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DIE LEICHTIGKEIT DER ANDEREN

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Das größte Problem für Pat war, die Leichtigkeit der anderen Menschen zu dulden. Seine Freunde hatten bis zu drei Kinder, bauten Häuser, trugen ihre Eltern zu Grabe, machten Karriere, kauften Kinderwägen für 800 Euro (Pats erstes Auto hatte 400 Mark gekostet), verbrachten Ferien in All-inklusive-Clubs, ließen sich scheiden, vögelten Sekretärinnen, meldeten Privatinsolvenz an, tranken Rotwein, fuhren Cabriolets. Und lächelten dabei. Scheinbar losgelöst von den Ereignissen.

Pats bester Freund hieß Jens Fichte. Wie der Baum. Alle nannten ihn nur Fichte. Er hatte inzwischen drei Kinder. Früher hatten sie zusammen gewohnt und jeden Abend vier Stunden Fußball an der Xbox gespielt. Nüchtern sind sie nie ins Bett gegangen. Pat erschien die Vergangenheit wie ein Film. Ein guter Film, der im Kino lief. Ein Film, der irgendwann mit fröhlicher Musik zu Ende gegangen war. Manchmal erinnerte man sich an den Film, meistens lebte man sein Leben, als sei nichts gewesen. Vieles vergaß man. Die lustigsten Stellen blieben in Erinnerung. Und die fröhliche Musik aus dem Abspann. Das Lied kam gelegentlich im Radio.

Fichte hatte tiefe, schwarze Ringe unter den Augen. Er war blass und rauchte noch mehr als früher. Damals haben sie bei jeder Gelegenheit geraucht. Im Raucherhof wollten die anderen Schüler ihnen ein Denkmal bauen.

Nach endlosen zehn Schuljahren ist Fichte sitzen geblieben. So waren Pat und Fichte endlich in einer Jahrgangsstufe. Mit einem Ford Fiesta fuhren die beiden ins Gymnasium. Der Fiesta war beige, und im Fußraum des Beifahrers lag ein Batteriebetriebener Kassettenrecorder. Meistens sangen die Violent Femmes ihre kleinen Hymnen. Der Aschenbecher war immer voll. Immer. Montags fuhr man mit guten Vorsätzen in Richtung Schule, drehte ab, und setzte sich in ein Café. Wartete bis 9.00 Uhr (da ging Fichtes Mutter zur Arbeit), fuhr zu Fichte und spielte Bundesliga Manager am Amiga des Vaters. Um 17.00 Uhr fuhr Fichte zu seiner Freundin, und Pat ging nach Hause.

Fichte hatte immer mindestens eine Freundin. Irgendwann war Pat mit der kleinen Schwester von Fichtes Freundin zusammen. Sie war vierzehn, und vögelte mit ihrem Latein-Nachhilfelehrer. Heimlich natürlich, ganz heimlich. So bemerkte es die Mutter nicht, und konnte reinen Gewissens mit dem Nachhilfelehrer ins Bett gehen. Der Vater, derweil, lebte sein Atomphysiker-Genie aus und verweilte zumeist in einem Gebilde namens CERN.

Einmal hatte er Pat Nachhilfe in Physik gegeben. Ein Sommersonntag im Garten. Pat verstand nichts von dem, was der Herr Professor mit Hilfe eines Gartenschlauches veranschaulichen wollte. Eine Goldschlange war eine Goldschlange. Und keine Sinuskurve. Fichte, der alte Verräter, hatte sich mit der großen Schwester dezent ins obere Stockwerk zurückgezogen. Später erzählte er, dass er das Gartenschlauchspektakel aus dem Fenster beobachtet hatte.

Von der Vierzehnjährigen wurde Pat schon am ersten gemeinsamen Abend entjungfert. Sie erzählte ihm von ihrer Affäre mit dem Lateinlehrer. Er war fast Vierzig und Alkoholiker. Und mit meiner Mutter macht er es glaub ich auch, sagte sie.

Die große Schwester war ganz anders. Fichte machte nach drei Monaten Schluss. Pat blieb alleine zurück, beziehungsweise mit drei hochkomplizierten Frauen und einem Atomphysiker. Über eine Radiosendung lernte die kleine Schwester einen anderen Mann kennen. Er gefiel ihr besser als Pat. Er war arbeitslos, nahm Drogen, trank und sprach meist rumänisch. Die ganze Familie unterstütze Pat in seinen Bemühungen, die Beziehung zu retten. Nur der Hamster machte nicht mit. Starb einfach in der Nacht. Und mit ihm die letzten Spuren Kindheit in der wild werdenden Vierzehnjährigen. Pat verlor sie. Rosen halfen nicht, Liebeserklärungen, Konzerteinladungen, Kerzen versagten. Die erste Tragödie in Pats Leben.

Sein Vater sagte: „Du kannst machen, was Du willst. Aber versprich mir, dass Du Dich nicht wegen einer Frau vor die Straßenbahn wirfst!“

Pat rätselte bis heute, wie der Mittelteil nicht wegen einer Frau richtig zu interpretieren war.

Der Vater hatte es damals wohl fast gemacht, das mit der Straßenbahn. Wegen einer Frau. Hatte es sich andersüberlegt, und im Anschluss zahlreiche sehr nette Mädchen kennengelernt. Nach einer Reihe von amourösen Abenteuern schließlich die bildschöne Mama geehelicht. Und es nie bereut. Fast fünfzig Jahre lang.

Pat zog auch Fichte zu Rate. Sei froh, sagte Fichte, dass Du wegkommst von der Familie. Die sind verrückt. Alle. Jeder anders, aber alle verrückt. Hast Du gewusst, ich meine, jetzt können wir ja darüber reden, ich meine, hast Du gewusst, dass…

Pat unterbrach ihn. Sagte nur das Wort Lateinlehrer. Fichte nickte.

Aber Pat gelang es nicht, froh zu sein.

Montags fuhr man mit guten Vorsätzen in Richtung Schule, drehte ab, und setzte sich in ein Café. Wartete bis 9.00 Uhr (da ging Fichtes Mutter zur Arbeit), fuhr zu Fichte und spielte Bundesliga Manager am Amiga des Vaters. Um 17.00 Uhr fuhr Fichte zu seiner Freundin, und Pat ging nach Hause.

Die schulische Leistungskurve gehorchte schließlich der Schwerkraft. Es war kaum zu glauben, wie schlecht die beiden waren. Selbst in Religion.

Wenn wir in der Reli- Schulaufgabe wieder die schlechtesten sind, essen wir ein Stück Schwamm. Nassen Tafelschwamm. Alles klar, Fichte.

Es war eine sehr gute Schulaufgabe, ihr habt Euch gut vorbereitet, und das hat sich ausgezahlt. Sagte der Lehrer zufrieden. Fichte lächelte entspannt. Es gab vierzehn Einser, fuhr der Lehrer fort, zwölf Zweier und bedauerlicherweise auch zweimal die Note fünf. Pat lächelte.

Sie aßen nach der Stunde wirklich ein kleines Stück Tafelschwamm.

Pat wunderte sich bis heute, warum er das Abitur geschafft hat. Wie er danach einen Studienplatz bekommen konnte. Woher er die Energie nahm, das Studium erfolgreich durchzuziehen. Dass er sogar einen Doktortitel hatte, erschien ihm phasenweise surreal. Vielleicht verherrlichte er sich rückblickend als supercoolen Schlechtschüler, und war nie wirklich gefährdet gewesen. Vielleicht hatte er aber auch nur sagenhaftes Glück gehabt, gepaart mit gelegentlichen Fleißattacken. Er wusste es nicht mehr. Konnte man sein eigenes Leben vergessen?

Das kannst Du vergessen, hatte Fichte gesagt. Ich hab drei Kinder, Mann, da kann ich unmöglich mit Dir vier Tage nach Düsseldorf fahren.

Früher sind sie immer zum Karneval gefahren. Früher, dachte Pat. In diesem Film mit der fröhlichen Abspannmusik.

Pat konnte sich kaum die Namen der drei Kinder merken. Er nannte sie Tick, Trick und Track. Obwohl zwei Mädchen dabei waren. Das Kleinste machte noch in die Windel. Die Älteste ging in die zweite Klasse und tanzte in einer Garde. Die Tanzgarden-Saison ging von Oktober bis März. Sonntags fuhr Fichte mit seiner Tochter zu Wettbewerben. Gestern war so ein Sonntag gewesen.

Um 6.00 Uhr früh war Treffpunkt an der Schule. Dann ging es mit einem Reisebus fast 200 Kilometer Richtung Osten. Spätestens um 8.30 Uhr musste die Mannschaft komplett gemeldet haben. Um 9.00 Uhr tanzte die erste Garde. Fichte setzt sich auf eine Bierbank. Eine von Hunderten. In einer schwach beheizten, stinkenden Turnhalle. Um 15.45 Uhr war die Mannschaft seiner Tochter dran. Der Auftritt dauerte drei Minuten und dreißig Sekunden. Es klappte alles prima, die Mannschaft gewann und qualifizierte sich damit für die deutschen Meisterschaften. Fichte war sehr stolz auf seine Tochter.

Pat hatte Angst davor, dass Tick deutsche Meisterin im Gardetanz werden könnte. Es wäre nicht gut für Fichte. Zu viel Stolz ist nicht gut.

Pat versuchte sich vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, wenn seine Tochter deutsche Meisterin im Gardetanz werden würde. Er hatte eigentlich eine blühfreudige Phantasie, doch in diesem konkreten Fall scheiterte er vollständig. Er konnte sich keine derartige Emotion vorstellen. Das erleichterte ihn irgendwie, machte ihn aber nicht glücklich.

Was macht Sie glücklich, Pat?

Ausnahmsweise war Pat unvorbereitet in die Sitzung gegangen. Seine Freundin schaute ihn böse an. Von der Seite. Als würde das jetzt was bringen.

Pat, was ist heute los mit Ihnen? Hatten Sie keinen guten Tag?

Doch, doch, ganz gut. Gut. Sehr gut. Ich war nur gerade in Gedanken.

An was haben Sie gedacht, Pat? Lassen Sie uns bitte teilhaben. Das ist ganz, gaaaaaaaanz wichtig. Ihre Partnerin möchte an Ihren Gedanken unbedingt teilhaben. Es hat eine ungemein festigende Wirkung, seine Gedanken zu teilen. Trauen Sie sich. Kommen Sie schon, Pat! Na los, an was haben Sie gedacht, wo waren Sie mit ihren Gedanken?

Pat war in Gedanken bei der Vierzehnjährigen Schwester von Fichtes Freundin gewesen. Und die Mutter war auch mit dabei. Und die große Schwester. Wenn er das jetzt sagen würde, wäre alles vorbei. Einmal nur, dachte Pat, ein einziges Mal nur die Wahrheit über die eigenen Gedanken sagen, nur einmal nicht zu lügen würde vollkommen ausreichen, um ein gesamtes Leben zu zerstören. Von seinem eigenen Leben ganz zu Schweigen.

Ich weiß nicht mehr, an was ich gedachte habe. Ich glaube an den HSV.

Pat, das ist sehr enttäuschend für mich. Und sehr verletzend für Ihre Partnerin. Wir versuchen hier, Ihnen zu helfen, für Sie da zu sein – und ich finde das wirklich bemerkenswert, wie sehr sich Ihre Freundin um Sie bemüht – wir versuchen also, Ihr Leben in den Griff zu bekommen, uns Sie denken an den HSV. Ich weiß gar nicht was ich sagen soll.

Dann sag doch einfach mal nichts. Nur dieses eine Mal. Dachte Pat.

Und sagte: Es tut mir leid, ich weiß auch nicht, was eben mit mir los war.

Der Therapeut ließ seinen Blick auf den einzigen Busen im Raume zur Ruhe kommen. Tief atmete er durch. Er schlug vor, das Thema auf die nächste Sitzung zu verschieben. Pat, sagte er, gehen Sie nach Hause und denken Sie darüber nach, was Sie heute falsch gemacht haben. Machen Sie sich Notizen. Bitte machen Sie sich Notizen. Es wäre wirklich hilfreich.

Was wohl passiert wäre, wenn er nicht HSV gesagt hätte, sondern Jesus Christus. Oder Scarlett Johansson. Oder die Wahrheit.

Pat dachte darüber nach, was er gestern falsch gemacht hat. Er machte sich Notizen. Es entstand ein Liste seiner Fehler des Vortags in ziemlich chronologischer Reihenfolge:

Zu früh aufgestanden. (8.00 Uhr ist zu früh. Viel zu früh.)

Falsches Frühstück! (Obst ist kein Frühstück.)

Joggen gegangen (Knieschmerzen)

Fenster putzen (vorher konnte man durchschauen, nachher konnte man durchschauen. Zeitverschwendung. Unverändert übrigens auch der Mann im Gebüsch. Mit Fernglas)

Scheiß Mittagessen

Scheiß Einkaufen im Scheiß Supermarkt mit Scheiß Arschlöchern überall

Zu wenig geraucht

Zu wenig Kaffee getrunken

Zu geschmacklose Pornos angeschaut

Vergessen, die Live-Pressekonferenz aus Hamburg anzuschauen (HSV TV)

Vergessen, Brot zu kaufen

Vergessen, dass Schatzi heute unbedingt Brot essen wollte

Vergessen, dass Schatzi beim Friseur war, und an den Haaren nicht erkannt, und also nicht zur schönen neuen Frisur gratuliert, die genauso schön ist, wie immer und auch genauso aussieht und überhaupt die gleiche Frisur ist wie seit zwei Jahren oder sieben.

Vergessen, dass Erklärungsversuche alles nur noch schlimmer machen

Vergessen, zu sagen tut mir leid

Zu viel geraucht

Zu viel getrunken

Zu viel Tom Waits gehört (und zu laut)

Zu spät ins Bett gegangen

Zum falschen Zeitpunkt auf Sex spekuliert

Nochmal zu geschmacklose Pornos angeschaut

Auf der Couch geschlafen (Rückenschmerzen)

Morgen mache ich mal den ganzen Tag was ich will, dachte Pat, als er mit der Liste fertig war. Er nahm es sich felsenfest vor.

Am nächsten Tag setzte er seine Pläne mit erstaunlicher Konsequenz um.

Er machte wirklich den ganzen Tag lang, was er wollte. Und Pat genoss jede Minute. Er fühlte sich wie bei einer Entspannungsmassage mit heißen Steinen.

Sie war arbeiten und danach beim Sport und dann noch mit den Fitnessstudiofreundinnen Wasser trinken in einer Öko-Bar.

Am späten Abend erstellte Pat hochzufrieden eine Liste mit den Fehlern dieses Tages; dieses sehr schönen Tages:

Es war nicht richtig, von ihrem Geld eine Xbox zu kaufen.

Deutlich zu geschmacklose Pornos angeschaut.

Es war nicht richtig, von ihrem Geld den Pizzadienst zu bezahlen (Mittags)

Ich hätte Sideny Sam nicht für Luis Holtby transferieren sollen (nach der Verletzung von Maxi Beister fehlt ein schneller Mann für die Außenbahn.)

Es war nicht richtig, von ihrem Geld den Pizzadienst zu bezahlen (Abends)

Dann legte sich Pat ins Bett, stellte sich schlafend, und wartete auf den nächsten Tag.

Es kam schlimmer als erwartet.

Sie ging nicht zur Arbeit. Sie rief an, sagte dass Sie Magen-Darm-Probleme habe und kotzte später wirklich ein bisschen. Aber mehr aus Wut.

Pat widersprach nicht, als sie ihm all seine Fehler auflistete. Ein schlechter Tag. Ein einziger schlechter Tag. Ein Rückfall, vielleicht. Pat kam nicht durch, damit. Er solle seine Sachen packen. Es sei ihre Wohnung. Sie sei nicht länger bereit, ihn auszuhalten. Und die Xbox bleibt hier. Mit Kassenzettel. Bis zum Nachmittag habe er Zeit. Es sei ihr egal, wohin er ginge. Es reiche.

Darauf hast Du doch die ganze Zeit gewartet. Dass ich den einen Fehler mache. Dass Du mich rauswerfen kannst und endlich in Ruhe mit dem Scheiß Therapeuten ficken kannst.

Deine Wahnvorstellungen sind unglaublich. Dein Niveau übrigens auch.

Ist recht, Schatzi, ist recht. Hör mir zu. Jetzt. Hör mir zu. Ich weiß, dass Du ihn bumst. Ich weiß, dass Du nicht im Fitnessstudio warst. Und nicht in der Öko-Bar. Du warst bei ihm in der Praxis. Keine Sorge, ich packe meine Sachen und verschwinde. Aber hör auf, die heilige Maria zu spielen. Bums ihn, meinetwegen. Ist bestimmt total spannend und totaaaaal wichtig, und danach könnt ihr in Euch reinhören und reflektieren und alles total gut finden. Wer von uns hat eigentlich einen an der Klatsche? Mein Gott, hör auf zu Heulen.

Es tut mir alles so leid, sagte sie, erschüttert von Heulkrämpfen.

Oh, sagte Pat. Er fand es schlimm, Wahnvorstellungen zu haben. Schlimmer aber fand er es, dass es diesmal keine Wahnvorstellung war, sondern die Realität. Dieser Moment hatte trotzdem etwas Erhabenes.

Einmal nur, dachte Pat, ein einziges Mal nur die Wahrheit über die eigenen Gedanken sagen…

…und einen Volltreffer landen, dessen Wucht den Schläger selbst mehr erschüttert, als die Getroffene.

Pat nahm sie in den Arm, führte sie zum Bett, zog sie auf seine Seite und vögelte sie ordinärer als jemals zuvor. Danach schliefen sie ein, oder taten so. Beschämt, verwirrt und selten glückselig.



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