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PAT UND DER MANN IM GEBÜSCH

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Neben dem Stromhäuschen, das auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor einem kleinen Waldstück den lieben Gott einen guten Mann sein ließ, neben diesem Gebäude, dessen Funktion nur E-Technik-Studenten und Nerds verstanden, direkt daneben gab es ein Gebüsch. Dieses Gebüsch schmiegte sich mit überzogener Zärtlichkeit an die kalte, weißgraue Mauer, hinter der Stromkreise zirkulierten oder Relais über ihr Dasein nachsannen und dazu surrten. Das Gebüsch an sich war immer eine Enttäuschung gewesen. Es war beinahe eigenschaftslos und kaum gesellschaftsfähig.

Nicht einmal Pat hatte sich bisher die Mühe gemacht, das Gebüsch wahrzunehmen. Er wohnte schon seit beinahe zwei Jahren in seiner ansehnlichen Galeriewohnung im Dachgeschoss. Oft stand er am Fenster im Wohnzimmer und starrte hinaus. Er stand immer am selben Fleck. Dort war die Fußbodenheizung am aktivsten und verwöhnte seine Fußsohlen mit wohliger Wärme. Die Behaglichkeit wanderte durch seine Füße, kletterte die Beine hoch, durchquerte das Naturschutzgebiet in der Lendengegend, kitzelte den Bauch und erreichte dann das Hirn, wo sie sich niederließ. Pat war demnach recht zufrieden, als er das Gebüsch bemerkte. Eigentlich bemerkte er das Gebüsch nur sekundär. Was seine meist betäubte Aufmerksamkeit anregte, war in erster Linie die Tatsache, dass ein Mann im Gebüsch saß. Er trug einen Tarnanzug und schaute durch ein Fernglas auf das Haus, in dem Pat wohnte. Sogar ohne Brille konnte Pat den Mann erkennen, was angesichts seiner Kurzsichtigkeit so manches über die enttäuschende Tarnperformance des Mannes aussagte. Die Gläser des Fernglases waren recht genau auf das Fenster gerichtet, dessen Scheibe Pat ratlos anatmete.

(Es war ein bisschen wie in der DDR.)

Pat trank seinen Milchkaffee aus und brachte die HSV-Tasse in die Küche. Der HSV, der Hamburger Sportverein, das war sein liebster Fußballklub. Er liebte den Verein seit Kindertagen. Er wusste nicht warum, konnte sich aber nicht dagegen wehren. Egal wie schlecht die Mannschaft spielte, er saß Woche für Woche samstags fiebernd vor dem Fernsehgerät und hoffte das Beste.

Bevor er die Tasse in die Spülmaschine stellte, küsste er die Raute (das Vereinslogo) und dachte zu seinem eigenen Verdruss schon wieder an die schmerzhafte 0-3 Niederlage vom letzten Wochenende.

Leicht niedergeschlagen schaute er aus dem Fenster. Auch aus der Küche konnte er den Mann im Gebüsch sehen.

Es galt nun, das Tagwerk zu verrichten. Es bestand im Kern aus Reinigungsaufgaben, die seine Freundin für ihn aufgelistet hatte. Der Zettel hing an der Magnettafel in der Küche.

Warum soll ich meine Wohnung sauber machen, fragte sich Pat, und vergaß absichtlich, dass die Wohnung nicht ganz die seine war. Genaugenommen war es ihre. Eigentum. Mit dem Erbe vom Opa gekauft. Zieh doch zu mir, hatte sie gesagt, an diesem einen Abend im Herbst oder Winter. Nein, ehrlich jetzt, ich fände das total schön. Pat fand es so mittel. Erst als ihm sein Vermieter gekündigt hatte, kam er ihrer Bitte nach. Sich wieder eine eigene Wohnung zu suchen erschien ihm als unnötige Provokation. Gerade damals, als sie womöglich schwanger war. Ein Transporter voller Erinnerungsbehafteter Dinge landete damals auf der Mülldeponie am Hafen. Pat erinnerte sich manchmal an den kleinen Schmerz, den er gefühlt hatte, als die Müllsäcke in die tiefe Grube flogen. Aus der Flanke einer aufgerissenen Tüte schaute ihn ein Teddybär vorwurfsvoll und vollkommen traurig an. Das Doppelkassettendeck öffnete zum Abschied das linke Deck, und grüßte mit einem verhedderten Chrom-Band. Die Ärmel seiner Supersonics-Daunenjacke winkten im Flug. Die Freiheit schien sich in der Innentasche verkrochen zu haben, und wurde neben einem Eimer voller Panini-Bildern schließlich zu Grabe getragen. Paul Steiner lächelte verlegen. WM 1990, weißes Trikot.

Es ist dies eine Art von Traurigkeit, die man erlebt haben sollte.

Pat füllte den Putzeimer mit Wasser und gab einen Spritzer Neutralreiniger hinzu. Das moderne Bodenwischsystem (German Engineering) lag schon im Wohnzimmer bereit. Jeder Handgriff mühsam erlernt.

Seine eigene Wohnung hatte Pat nicht geputzt. Quartalsmäßiges Saugen und Schaltjahrmäßiges Staubsaugerbeutelwechseln erschienen ihm angemessen. Er war gut damit gefahren. Zufriedenheit und Sauberkeit standen in keinem Zusammenhang, solange man beiden keine Aufmerksamkeit schenkte.

Die Stühle (Freischwinger – auch so ein Wort, das Pat in den vergangenen Monaten kennengelernt hatte) wurden sorgsam auf den Kirschholztisch gestemmt. Wie damals in der Schule, als nach dem finalen Gong um 13:05 Uhr die Holzstühle auf die Tische gestellt wurden.

Nur dass es jetzt kein Zeichen mehr für den Feierabend war, sondern eine unscharfe Form des Gegenteils. Vielleicht noch schnell rauchen, dachte Pat, und ging auf den Balkon. Danach ging es ihm spürbar und sichtbar besser. Mit neu gewonnenem Wohlwollen konnte er in der Wischarbeit eine Spur Freizeit erkennen. Laut spielte Die höchste Eisenbahn im Hintergrund, Francesco Wilking sang mit Nachdruck über die Vergangenheit.

Die ersten Wischbewegungen waren eckig. Mit jedem Schwung wurden die Bewegungen runder. Nicht zu viel Wasser nehmen. Aber auch nicht zu wenig. Und frisches Wasser für das Badezimmer. Ein neues Wischtuch auch, gegebenenfalls. Pat legte sich einen nassen Lappen auf den Kopf und ging, den Wischer hinter sich herziehend (Spuren verwischen!) an seinen Lieblingsplatz. Durch die feuchten Socken drang Wärme in seinen Körper. Der Mann im Gebüsch schaute immer noch zu ihm hinauf. Pat winkte ihm. Das Fernglas reagierte nicht auf seine Avancen.

Beim Wasserwechsel überkam Pat süßes Glück. Ich mache die sinnlosesten Sachen, um meine Angst vor der Sinnlosigkeit zu überwinden. Diese Therapeuten waren schon aus einem besonderen Kunststoff gespritzt. Gemeinsam mit seiner Freundin war er dort gewesen. Nach seiner Kur. Lange hatte er es nicht ausgehalten in der Arbeitswelt.

Sieben Jahre lang hatte er studiert und an seinem Doktortitel gebastelt.

Nur siebzehn Monate hatte er gearbeitet.

Die ersten drei, vier Monate in seinem Premierenjob waren ganz in Ordnung gewesen. Vieles erschien aufregend, weil es neu war. Der erste eigene Arbeitsplatz. Hochwertige Büromöbel und ein Notebook mit einem angebissenen Apfel, der weißlich leuchtete.

Sogar einen Dienstwagen mit Stern hatte er bekommen. Im Inneren roch es neu und ledrig. Wenn Pat das Gaspedal durchtrat, wurde er sanft in den Komfortsitz gedrückt. Dazu machte der Motor ein brummendes Geräusch.

So manches erschien im Deckmantel der Faszination.

Excel-Listen waren Excel-Listen, und der Feierabend war der Feierabend. In der Anfangszeit freute sich Pat noch auf die Arbeit. Die Freizeit war ihm nicht so wichtig, in diesen Tagen. Er wollte einen guten Job machen, so wie es von ihm verlangt wurde. Die Wichtigkeit seiner Projekte wurde ihm von seinem Vorgesetzten immer wieder eingehämmert. Nach einigen Wochen der Eingewöhnung wurde die Arbeitsintensität langsam hochgeschraubt. Sein Chef wollte ihn fordern und fördern. Die Anzahl der Aufgaben, die Pat zu erledigen hatte, stieg und stieg und stieg und stieg. Immer mehr Emails füllten Pats Eingangsordner, und im Anhang jeder zweiten Mail befand sich mindestens eine Excel-Liste. Zahlen, Zahlen, Zahlen, Zahlen. Grüne Spalten, rote Zeilen, gelbe Markierungen. Und immer stand sein Name irgendwo dabei. Meist in unmittelbarer Nähe von Begriffen wie Verantwortlicher, To-Do’s, next step oder Koordinator.

Nach einem halben Jahr schlichen sich die Spalten H und I in seine Träume. Pipelines und Projektpläne gesellten sich dazu, korrespondierten mit Potentialanalysen und machten dabei ungeheuerlichen Lärm. Seine Träume kamen in Gestalt von Powerpoint-Präsentationen daher, blendeten ihn mit Laserpointern und schlitzten ihm mit Teppichmessern den Kopf auf. Sobald er im Bett lag, erschienen ihm ellenlange to-do-Listen und hunderte von ungelesenen Emails. Er wollte sich herunterfahren, wie sein Notebook. Er wollte sich ausschalten. Aber die Excel-Tabellen leuchteten weiter.

Rotwein hatte eine Zeit lang geholfen. Nach einer Flasche wurde er so müde, dass die Gedanken an die Arbeit in den Hintergrund rückten. Die segensreiche Wirkung des Weines ließ aber nach einiger Zeit nach.

Pat begann damit, Schlaftabletten zu schlucken. Ein holländischer Pharmazie-Versandhändler belieferte Pat frei Haus. Ein Arbeitskollege hatte ihm den Lieferanten und auch ein spezielles Produkt empfohlen.

Pat begann sofort mit der Maximaldosierung.

In Kombination mit einer Flasche Rotwein.

Manchmal schlief er tatsächlich ein.

Seine Freundin schlief jede Nacht so tief wie ein Igel unter einem Laubhaufen. Mit Wattestöpseln im Ohr und mit einer Flugzeug-Schlafbrille. Er kämpfte ganz alleine gegen die Nacht. Sagenhafte Ohnmacht übermannte ihn; totale Unfähigkeit, einen klaren Gedanken zu fassen. Er lauschte den regelmäßigen Atemzügen seiner Freundin. Er beneidete sie. Es war Neid, der manchmal in Aggressivität umschlug. Dann hasste er sie, weil sie schlafen konnte. Und weil sie ihm nicht erklären konnte, wie sie das anstellte.

Irgendwann riss ihn dann der unangenehm piepsende Wecker aus der lethargischen Schlaflosigkeit. Vergeblich versuchte die Dusche ihn zu beleben. Nur warmes Wasser. Auch der Kaffee biss sich an ihm die Zähne aus.

Guten Morgen Schatz, sagte seine Freundin.

Ich muss los, sagte er.

Ein schneller Kuss, nicht mehr. Dem Schmerz keine Bühne bieten.

Der Dienstwagen wartete in der beheizten Tiefgarage. Wurzelholzambiente mit Vanilleduft. Musik von Trio. Gib mir Energie, schrie Stephan Remmler. In der Mittelkonsole lauerte ein Röllchen Ritalin auf seine Chance. Nur noch heute. Und nur eine. Noch drei Tage bis zum Wochenende.

Ulm schlug das Navigationssystem vor. Doch Ulm war gestern.

F wie Fulda, 314 Kilometer, zwei Stunden irgendwas. Eine Pinkelpause mit Espresso, zwei sehr lange Baustellen, eine Abstandsmessung.

Gib mir Energie!

Die Führungsetage kam wie immer etwas später. Rosa Schälchen wehten durch den Raum. Die Rasierwasserfetischisten verpesteten die Luft. Eine bunte Mischung aus unsympathischen, unsympathischen und unsympathischen Menschen.

Alle trugen sie die gleichen Klamotten und Accessoires. Alle sahen aus wie Schaufensterpuppen. Eingefrorenes Lächeln, unnatürliche Hautfarbe. Nur fetter waren sie, viel fetter als die Schaufensterpuppen. Sie waren sich ihrer Lächerlichkeit nicht bewusst. Sie glaubten daran, dass erfolgreiche Menschen genau so aussahen wie sie. Die Schälchen machten Pat am meisten zu schaffen. Von einem Tag auf den anderen, so war es Pat vorgekommen, erschienen all diese Trottel mit Schälchen. Warum taten sie das? Weil in Werbeheftchen Bilder von schönen Männern mit Schälchen abgedruckt wurden? Es war zum Verzweifeln. Einer der dümmsten von allen setzte sich neben Pat.

Ah, da ist ja noch ein Plätzchen für mich, hatte der Idiot gesagt.

Weil Pat nichts sagte, und wohl auch, weil er fassungslos schaute, fühlte sich der Controlling-Experte genötigt noch einen Satz nachzuschieben.

War Stau gewesen, total der Stau!

Pat ahnte, dass furchtbare Stunden auf ihn zukamen. Die Aussichtslosigkeit seiner Lage bereitete ihm körperliche Schmerzen. Er überlegte ernsthaft, einen Migräne-Anfall vorzutäuschen, oder Magen-Darm-Probleme. Begeistert von dieser Idee ließ er lautlos einen ziehen. Zehn Sekunden später schaute er den Controlling-Experten entrüstet an.

Ein Lichtstrahl warf das Firmenlogo an die Wand.

Der Vorstand persönlich übernahm die Begrüßung.

Die Agenda war vollgepackt mit hohlen Schlagwörtern.

Der Vorstand faselte irgendwas von einem straffen Zeitplan. Zwanzig Minuten hatte er sinnentleerte Weisheiten zum total spannenden Thema Zeitmanagement vor sich hin gesabbert, eher er den ersten total spannenden Vortrag ankündigte.

Wir müssen ein Stück weit nachhaltiger sein, als der Wettbewerb.

Sagte mit vollem Ernst ein volljähriger, vor dem Gesetz zurechnungsfähiger Mann mittleren Alters und unbestimmter sexueller Ausrichtung. Er ließ seinen Satz wirken. Blickte seinen Zuhörern der Reihe nach in die Augen. Sein rosa Schälchen verbarg den dicken Hals. Pat schaute in seine Kaffeetasse.

Meine Herren, sagte der nachhaltige Schalträger dann, es gibt viel zu tun. Ich wünsche Ihnen dabei viel Erfolg!

Lustlos klopften die Zuhörer ein wenig auf den Tischplatten herum.

Der Idiot bedankte sich.

Jeder wusste, dass nur auf den Tischen herumgeklopft wurde, damit der Vorstand nicht wieder beleidigt war. Es war ihm immer ganz wichtig, dass dem Vortragenden Anerkennung kundgetan wurde.

Pat hielt den zweiten Vortrag. Er war gähnend langweilig.

Dann war Kaffeepause.

Ein sehr interessanter Vortrag, sagte ein Kollege anerkennend.

Er schämte sich nicht dabei.

Vielleicht fand er es tatsächlich interessant? Undenkbar.

Es wurde schon langsam dunkel, als Pat wieder in die Wurzelholzkapsel zurückkehrte, um mit weit über 200 km/h nach Hause zu rasen.

Hallo Schatz, sagte seine Freundin. Wie war Dein Meeting?

Tja, sagte Pat, lief ganz gut. Bin ziemlich erledigt. Muss morgen auch wieder früh los. Und bei Dir?

Bei ihr war alles gut gelaufen. Sehr gut so gar. Klasse Feedback vom Chef. Super Projektverlauf. Und mittags mit Susi im Salz & Pfeffer. Ganz toller Zander. Sagt mal, ist alles in Ordnung bei Dir?

Bisschen müde, Süße, das ist alles. Ich glaub ich leg mich gleich hin.

Willst Du nicht noch was essen? Es sind noch Nudeln da, von gestern.

Ich hab keinen Hunger.

Du musst doch was zu Abend essen.

Ich war im Drive-In auf der Heimfahrt. Juniortüte.

Kein Wunder, dass Du immer so schlapp bist. Das ist Dein blödes Fastfood.

Ist gut, Süße. Das halt ich jetzt nicht aus. Ehrlich. Ich weiß, dass Du Recht hast. Ist das ausreichend?

Manchmal frag ich mich, wie alt Du bist.

Ich benehme mich wie ein Pubertierender an einem schlechten Tag, auch das weiß ich schon, auch das. Ich rauch jetzt noch kurz, und dann leg ich mich hin. Du bist herzlich eingeladen, mit unter die Decke zu kommen.

Aber sie war nicht unter seine Decke gekrochen. Gewartet hatte sie, noch einige Stunden, erst dann ging sie ins Bett. Auf ihre Seite. Unter ihren Laubhaufen.

Pat betrachtete sein Werk. Im weißen Marmor spiegelten sich die Pflanzen. Saubere Arbeit. Und jetzt das Bad. Oder rauchen.

Ein Eichhörnchen schlich sich in das Gebüsch und legte eine Nuss in eine kleine Senke. Der Mann mit dem Fernglas nahm keinerlei Notiz.

Es muss unglaublich langweilig sein, dachte Pat, ausgerechnet mich zu observieren. Er überlegte, ob er dem Beobachter zuliebe irgendetwas Überraschendes tun sollte. Es fiel ihm nichts ein.

Bis er die Walnüsse in der Porzellanschale liegen sah. Er suchte sich ein aerodynamisches Exemplar aus und ging zu seinem Lieblingsfensterplatz. Ohne Eile öffnete er das Fenster, holte weit aus und warf die Walnuss über die Straße ins Gebüsch. Eine Joggerin lief durchs Bild und tippte sich kopfschüttelnd mit dem Zeigefinger an die Stirn. Ein herrenloser Rauhaardackel schnupperte am Bürgersteig. Pat schloss das Fenster wieder und ging rauchen.

Im Büro haben sie ihm das Rauchen verboten. Er hatte bis zur zweiten Abmahnung weitergeraucht. Um schließlich auf Drängen seiner Freundin klein beizugeben, seinen Job zu behalten und fortan auf dem Klo zu rauchen. Er war viel auf dem Klo, damals. Manchmal rauchte er gleich zwei hintereinander.

Sie füllen noch heute die Pipeline, sagte jemand zu ihm, und die P-Liste wird auf den neuesten Stand gebracht. Lassen Sie sich was einfallen. Morgen muss ich das alles präsentieren. Meinen Sie vielleicht, ich habe Lust mich zu blamieren. Oh, tut mir leid, wir hatten keine Zeit dafür, Herr Vorstand. Wirklich. So viel Arbeit. Wird er sicher einsehen. Wie stellen Sie sich das alles eigentlich vor? Werden Sie erwachsen. Hören Sie auf zu jammern. Es wird Zeit, dass Sie den Arsch hoch kriegen. Ich erwarte mehr von Ihnen. Haben wir uns verstanden?

Pat nickte und dachte dabei an eine Geflügelschere und an den Ringfinger seines Vorgesetzten. Als die Tür ins Schloss gefallen war, öffnete Pat die neueste Email. Betreff: Kommunikation. Fragestellung mit Strategie. Bestimmt ein total spannender Text. Nur ein einziger Satz schaffte es bis zu Pat.

Denken Sie daran, dass Sie viermal schneller denken können, als ihr Gesprächspartner reden kann.

Wahnsinn.

Pat schrieb Wörter in Excel-Listen.

Prüfung aller Effiziensteigerungsmöglichkeiten

Potentialanalyse intensivieren

Fokussierung auf Top-3-Projekte

Kommunikation verbessern

Hit-Rate steigern / optimierte Angebotsverfolgung

Dynamisierung der Logistik

Networking ausbauen und gezielt nutzen

Noch mehr mit Rosa Schälchen winken

Zu spät kommen

Fickt Euch doch alle ins Knie

Speichern.

Email senden.

Pat schaltete seinen Computer aus, kippte einen Rest kalten Kaffee in die Tastatur und verließ das Büro mit geradem Rücken.

Der nächste Tag kam. Und ging.

Sein Chef war relativ umgänglich.

Am Folgetag überprüfte Pat die Excel-Liste, die er seinem Chef gesendet hatte.

Networking ausbauen und gezielt nutzen

Noch mehr mit Rosa Schälchen winken

Zu spät kommen

Fickt Euch doch alle ins Knie

Kommen Sie bitte mal in mein Büro.

Na endlich.

Der Chef referierte gewohnt langatmig über heiße Luft. Dann räusperte er sich und sagte: das wär’s dann.

Pat ging zurück an seinen Arbeitsplatz und spielte Tetris.

Er konnte nicht mehr arbeiten. Wie verhext war es. Er saß vor dem Bildschirm und brachte es nicht fertig, Outlook anzuklicken. Es ging einfach nur noch Tetris. Tage vergingen so, ganze Arbeitstage.

Das Eichhörnchen war verschwunden, der Rauhaardackel ebenso. Im Gebüsch saß der Mann mit dem Fernglas. Vielleicht hat er Hunger, dachte Pat, oder es ist ihm langweilig.

Er überlegte, ob er mit Mehl eine kleine Linie auf dem Fensterbrett ziehen sollte. Aber er wusste nicht, wo das Mehl war.

Einen Einkaufszettel musste er noch abarbeiten, und Altglas wegbringen. Es war fast wie arbeiten. Immerhin konnte er rauchen und Musik hören. Und einen Jogginganzug anhaben. Und es gab keine Excel-Tabellen. Keiner beschimpfte ihn. Es ist fast eher wie krank sein, also nur leicht krank. An der Grenze zum Blaumachen. Grauzone Unwohlsein.

Wenn seine Freundin im Supermarkt dabei war, durfte er nicht im Jogginganzug gehen. Warum wusste er nicht. Sie hatte es ihm verboten. Er hatte es hingenommen, wie ein Kind, dass sich die Zähne putzen muss. Heute konnte er alleine einkaufen gehen. Den Jogginganzug hatte er schon an. Mittellaunig holte Pat den Einkaufszettel aus der Küche. Ein Herzchen war darauf gemalt. Schlüssel nicht vergessen, Geldbeutel mitnehmen, Schuhe richtig zubinden. Hochleistungsleben, dachte Pat. Er ging zu Fuß. Gute zehn Minuten. Auf halber Strecke bemerkte er, dass er den Rucksack vergessen hatte. Er ging weiter.

Als er einen Einkaufswagen holen wollte, kramte er vergeblich in der Hosentasche, um einen passenden Chip zu finden. Ein Eurostück geht auch, dachte er, und fand keines im Geldbeutel. Reine Schikane ist das, reine Schikane. In der Eingangshalle des Marktes gab es eine Bäckerei und einen Metzger. Geld wechseln schien im Bereich des Möglichen.

Die Metzgereifachverkäuferin war noch in der Ausbildung. Sie hatte es auf der Schürze stehen. Gekennzeichnet wie die Wurstwaren. Die Auszubildende war sehr dick und hatte eine Schweinenase. Pat freute sich.

Das passiert ganz oft, sagte sie, die Leute vergessen immer ihre Chips. Das ist ganz normal, das macht doch nichts.

Tröstende Worte von der Metzgereifachverkäuferin in Ausbildung.

Auch das noch.

Vor ihm erreichte eine junge Frau mit ihrer kleinen Tochter die Einkaufswagenschlange. Das kleine Mädchen versuchte gleich, von hinten auf den Wagen zu klettern. Missmutig zog die Mutter das Kind weg und sagte in reinem Hausmeisterfränkisch: „Geh hall von der Seitn‘ hie, da geht’s aah wie schee. Siggsders?“

Das Kind schien zu überlegen, leckte am Gestell des Einkaufswagens und nuschelte: „An die Seitn‘ hie? Hää?“

Pat teilte die Ratlosigkeit der Vierjährigen Chantal.

„Gehsdu etz her, Schandall, nochamool soch ichs fei ned!“

Die Mutter zündete sich eine Zigarette an.

Darf ich auch eine haben, fragte Pat.

„Fraahli, mier Rauchers meiyn zsamm halldn, ne. Da, schau her, a Feier gibbidier aa glei.“

Dankbar rauchte Pat und schenkte der kleinen Chantal ein Lächeln. Rotz lief aus ihrer Nase, und sie schielte ein bisschen. Eher vom Dorf, mutmaßte Pat.

Na, Du wirst bestimmt auch bald anfangen zu rauchen, hm?

Die Mutter schaute böse und zog das Kind mit sich fort.

Ich will bei dem Mann bleiben, schrie Chantal.

Pat freute sich, dass jemand ihn mochte.

Als der Filter erreicht war, trennte sich Pat von seiner Zigarette und betrat den Supermarkt. Dreierpack Paprika, keine Farbangaben. Der erste kleine Einkaufsfehler war vorprogrammiert. Pat entschied sich für ein Produkt, das mit einem BIO-Aufkleber aufzuwarten wusste. Das würde seiner Freundin gefallen. Fettreduzierte Milch. Keine Prozentangabe. H-Milch oder Frischmilch? Tetrapack oder Glasflasche? Markenprodukt oder Hausmarke? Auf einer Milchtüte entdeckte er das Logo eines Fußballvereins.

Aus den Lautsprechern sangen Reklamestimmen melodiösen Unfug. Frauenarztpraxis Dr. Katharina Schmelzer, für Männer leider zu gut!

Wer drei Käse kauft, bekommt noch einen vierten Käse gratis dazu!

Die neuen Sammelbilder sind da – jetzt fleißig einkaufen und Sticker abräumen!

Hey, Pat, Servus, hab‘ Dich ja ewig nicht gesehen. Was treibst Du denn hier? Musst Du nicht was arbeiten? Oder hat der Herr Doktor schon ausgesorgt?

(Pat ging in diesem Moment folgender Satz durch den Kopf:

Denken Sie daran, dass Sie viermal schneller denken können, als ihr Gesprächspartner reden kann.)

Pat hatte prinzipiell wenig Spaß an Gesprächen dieser Machart. Er war sehr schlecht im Smalltalk. Für ein Satiremagazin hatte er mal folgenden kleinen Text geschrieben:

Trésor d’expérience

Vorteil in der Smalltalk-Hölle: wer wenig weiß, muss seltener was sagen.

Ich geh nur schnell einkaufen, später hab ich noch Termine. Bin ein bisschen im Stress ehrlich gesagt, tut mir leid.

Ne, ne, soweit alles in Butter. Viel Arbeit halt.

Klar, Du auch. Also ade.

Pat sah, dass sein ehemaliger Klassenkamerad Richtung Kasse ging. Er versteckte sich noch eine Zeit lang bei den Teebeuteln und bei der Schokolade. Auf dem Weg zur Kasse entdeckte er dann einen Rucksack. Er hing mit lauter anderen Wandersachen in einem kleinen Mottobereich. Pat wusste, dass es Ärger geben würde. Aber er wusste auch, wie beschissen es war, schwere Plastiktüten zu tragen. Er kaufte den Rucksack. Das Geld reichte knapp. Er musste nur noch schnell die Bio-Paprika gegen Hollandware eintauschen, sich vom Edel-Nuss-Mix trennen und die Zigaretten weglassen. Die Einkäufe passten gut in den neuen Rucksack. Komforttragegurte. Wellness für die Schultern. Es begann zu regnen.

Ob der Mann im Gebüsch auch bei Regen ausharren würde?

Pat lief sehr langsam durch den faserigen Niederschlag. Mit Plastiktüten hätte ich das niemals ausgehalten, dachte er, und vergrub seine Hände noch tiefer in den Hosentaschen. Der Rucksack war eine notwendige Investition. So würde er es ihr sagen, heute Abend. Eine absolut notwendige, unumgängliche Investition.

Pat öffnete die Haustür und stieg die Treppen hinauf. Er hatte vergessen, im Gebüsch nachzuschauen. Es war ihm egal.

Ob er seine immense Gleichgültigkeit mit Wohlwollen betrachten, sie verachten, oder ihr mit Gleichmut gegenüber treten sollte, wusste er zu keinem Zeitpunkt.

Die Altglasproblematik machte ihr Recht geltend. Zu Fuß brauchte man fünf Minuten zu den Containern. Fünf quälend lange Minuten. Im Regen.

Vielleicht könnte er den Mann im Gebüsch fragen, ob er für ihn zum Container geht. Nachbarschaftsgefälligkeit.

Oder das Altglas einfach ins Gebüsch kippen.

Pat überlegte, ob er das Altglas nicht im Klo versenken könnte. Im Vorfeld kleinscherbig zertrümmern, und dann Scherbe für Scherbe herunterspülen. Er berechnete, dass er dafür ungefähr 200 Liter Wasser verwenden müsste. Es wäre also ökonomischer, zum Container zu gehen, und danach ein Vollbad zu nehmen. 150 Liter. Die gesparten 50 Liter könnte er dann im Internet virtuell spenden, und dafür eine kleine Blume bekommen. Diese Art von Wohltätigkeit erfreute sich großer Beliebtheit.

Er hatte noch den ganzen Nachmittag. Vielleicht würde es noch aufhören zu regnen. Oder er würde Lust auf einen Spaziergang bekommen, und einfach das Altglas mitnehmen. Vielleicht würde auch die Bundeskanzlerin bei ihm klingeln und ein Vollbad nehmen wollen. Alles so Möglichkeiten.

Der Mann im Gebüsch gähnte hinter seinem Fernglas.

Tetris spielen hatten sie ihm verboten. Das macht Sie nur noch unruhiger, hatte der Therapeut gesagt. Da hast Du’s, sagte seine Freundin daraufhin.

Pat sehnte sich danach, ein blaues Quadrat in eine genau passende Lücke hinabsinken zu sehen. Er wünschte sich, zwei Reihen gleichzeitig zu löschen, und danach, den langen roten Balken quer auf ein Mittelpodest zu legen.

Er räumte die Spülmaschine aus. Ein bisschen wie 3D-Tetris war es, wenn er die Tassen hinter die Gläser manövrierte. Immerhin.

Ich bin Erwachsen, zurechnungsfähig, habe studiert und sogar einen Doktortitel habe ich, dachte Pat, und lasse mir von wildfremden Menschen das Tetris spielen verbieten. Wie soll man davon gesund werden?

Heute Abend war wieder Sitzung. Mit ihr. Sie wollte immer mit. Der Therapeut fand das total gut und total wichtig. Pat übte schon mal.

Ich bin wie vereinbart um 8.00 Uhr aufgestanden, habe mich geduscht, Kaffee getrunken und ein bisschen Zeitung gelesen. Dann habe ich mich frohen Mutes an die Arbeit gemacht. Habe die Wohnung gewischt, das Bad geputzt, das Altglas weggebracht und den Müll runtergetragen. Zum Mittagessen habe ich mir einen Salat gemacht. Dann war ich im Supermarkt und habe alles eingekauft, was auf dem Zettel stand. Zuhause habe ich dann alles eingeräumt und noch die Waschmaschine gestartet. Es war ein gut strukturierter Tag, und ich bin stolz darauf, dass ich alle Aufgaben erledigt habe. Ich fühle mich gut dadurch. Ich habe fast nie an Tetris gedacht. Im Gebüsch gegenüber saß ein Mann im Tarnanzug und hat mich beobachtet.

Die beiden letzten Sätze würde er weglassen. Der Rest war perfekt. Er lernte seinen Text auswendig, indem er ihn vierundzwanzig Mal laut wiederholte.

Egal was er bei den Sitzungen sagte, es wurde anstandslos geglaubt. Einmal hatte er eine Spur Wahrheit einfließen lassen. Sofort war die Hölle los. Ein ernstzunehmender Rückschlag. Über eine Anpassung der Dosierung des Medikamentes sei nachzudenken. Die Erhöhung der Dosierung konnte er gerade noch verhindern. Der Vorfall aber war ihm eine Warnung gewesen. Nur noch strukturierte Tage und die Rückkehr der Zufriedenheit.

Pat war vollkommen ratlos. Manchmal glaubte er, dass der Therapeut ihn durchschaute, und sein Spiel einfach mitspielte. Aspekte der Kundenbindung waren nicht zu vernachlässigen. Die Konkurrenz war groß am Markte der Seelenschlosser. Womöglich wollte der Therapeut aber auch nicht nur den Kunden behalten, sondern auch dessen hübsche Freundin. Vertrauensvoll zwinkerte er ihr zu, wenn Pat die richtigen Dinge sagte. Einmal griff er ihr aufmunternd an den Oberarm und streichelte sie kurz. Wahrscheinlich onanierte er auf sie, sobald die Sitzung vorbei war.

Manchmal stellte sich Pat vor, dass der Therapeut gefesselt auf dem Boden lag, und Tetris-Steine auf ihn herunterprasselten. Schwere Steine. Große Steine. Scharfkantige Steine. Diese Vorstellung spendete Trost und vielleicht sogar so etwas wie Glück. Der Kopf des Therapeuten platzte auf, und es vielen nur ein paar rostige Nägel heraus. Alles was sonst noch im Hohlkopf zu finden war, war ein chinesischer Glückskeks. Pat öffnete ihn: es war eine Niete.

Da hast Du’s, sagte er zu seiner Freundin dann. Da hast Du’s.

Und welches Dressing hatten Sie zu Ihrem Salat, hatte der Therapeut gefragt. Scheinheilig war er und verdorben.

Jogurth, sagte Pat, und dachte sich ein ergänzendes Du Arschloch hinzu. So einfach kriegst Du mich nicht dran. Meine Juniortüte lasse ich mir nicht auch noch wegnehmen. Und hör sofort auf, die Titten meiner Freundin anzustarren. Ruhig bleiben. Ganz ruhig bleiben. Dann ist es in zehn Minuten vorbei.

Sehr, sehr lecker, der Salat. Wirklich. Das überrascht mich selbst am meisten!

Sehr schön, Pat, das freut mich ungemein. Und darf ich fragen, was morgen auf dem Speiseplan steht?

Gurkensalat mit Dill.

Hm, lecker, esse ich auch sehr gerne. Machen Sie doch gleich zwei Portionen Pat, und bringen sie mir eine zum Mittagessen vorbei, hahaha.

Er lachte wie ein Idiot. Pat lachte ein bisschen mit ihm. Seine Freundin schaute ganz gerührt. Die Lage war aussichtslos.

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