappelvoll. Der Lärmpegel pendelt im mittleren Hörschadenbereich. Logisch, die vielen Leute an den großen Tischen wollen ja nicht nur trinken und essen, sondern sich auch unterhalten. Und das geht nur, wenn sie sich verstehen. Entsprechend laut reden oder, besser gesagt, schreien sie sich an.
Ulla liebt es. Die Atmosphäre brodelt. Ein Gewusel sondergleichen. Bunt gemischt das Publikum. Jung und Alt, arm und reich, Touris, Immis und Kölner*innen. Dazwischen wirbeln Köbesse mit ihren Tabletts. Die Tabletts heißen hier Kränze, weil sie kranzrund sind. Meistens aus Kunststoff mit eingestanzten Öffnungen, passend jeweils für ein Kölschglas.
Obwohl das Brauhaus riesig ist, bezweifelt Ulla, dass sie einen Platz finden werden, sonst würden die vielen Leute hier doch nicht Kölsch trinkend rumstehen. Doch Stefan marschiert bereits zuversichtlich vornweg. Es geht vom Schankbereich in den ersten Gastbereich, um eine Ecke in den nächsten und so weiter. Ein freier Tisch? Weit und breit nicht in Sicht. Aber Stefan scheint das Offensichtliche nicht wahrhaben zu wollen. Suchend blickt er sich um. Was Ulla nicht weiß: Er sucht keinen freien Tisch, sondern ein freies Fleckchen an einem besetzten Tisch. Aber selbst da ist es eng.
Jetzt kommt der Köbes ins Spiel. Er nimmt Stefan und Ulla ins Visier, hebt zwei Finger, und auf Stefans Nicken bedeutet er ihnen: Folgt mir. Nicht lange fackeln. Der Köbes eilt beherzten Schrittes durch die engen Stuhlreihen, bleibt an einem voll besetzten Tisch stehen und ruft: »Levve Lück. Ovends danze und springe und morjends de Botz net finge.« (Abends tanzen und springen und morgens die Hose nicht finden.) Eine kölsche Aufforderung, dass es höchste Zeit ist, den Platz zu räumen. Die Gäste lachen schallend und erheben sich. Bezahlt beim Köbes haben sie bereits, denn sie wollten wirklich gehen.
Ulla und Stefan setzen sich und haben auch schon ein frisches Kölsch vor sich stehen. Ulla blättert in der Speisekarte. Hier, das ahnt Ulla schon, heißt sie natürlich nicht Speisekarte, sondern: Kölsche Fooderkaart. Ulla hat Bärenhunger. Bären gibt es nicht, aber der Halve Hahn reizt sie.
»Wirklich?«, hakt Stefan nach.
Ulla weiß selbst, dass Fettiges, besonders am Abend, schwer im Magen liegt. Trotzdem: Sie hat Heißhunger auf ein halbes Hähnchen.
Leck mich en de Täsch, wat für ’n Malör
Nur leider bekommt Ulla kein halbes Brathähnchen, sondern ein dunkles Roggenbrötchen, was in Köln unter Röggelchen läuft, eine dicke Scheibe mittelalten Gouda, Zwiebelringe, Butter und Senf.
Wieso der Halve Hahn Halve Hahn heißt, weiß man nicht genau. Aber wie immer in Köln kursieren dazu diverse Legenden.
Eine geht so: Auf einer Hochzeit in einem Wirtshaus sollten alle Gäste ein halbes Brathähnchen bekommen. Nur leider hatte sich der Gastgeber mit den Kosten übernommen, was ihm immerhin frühzeitig auffiel. Er bat den Wirt um eine Alternative. Das Budget reichte allerdings nur für Käsebrötchen. So gab es statt der halben Hähnchen Käsebrötchen. Die wurden kurzerhand Halver Hahn genannt.
Nach einer anderen Legende servierte ein Wirt seinem Gast ein ganzes Roggenbrötchen mit Käse, woraufhin der Gast sagte: »Ääver isch will doch bloß ne halve han.« (Aber ich möchte doch bloß ein halbes haben.) Der Wirt teilte das Roggenbrötchen und taufte das Gericht: Halve Hahn.
Eine dritte Version kommt aus der Kriegszeit. Käse war damals billig, Brot teuer. Deshalb hörten die Wirte oft: »Kann ich och ne halve han?« (Kann ich auch ein halbes haben?)
Schwaadschnüss
Natürlich hat die kölsche Fooderkaart nicht nur den Halven Hahn zu bieten. Typisches Kennzeichen der Spezialitäten: angeberische Bezeichnungen für simple Gerichte. Wie zum Beispiel beim Kölschen Kaviar. Mit echtem Kaviar hat der nämlich rein gar nichts zu tun. Noch nicht mal mit dem Kaviarersatz, Fischrogen. Kölscher Kaviar ist schlicht und einfach Blutwurst. Auf Kölsch nennt man die Blutwurst aber Flönz oder Blotwoosch. Serviert wird der Kaviar mit den bereits bekannten Beilagen: Röggelchen, Senf und Zwiebelringe. Auf Kölsch heißen die Beilagen: »Röggelsche, Mostert un Musik.« Musik steht für Zwiebel, auf Kölsch Öllich. Musik, weil sich nach dem Öllich-Verzehr Magen und Darm gern auf die eine oder andere Weise bemerkbar machen. Woher die Bezeichnung Kölscher Kaviar kommt? Das liegt im Auge der Betrachter*innen.
Auf der Fooderkaart darf nicht fehlen: Himmel un Ääd (Himmel und Erde). Das Gericht soll es bereits seit dem 18. Jahrhundert geben. Kross gebratene Blutwurstscheiben, geröstete Zwiebeln, Apfelmus und Kartoffelstampf. Wieso der Name? Ganz profan: Kartoffeln, die hier Äädappel heißen, also Erdapfel, kommen aus der Erde. Die Äpfel oder auf Kölsch Appel, vom Apfelmus, wachsen an Bäumen, also quasi am Himmel.
Auf jeder Fooderkaart steht außerdem der Rheinische Sauerbraten, auf Kölsch der Soorbrode. Sein Hauptbestandteil könnte allerdings auf Ablehnung stoßen. Das Fleisch stammt vom Pferd. Wegen der Vorbehalte vieler Menschen kochen die meisten Restaurants das Gericht aber aus Rindfleisch. Dabei passt Pferdefleisch mit seiner süßlichen Note optimal zum süß-säuerlichen Essen. Das Fleisch wird stundenlang geschmort. Dem Sud werden anschließend Rosinen und zerbröselte Aachener Printen beigefügt und alles mit Rübensaft, Salz und Pfeffer abgeschmeckt. Fertig. Als Beilage gibt es diesmal kein Röggelchen mit Senf und Zwiebeln, sondern Kartoffelklöße und Apfelmus.
Auch auf der Fooderkaart: Eisbein, auf Kölsch Hämmche. Das gepökelte Eisbein vom Ferkel wird gekocht und mit Sauerkraut, auf Kölsch suure Kappes, serviert. Der Name Hämmche kommt aus dem Englischen: ham für Schinken. Auf kölsche Lesart ist ham der große Schinken oder jruße Schinke, wie man hier sagt, und Hämmche der kleine Schinken oder kleene Schinke.
Last but not least auf der Fooderkaart: Reibekuchen, der Rievkooche. Liebste Beilage der Kölner*innen: Apfelmus und Schwarzbrot.
Übrigens: Weil die Kölner*innen große Enttäuschungen von Immis und Touris vermeiden wollen, haben die meisten Fooderkaarten eine hochdeutsche Übersetzung parat, bei Bedarf wird die englische Version ausgehändigt.