Читать книгу 10 SHERLOCK HOLMES – Die neuen Fälle Box 4 - divers - Страница 10
ОглавлениеIm Laufe der Zeit habe ich sehr viele Fälle meines Freundes Sherlock Holmes veröffentlicht. Meist waren es solche, die dem Leser einen tieferen Einblick in das Wirken des vielleicht größten Detektivs unserer Zeit boten. Hin und wieder gab ich jedoch auch dem Drang nach, einen Fall allein aufgrund seines Unterhaltungswertes niederzuschreiben. Vor allem dann, wenn dem Ganzen kein Verbrechen oder auch nur Vergehen zugrunde lag – wie etwa in dem Fall des verschwundenen Bräutigams.
Ziehe ich mich heute in die Bibliothek zurück, um meine Aufzeichnungen aus den Jahren mit Holmes durchzugehen, so wird mir eines bewusst – es warten sehr viel mehr Fälle auf eine Veröffentlichung, als ich bisher niedergeschrieben habe!
Etliche Begebenheiten werden niemals das Licht der Welt erblicken. Es schickt sich nicht, das Vertrauen der Klienten in Holmes und meine Diskretion zu missbrauchen, nur weil inzwischen sehr viel Wasser die Themse hinabgeflossen ist.
Wem sollte es auch nutzen, wenn die Welt erführe, in welch delikater Angelegenheit der Prince of Wales in der Baker Street 221b vorstellig wurde?
Oder wem wäre es dienlich, würde ich über die höchst sensiblen Probleme sprechen, in die unser Premierminister abseits des politischen Lebens verwickelt worden war?
Gewiss, die Sensationsgier wäre damit angestachelt und ich zweifele nicht, dass zahllose Menschen zu eben jenen Publikationen greifen würden. Aber gerade hier liegt die enorme Verantwortung, die ich mir als Biograf meines Freundes auflud. Die Grenze zwischen dem, was die Welt erfahren muss, jenem, was sie erfahren darf, und den Fällen, über die striktes Stillschweigen zu wahren ist, ist oftmals dünn und brüchig.
Adelstitel oder hohe Würden stellen dabei nicht automatisch eine Hürde dar. So erinnern Sie sich gewiss an den böhmischen König, der uns sein kleines Problem mit einer simplen Fotografie anvertraute. Dieser Fall bildete den Auftakt der ersten Sammlung kurioser Begebenheiten, in die Holmes und ich verwickelt waren, und dessen seltsamer Verlauf doch bei Weitem übertroffen wurde von jenem der Liga der rothaarigen Gentlemen.
Nein, ein Titel allein stellt kein Ausschlusskriterium dar und die Tatsache, dass ein Klient aus einfachsten Verhältnissen stammt, ist kein Garant für eine Veröffentlichung, wie etwa die Begebenheiten zeigen, in die ein gewisser Samuel L. Jacobsen verwickelt war.
Dieser Schuhputzer und Verkäufer kleiner, nützlicher Utensilien wie Streichhölzer suchte uns in einer höchst delikaten Angelegenheit auf. Holmes nahm sich seiner an, ohne von ihm auch nur einen Penny zu nehmen, und am Ende stand ein Ergebnis, das ich wohl niemals niederschreiben werde.
Neben meinen Aufzeichnungen existiert noch eine große Kiste, in der Holmes Notizen und Fundstücke seiner Fälle aufbewahrte, die er vor unserer gemeinsamen Zeit anging. Hin und wieder öffnete er diese und besah sich die Hinterlassenschaften seiner Anfänge.
Als er schließlich London verließ, um sich ganz der Bienenzucht hinzugeben, sandte er mir diese Kiste mit dem Hinweis, ich möge mit den Fundstücken darin tun, was immer mir beliebe.
Mir beliebte, sie zu sortieren und am Ende festzustellen, dass sich damit die Zahl der unveröffentlichten Fälle enorm erhöht hatte.
Ich erwähne die Kiste, denn an jenem Abend, von dem nun die Rede sein soll, saß Holmes auf dem Boden unseres Wohnzimmers und besah sich seine Erinnerungsstücke, das Gesicht eine Maske seliger Entrückung.
Ich schaute ihm zu, wie er hin und wieder etwas aus den Tiefen hervorholte, es im Schein der Lampe betrachtete und es dann wieder, meist von einem Nicken begleitet, beiseitelegte.
»Was ist das?«, wollte ich wissen, als er ein für mich unidentifizierbares Stück Metall in Händen hielt.
»Die Reste eines Messers. Mit ihm wurde Muriel Farnsworth erstochen. Ein hässlicher kleiner Fall, dem ich zwar lösen konnte, der Täter aber niemals vor Gericht gestellt wurde. Ihm gelang es, alle ihn belastenden Beweise zu vernichten!«
»Was wurde aus ihm?«
Er starb vor einigen Jahren an Altersschwäche, wie es hieß. Es war ihr Vater, Watson! Ihr eigener Vater! Wie ich schon sagte – ein hässlicher, kleiner Fall!«
Holmes legte das zerstörte Messer beiseite und holte einen Stock hervor, wie ihn Polizisten nutzen. »Das hier war interessant. Ein Mann wurde von einem Polizisten erschlagen. So zumindest hieß es. Aber es stellte sich heraus, dass der Täter lediglich die Uniform eines Polizisten trug. Mir gelang es, das Leben und die Karriere eines Constables zu schützen, während der Mörder sein verdientes Ende am Strang fand.«
Vermutlich hätte mich Holmes noch mit weiteren Anekdoten erfreut, hätte Mrs Hudson nicht just in diesem Moment einen Besucher gemeldet – ein junger Constable war eingetroffen und bat, uns sprechen zu dürfen.
»Nun sehe sich das einer an!«, rief Holms gut gelaunt, nachdem der Beamte eingetroffen war, »Sie sind ja völlig durchgefroren! Watson, bieten Sie unserem Besucher einen Brandy an, damit er ein wenig auftaut!«
Der Polizist wurde rot, während er seinen Helm abnahm. »Sehr freundlich, Mister Holmes. Aber wir sind in Eile; Inspector Simpson erwartet uns, Sir!«
»Inspector Simpson?« Holmes legte die Stirn in Falten. »Ist er nicht für den Hafen und die eintreffenden Schiffe verantwortlich?«
Der Constable nickte. »So ist es, Sir. Ein Zwischenfall an Bord eines unserer Schiffe erfordert Ihre Anwesenheit!«
»Wohl denn!« Mein Freund packte all das, was er zuvor aus der Box geholt hatte, wieder zurück, schloss diese und stand auf. »Es wird einen Moment dauern, denn wir sind nicht ausgehbereit, wie Sie sehen. Warum nehmen Sie nicht Platz und genießen einen Brandy, während wir uns rasch etwas Passendes anziehen?«
»Sehr gerne, Mister Holmes!« Der junge Mann nahm Platz, griff nach dem von mir dargebotenen Glas und nippte an dem Branntwein, während wir den Wohnraum verließen, um uns rasch umzuziehen.
*
Der Schnee, der noch bei unserem letzten Fall in London – jener, bei dem wir einen Werwolf jagten – gelegen hatte, war geschmolzen. Stattdessen fiel nun nahezu unaufhörlich Regen aus grauen Wolken, ein kalter Wind pfiff durch die Gassen und an manchen Tagen schien es gar nicht richtig Tag werden zu wollen.
Dennoch konnte in diesen Tagen kaum etwas meine gute Laune trüben, korrespondierte ich doch nahezu täglich mit Lady Cunningham. Zwar wollte sie den Hauskauf hier in London über einen Makler abwickeln, mich jedoch hatte sie damit betraut, mir die verschiedenen Objekte anzuschauen. Schließlich würde ich ihre Beweggründe für den Umzug ebenso kennen wie die Erfordernisse, die sie an ein Haus richtete.
Waren wir zu Beginn meines Besuches noch bemüht gewesen, zukünftige Pläne möglichst vage zu diskutieren, so hatte es sich gegen Ende meines Aufenthalts, lange nach dem Auftauchen des jungen McDermott, eingebürgert, konkret zu werden.
Daher ging es bei dem Hauskauf nicht allein um die Bequemlichkeit Ihrer Ladyschaft oder deren Nichte, sondern auch um die Lage sowie die Räumlichkeiten einer Praxis.
Dass ich mich finanziell sowohl an dem Hauskauf als auch an der Einrichtung sowie dem Personal beteiligen würde, stand außer Frage. Wie ich schon einmal schrieb, bereitete das Finanzielle weder Holmes noch mir Sorgen, denn so manch ein Klient hatte sehr üppige Zahlungen geleistet.
»Um was genau handelt es sich eigentlich?«, wollte ich von dem jungen Polizisten wissen. Holmes hüllte sich während der Fahrt in Schweigen, mich hingegen trieb die Neugier. Was mochte vorgefallen sein, dass ein Inspector zu dieser fortgeschrittenen Stunde nach uns schickte?
»Details kann ich Ihnen keine nennen«, sagte der Beamte. Er schien schon bei dem Gedanken an das, was uns erwartete, zu erschauern. »Nur so viel – es geht um die ROBERT CLIVE!«
»Ein Schiff der Royal Navy?«
Der Constable schüttelte den Kopf. »East India Company. Es traf heute im Hafen ein. All das ist überaus mysteriös«, sagte er leise. »Details werden Sie bald erfahren. Aber mich würde sehr wundern, wenn da alles mit rechten Dingen zugegangen wäre!«
Holmes hob eine Braue. »Sie sprechen von Spuk und Klabautermännern?«
Der Constable wurde rot. »Ich sage nur, dass es äußerst mysteriös ist, Mister Holmes. Sie werden es bald sehen!«
*
Die Szenerie, als wir den Hafen erreichten, hatte etwas Unwirkliches. Die Lampen schwankten im Wind und ließen lange, zuckende Schatten entstehen. Entfernt hörten wir Musik und Lachen aus einem Pub dringen, die Beleuchtung der Schiffe schimmerte fahl und ihr Auf und Ab konnte einen schwindelig werden lassen, wenn man ihm zu lange zuschaute.
In einiger Entfernung standen ein paar Gefallene und schauten zu uns rüber; sie ahnten, dass sie in dieser Nacht kein Geschäft machen würden. Die Anwesenheit der Polizei hielt die Freier davon ab, ihr Vergnügen zu suchen.
»My goodness!«, entfuhr es mir, als ich mehrere Särge sah, die jemand ordentlich an der Kaimauer aufgestellt hatte. Nun erst fielen mir auch die Kutschen mehrere Bestatter auf.
Zwei Fotografen schossen Bilder vom Heck des Schiffs, um das sich offenbar alles drehte, und auch von dessen Galionsfigur; beides war beschädigt worden.
Ein älterer Journalist lief zwischen den Beamten herum und stellte Fragen, aber niemand schien Lust zu haben, sie zu beantworten.
Schließlich kam er zu uns, aber Holmes wies ihn ab; wir seien gerade erst angekommen und hätten nicht die leiseste Ahnung, was hier vorgefallen sei!
Nach wenigen Minuten, die wir für unsere eigenen Beobachtungen nutzten, hörten wir die Stimme von Inspector Simpson.
Er stand an Deck der ROBERT CLIVE und winkte uns zu. »Mister Holmes! Doktor Watson! Kommen Sie, dann setze ich Sie ins Bild! Wir haben alles unverändert gelassen. Aber ich warne Sie, das wird kein schöner Anblick!«
Wir folgten seiner Aufforderung, gingen einen Steg hinauf an Bord und blickten uns dort um. Drei Laternen brannten und in deren hellen Schein sahen wir mehrere Leichen auf den Planken liegen.
Woran sie gestorben waren, konnten wir leicht ausmachen, denn sie lagen in Pfützen aus Blut. Zudem starrte uns einer der Toten aus leeren Augen an, sodass wir die tiefe, klaffende Wunde in seiner Kehle entdecken konnten.
»Was in aller Welt ist hier passiert?«, fragte ich Simpson, nachdem wir uns an Deck umgeschaut hatten. Holmes und ich zählten fünf tote Matrosen, die allesamt in ihrem Blut lagen und offenbar auf stets die gleiche Weise vom Leben zum Tode befördert worden waren.
»Das wissen wir noch nicht!«, gab der Inspector zu. »Die ROBERT CLIVE wurde heute im Laufe des Abends erwartet. Als sie in den Hafen einlief, schien noch alles normal zu sein. Dann aber bemerkten die Arbeiter, dass etwas nicht stimmte, denn offenbar stand niemand am Ruder. Das Schiff wurde von der steigenden Flut in das Becken gespült, schlingerte dabei und rammte zwei Schiffe, ehe es an einer Kaimauer stoppte. Sofort gingen Matrosen und Offiziere der BOMBAY an Bord; ein weiteres Schiff der East India Company. Sie fanden die Leichen!«
Holmes und ich blickten hinüber zu einer kleinen Gruppe Seeleute, die etwas abseits an der Reling standen, die Gesichter auf das Wasser gerichtet.
»Was ist mit dem Rest der Crew?«, wollte Holmes nach ein paar Sekunden wissen. Der Anblick derart vieler Toter ließ auch ihn nicht unberührt.
»Sie liegen unter Deck; keiner kam mit dem Leben davon. Selbst den Captain erwischte es, Kapitän Benjamin Nolan! Insgesamt 75 Leichen. Wobei nur jenen an Deck die Kehlen durchgeschnitten wurden, die restlichen starben offenbar an Gift!«
»Was für eine grausame Tat«, wisperte ich. »Welch ein Teufel kann nur so etwas tun?«
»Bisher waren die schlimmsten Teufel, die mir in meiner Laufbahn begegneten, allesamt Menschen, mein Freund. Viele von ihnen wirkten so freundlich und umgänglich, dass man das Böse in ihnen übersehen musste. Ohne die Kraft der Beweise wäre ihnen niemals beizukommen gewesen!«
Simpson nickte, ehe er auf eine Tür deutete, die unter Deck führte. »Wollen wir?«
Wir folgten dem Mann die Stufen hinab.
In der Enge der Kabinen, der Kombüse und der Lagerräume setzte sich das Grauen fort. Die meisten Tote lagen in der Messe sowie in den Gängen zwischen den Räumen, aber auch in der Offiziersmesse und auf den Kojen.
Schließlich betraten wir die Kajüte des Kapitäns. Das Logbuch lag aufgeschlagen auf dem kleinen Schreibtisch, seine Tasche war gepackt.
Holmes reichte mir das schwere Buch.
»Erreichen London in wenigen Stunden. Nach dem Abendessen wollten wir anlegen. Die Crew hat sich während der gesamten Fahrt vorbildlich verhalten, auch während des Sturms am dritten Tag unserer Heimfahrt. Keine Disziplinarmaßnahmen, keine Beschwerden. Selbst unser Kabinenjunge fügte sich ein; er wurde zu einem beliebten Mitglied der Crew. Mit den typischen Späßen der Chinesen unterhielt er die Männer. Er war stets bereit, jede Arbeit zu übernehmen. Am Ende der Reise konnten wir ihm das Ruder anvertrauen!«
Ich legte das Buch beiseite. »Das war der letzte Eintrag!«
Mein Freund runzelte die Stirn. »Haben wir alle Toten gesehen?«, fragte er Simpson.
Dieser nickte. »Alle, Mister Holmes.«
»Ich habe keine Chinesen bemerkt!«
Simpson neigte den Kopf zur Seite, dann weiteten sich seine Augen. »Henderson!«
Sein Schrei war derart laut, dass man ihn auch noch im letzten Winkel des Schiffs hatte hören müssen.
Es dauerte nur ein, zwei Minuten, bis ein junger Mann in einem ähnlichen Anzug wie Simpson die Kajüte des Kapitäns betrat. »Sie haben gerufen, Sir?«
»Ich möchte, dass Sie jeden Toten persönlich inspizieren. Es scheint, als würde uns ein Chinese fehlen!«
»Verstanden!« Henderson wandte sich ab und eilte davon.
»Ihr Assistent?«, fragte ich, während Holmes begann, die Kajüte zu inspizieren.
»Ein aufgeweckter Bursche. Von seiner Erziehung und seiner Herkunft hätte er nicht das Zeug für Scotland Yard. Aber sein Geschick ...«
»So?«, wunderte ich mich.
Simpson nickte. »Ich traf ihn vor ein paar Monaten. Er war frisch bei der Truppe, noch grün hinter den Ohren. Während ich mich so umschaute, begann er plötzlich, laut über die Fakten nachzudenken. Sein Vorgesetzter wollte ihn zurechtweisen, aber ich merkte sofort, dass er recht hatte, und bat ihn, weiterzumachen. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich den Fall dank seiner Hilfe löste. Natürlich sprach ich sofort mit meinen Vorgesetzten und holte ihn zum Yard. Und da ist er nun!«
Holmes beendete seine kleine Untersuchung. Er hielt ein Spielzeug in Händen. »Offenbar wartet ein Kind auf den Captain!«, sagte er zu Simpson. »Ein Junge, wie ich annehme, um die sieben Jahre!« Er warf einen letzten Blick in die Runde. »Gehen wir an Deck?«
Die frische Luft tat gut. Erst hier draußen merkten wir, wie stickig es doch unter Deck gewesen war. Zum Glück hatten wir erst Februar; in den Sommermonaten wäre es unmöglich gewesen, die Leichen derart lange liegen zu lassen.
Ich sah, dass ein Polizeiarzt bei der Arbeit war, grüßte ihn kollegial und folgte dann Holmes zu den Seeleuten der BOMBAY.
Simpson übernahm die Vorstellung und wir erfuhren, dass Lieutenant Ronald McMillan die Crew führte, die auf der ROBERT CLIVE nach dem Rechten hatte sehen sollen.
»Was können Sie uns über das Schiff und seine Crew sagen?«, fragte Holmes höflich.
»Es wurde kurz vor der BOMBAY in Dienst gestellt. Captain Nolan war ein fähiger Mann. Ich diente bei zwei Fahrten unter ihm. Bei ihm gab es keine Disziplinprobleme und keine Ungerechtigkeit. Er forderte seine Männer, belohnte sie aber auch nach geleisteter Arbeit.«
Holmes nickte; er dachte wohl an den letzten Logbucheintrag. »Was tut ein Kabinenjunge?«, fragte Holmes anschließend.
»Er unterstützt den Kapitän, wenn dieser einen Laufburschen braucht. Außerdem hilft er in der Kombüse aus, wartet beim Dinner den Offizieren auf und trägt das Essen quer durchs Schiff, damit die Crew versorgt wird. Je länger er an Bord ist, umso mehr lernt er. Meist handelt es sich bei den Kabinenjungen um Knaben, die so das Handwerk erlernen und schließlich zu Matrosen werden.«
»Verstehe!«, sagte Holmes. »Ein Kabinenjunge könnte also durchaus Gift in das Essen mischen und so die Crew töten.«
»Schätze schon. Sie denken, es war der Schiffsjunge?«, fragte Lieutenant McMillan erstaunt.
Noch bevor mein Freund eine Antwort geben konnte, eilte Henderson herbei. »Kein Chinese, Sir!«
»Ja«, sagte Simpson zu dem Offizier der BOMBAY, »wir denken, es war der Schiffsjunge!«
*
Die Sonne ging bereits auf, als wir den Hafen in einer Kutsche der Polizei hinter uns ließen.
Müdigkeit kroch durch meinen Leib wie schleichendes Gift. Schon lange war ich nicht mehr derart lange wach gewesen. Aber Holmes hatte darauf bestanden, noch in der Nacht den Tatort zu besichtigen; zumindest, soweit dies im Schein der Lampen möglich gewesen war.
Ob er etwas gefunden hatte, vermochte ich nicht zu sagen, denn ich war bei diesen Untersuchungen nicht zugegen gewesen. Stattdessen hatte Holmes darauf bestanden, dass ich das Logbuch der Reise las.
So hatte ich die ganze Nacht im bequemen Sessel in der Kabine des Kapitäns gesessen und mir die diversen Eintragungen durchgelesen, während Holmes, begleitet von Henderson, durch das Schiff gegangen war, um Spuren zu suchen.
»Also, mein lieber Watson – was haben Sie erfahren?«, fragte Holmes nach wenigen Minuten. Mir waren fast die Augen zugefallen, sodass ich aufschrak und mich umschaute. »Bitte? Oh ja, der Fall!«
Ich sah ein schmales Lächeln um die Lippen meines Freundes spielen. Offenbar hatte er exakt jenen einen Moment abgepasst, um mich aus dem beginnenden Schlummer zu reißen.
»Die ROBERT CLIVE fuhr von London aus nach Hongkong, um Tee und Tuch abzuliefern und Seide sowie Gewürze aus China an Bord zu nehmen. Sie erreichte den Hafen der Kolonie planmäßig, die Fracht wurde rasch gelöscht und neue Ladungen an Bord genommen.«
Ich gähnte und versuchte, mich an die weiteren Abläufe zu erinnern. Dann fiel es mir wieder ein: »Captain Nolan sorgte dafür, dass sich die Crew zwei Wochen erholen konnte, ehe sie wieder in See stachen. In Hongkong nahm er ein weiteres Crewmitglied auf; einen Chinesen namens Charly Singh. Offenbar ist sein tatsächlicher Name unaussprechlich, daher nennt er sich Charly!«
Holmes winkte ab. Offenbar interessierte ihn nicht sonderlich, warum ein Chinese Charly hieß.
Rasch fuhr ich darum fort: »Singh bewarb sich bei ihm als Kabinenjunge, obwohl er bereits jenseits der Zwanzig war. Nolan nahm ihn dennoch an Bord, denn er konnte ein Empfehlungsschreiben eines britischen Offiziers vorlegen.«
»Interessant!«, sagte Holmes, und nun gähnte auch er. »Wie ging es weiter?«
»Im weiteren Verlauf lobte Nolan seinen neuen Kabinenjungen häufiger. Er schrieb, dass er selten einen fähigeren Burschen in dieser Position hatte als Singh. Er wolle jenem, der ihm den Mann empfohlen hatte, herzlich danken!«
»Steht in dem Logbuch, wer das war?«, fragte mein Freund.
»Nein, leider nicht. Das Empfehlungsschreiben war auch nicht beigefügt; ich habe sogar im Schreibtisch danach gesucht, es aber nicht gefunden.«
Holmes nickte lächelnd, sagte aber nichts.
»Schon früh geriet die ROBERT CLIVE in einen Sturm, überstand ihn aber ohne größere Schäden. Sie liefen eine bewohnte Insel an, um die Schäden zu reparieren. Anschließend verlief die Heimfahrt ohne weitere Komplikationen«, schloss ich meinen Bericht.
»Bis zu jenem Moment, da Charly Singh zum Mörder wurde!«, ergänzte Holmes.
»Richtig!« Ich schaute ihn an. »Nun, haben Sie etwas eruieren können?«
»Dies und das. Aber es ist noch zu früh, um auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Ihr Bericht fügt sich jedoch in das kleine Puzzle ein. Sobald ich mehr weiß, werde ich es Ihnen sagen.« Er gähnte wieder und schloss die Augen.
»Aber Holmes!«, rief ich aus. »Wie geht es denn nun weiter?«
»Ich werde später am Tag Erkundigungen einziehen. Auch für Sie habe ich eine Aufgabe, aber darüber sprechen wir nach dem Aufstehen!«
Ich nickte und schon bald dösten wir beide. Erst in der Baker Street weckte uns der Constable, der die Kutsche steuerte.
Mrs Hudson schenkte uns empörte Blicke, als wir uns die Treppe hinaufschleppten. Als sie jedoch erfuhr, wo und mit was wir die Nacht zugebracht hatten, zeigte sie großes Verständnis und versprach, Sandwiches zu machen, wann immer wir erwachen würden.
»Ein Herz aus Gold hat diese Frau!«, sagte Holmes, während er in sein Schlafzimmer ging. »Zu schade, dass ich sie nicht mitnehmen kann, wenn ich mich zur Ruhe setze. Zu schade ...!«
*
Wir schliefen bis in den Nachmittag hinein. Dann erfrischten wir uns, tranken Tee und aßen die Sandwiches, bevor wir uns wieder an die Arbeit machten.
Holmes verschwand in seinem Zimmer und kam eine halbe Stunde später als alter Seemann wieder hervor; humpelnd, auf einem Ohr taub und mit einem buschigen Bart im Gesicht, der ihn völlig verfremdete. Zudem trug er derbe Hosen, ein Hemd, wie es Matrosen an Bord tragen, und eine Jacke gegen die Kälte.
An einer Kette baumelte eine von Salzwasser angegriffene Uhr, die Tabaksdose wies die Gravur einer Meerjungfrau auf und auf dem Kopf saß eine alte Matrosenmütze.
»Holmes!«, rief ich erstaunt aus. »Man erkennt sie nicht wieder!«
»Das ist auch der Sinn der Sache!«, nuschelte er und selbst seine Sprache war mir fremd.
»Wohin wollen Sie in diesem Aufzug?«
»Hä?«
Ich hob meine Stimme. »Wohin wollen Sie in diesem Aufzug?«
»Hä?«
Ich wurde noch etwas lauter. »Wohin wollen ...« Dann schüttelte ich anklagend den Kopf und schalt mich selbst einen Narren. »Ach Holmes, kommen Sie schon!«
Er kicherte. »Zum Hafen. Es wird Zeit, ein paar Schurken auf den Zahn zu fühlen!«
»Es gibt mehr als einen?«
»Der Hafen ist voll davon. Ich muss nur herausfinden, wer in der Sache mit der ROBERT CLIVE drinsteckt!«
»Und was soll ich tun? Sie sagten, Sie hätten eine Aufgabe für mich!«
Er nickte. »Ich möchte, dass Sie zum Büro der East India Company fahren und in den Büchern der letzten Jahre nachschauen, ob für einen Charly Singh Heuer gezahlt wurde und auf welchem Schiff er damals fuhr. Anschließend besorgen Sie mir eine Liste der Offiziere und der Crew jenes Schiffs!«
»Gut! Ich hoffe nur, sie gewähren mir Einblick. Diese Leute sind nicht gerade dafür bekannt, Außenstehenden solche Listen zu zeigen!«
»Sie haben gerade eine komplette Mannschaft verloren!«, erwiderte Holmes. »Ich vertraue auf Ihren Umgang mit Menschen, dass Sie das schaffen!«
»Wenn Sie das sagen!«
»Hä?«, rief er.
»Holmes!«
Lachend machte er sich auf den Weg.
*
Einst war die East India Companie ein mächtiges Wirtschaftsunternehmen, dem große Teile der Kolonien gehörten. Sie herrschten durch Ausbeutung und Gewalt, Korruption und offene Feindschaft. Es war keine gute Zeit für das Empire, denn die Company verstand es, den Ruf unseres schönen Landes zu beschmutzen.
Schließlich, aber auch das lag schon etliche Jahrzehnte zurück, griff die Regierung ein. Es kam zu Regulierungen, und inzwischen stellte die East India Company einen Arm unserer Regierung dar. Einzelne Personen mochten auf diese Weise zwar ihren Einfluss oder auch ihre dubiosen Einnahmen verloren haben, für das Empire selbst war es jedoch deutlich besser.
Und auch die Eingeborenen in den Kolonien profitierten davon, kamen sie nun doch in den Genuss unserer Freundschaft. Ja, man kann sagen, dass wir so manche Wilden kultivierten!
Hatte sich bei der Company auch einiges verändert, so blieb manches doch noch immer, wie es einst war.
So ließen sie sich nach wie vor nicht gerne in die Bücher schauen!
Der Mitarbeiter, dem ich mein Anliegen vortrug, schaute entsprechend indigniert und machte mich darauf aufmerksam, dass dies vertrauliche Dokumente seien. Zwar konnte ich nicht sehen, warum die Heuer für Kabinenjungen der Geheimhaltung unterlagen, aber es war klar, dass der Mitarbeiter der East India Company nicht mit sich reden lassen wollte.
Fast hätte ich unverrichteter Dinge abziehen müssen, wäre mir nicht das Glück hold gewesen. Dieses betrat in Gestalt des großen, Ehrfurcht gebietenden und ebenso genialen Mycroft Holmes das große Büro, in dem ich vorstellig geworden war.
Nach einer herzlichen Begrüßung, etwas Geplauder und seiner Bemerkung, dass ich wohl mein Glück erneut gefunden habe – ich fragte nicht nach, denn wahrscheinlich war die Antwort ohnehin offensichtlich – fragte er nach dem Grund für meinen Besuch in diesen Räumlichkeiten.
Hatte mich der Mitarbeiter der East India Company zuvor mit unverhohlenem Widerwillen behandelt, so änderte sich dies nun, als Mycoft Holmes für meine Sache eintrat und ihm klarmachte, dass er mir sofort die gewünschten Unterlagen zu besorgen habe!
Während wir warteten, erkundigte ich mich bei Holmes’ Bruder nach dessen Gründen für einen Besuch bei der East India Company und erfuhr, dass auch ihn das Rätsel der ROBERT CLIVE umtrieb. Er habe sich nach Fortschritten erkundigen wollen, sei nun aber beruhigt, da er den Fall in besten Händen wisse. Er selbst könne jedoch nichts zur Auflösung beitragen, da er selbst keine Kenntnisse in dieser Sache besaß.
Ich versprach, ihn bei Gelegenheit im Diogenes Club zu besuchen, dann verabschiedete er sich.
Kurz darauf erhielt ich die gewünschten Listen und machte mich an die Arbeit.
Dank der Gründlichkeit, mit der die Angestellten die Company führten, dauerten meine Recherchen nicht lange. Noch vor dem Dinner hatte ich beisammen, was ich suchte, und kehrte frohen Mutes in die Baker Street zurück.
Holmes, so erfuhr ich, war noch nicht zurückgekehrt. Mrs Hudson drückte mir jedoch ein Telegramm in die Hand, welches kurz vor meiner Rückkehr abgegeben worden sei.
Ich öffnete es und fand eine kurze Anweisung meines Freundes darin.
Treffen Sie mich um neun im Drunken Sailor am Hafen; die Matrosen können Ihnen den Weg weisen. Bringen Sie die Listen der East India Company und Ihren Revolver mit und bedienen Sie sich aus meinem Fundus; Sie dürfen nicht erkannt werden!«
Seufzend informierte ich Mrs Hudson, dass mir keine Zeit für ein gemütliches Dinner bleiben würde. Stattdessen musste ich mich sputen, wollte ich nicht zu spät zu diesem Treffen erscheinen. Holmes mochte den Umgang mit Masken und Schminke gewohnt sein. Für mich stellte eine Verkleidung eine Herausforderung dar, die ich nur mit etwas Zeitaufwand meistern konnte.
*
»Sie sehen gut aus«, sagte Holmes, als ich mich neben ihn an einen Ecktisch gesetzt hatte. Von hier, so bemerkte ich, konnte man den Schankraum im Blick behalten, ohne selbst allzu auffällig zu wirken. »Haben Sie, um was ich Sie gebeten habe?«
Unter dem Tisch reichte ich ihm meine Abschriften. Er überflog sie unauffällig, dann nickte er. »So habe ich mir das gedacht. Nicht mehr lange, und die Falle schnappt zu. Aber seien Sie gewarnt, es wird gefährlich. Die Männer, die wir heute Nacht stellen, haben nichts mehr zu verlieren!«
Eine recht offenherzig gekleidete Kellnerin erschien und stellte ungefragt einen Krug mit Bier vor mich auf den Tisch. Dann hielt sie die Hand auf.
Ich kramte ein paar Münzen hervor und zahlte das Getränk, obwohl ich nicht vorhatte, davon zu trinken. Der Krug war alles andere als sauber und das Bier sah aus, als habe es deutlich bessere Zeiten gesehen.
Holmes schien meine Bedenken zu erahnen, meine Ablehnung jedoch nicht zu teilen. »Trinken Sie! Wir müssen uns ganz normal verhalten. Normal im Sinne der restlichen Gäste!«
Seufzend ergab ich mich meinem Schicksal und nahm einen Schluck. »Das ist schauderhaft, Holmes!«
»Ich weiß!« Er kicherte. »Hab schon drei davon getrunken. Zum Glück ist es dünn, sodass wir den Alkohol nicht merken werden.«
Ich nahm wieder einen Schluck, wischte mir den Schaum von den Lippen und bemühte mich, nicht allzu angewidert zu wirken.
»Da!«, zischte Holmes nach ein paar Minuten, in denen wir schweigend das Treiben beobachtet hatten. »Er geht!«
Ich sah einen Chinesen von etwa zwanzig Jahren aufstehen, ein paar Münzen auf den Tisch legen und dann das Lokal verlassen.
»Ein Stammgast!«, sagte Holmes. »Haben Sie es bemerkt?«
»Nein! Woran denn?«
»Die Kellnerin kennt ihn, sie weiß, dass er bezahlt. Von Ihnen wollte sie das Geld hingegen gleich. Von mir übrigens auch!«
»Verstehe!«, erwiderte ich, zwängte mich zwischen zwei Stühlen hindurch und verließ ebenfalls den Drunken Sailor. Der Chinese ging einige Yards vor uns durch die Dunkelheit. Besonders eilig hatte er es nicht, während er da so die Gasse entlang schlenderte.
»Ist das Charly Singh?«, fragte ich Holmes, als dieser wieder neben mir stand.
»So ist es. Kommen Sie, wir dürfen ihn nicht aus den Augen verlieren! Und schwanken Sie, wir sind nicht mehr nüchtern!«
Wir folgten dem Chinesen mit mehreren Yards Abstand. Hin und wieder drehte er sich zwar um, sah aber nur zwei scheinbar betrunkene, längst aus dem Dienst geschiedene Matrosen, die scheinbar den gleichen Weg hatten.
Nach einer Weile bog Singh in eine Seitengasse ab. Wir ließen ihm etwas Vorsprung, dann schauten wir um die Ecke und sahen gerade noch, dass er ein altes Lagerhaus betrat und die Tür hinter sich schloss.
»Ah, so ist das!« Holmes bedeutete mir, ihm zu folgen.
Wir liefen in die Gasse hinein, öffneten vorsichtig besagte Tür und schauten in die Halle.
Diese war überwiegend leer. Lediglich ein paar Kisten standen links an der Wand. In der Mitte der Halle sahen wir Charly Singh sowie eine Gruppe Matrosen, darunter auch McMillan. Beleuchtet wurde die gesamte Szene durch zehn Öllampen, die an einem Seil über der kleinen Gruppe hingen und so ein helles Licht spendeten.
»Wir haben die Ladung gefunden!«, sagte McMillan. »Das war gute Arbeit. Bis auf das Ende!«
»Notwendig!«, sagte der Chinese. Dann hielt er die Hand auf. »Die Belohnung bitte! 500 Pfund!«
Holmes gab mir ein Zeichen. Ich zog die Pistole und gemeinsam traten wir ins Licht.
»Das Spiel ist aus!«, rief Holmes gebieterisch.
»Wer sind denn Sie«, fragte McMillan erschrocken. Dann kniff er die Augen zusammen. »Sherlock Holmes?«
Mein Freund zog sich den falschen Bart ab. »Gratulation, Sie haben mich erkannt. Und nun – wenn Sie sich bitte ergeben würden! Die Polizei wird in Kürze eintreffen!«
»Sie werden uns hängen!«, rief einer der Matrosen. »Wir sind alle des Todes!«
McMillan schien nicht zu wissen, was er tun sollte. Er hob die Hände, Angstschweiß lief über sein Gesicht.
Charly Singh hingegen hatte keine Lust darauf, sich der britischen Gerichtsbarkeit zu stellen. Er stieß einen Fluch aus, dann lief er los. Dabei stieß er McMillan beiseite und flitzte flink wie ein Wiesel zu einer kleinen Tür am Ende der Halle.
»Ihm nach!«, rief Holmes. »Schießen Sie, wenn es nicht anders geht. Er darf nicht davonkommen!«
Wir liefen los, um den Chinesen zu stellen.
Dieser wandte sich kurz um, sah uns kommen und stieß ein boshaftes Lachen aus. Dann tat er etwas, womit wir nicht gerechnet hatten. Plötzlich hielt er ein großes Messer in Händen und mit diesem kappte er das Seil, an dem die Öllampen hoch über uns aufgehängt waren.
Nun, ohne Halt, stürzten sie nieder, heißes, teils brennendes Öl ergoss sich auf die Seeleute darunter und schon schrien diese auf, als sich ihre Kleidung entzündete.
»Was in aller Welt ...« Ich blieb wie angewurzelt stehen, aber Holmes zog mich fort.
Als wir die Halle mit den brennenden Leibern verließen, sah ich Simpson und seine Leute eintreten. Sie eilten den Brennenden sofort zur Hilfe, während wir Singh verfolgten.
Der Chinese rannte derweil um sein Leben. Eine schmale Straße entlang, dann links und wieder links, bis wir uns wieder ganz in der Nähe des Drunken Sailors befanden.
Wir blieben ihm auf den Fersen, hätten ihn aber wahrscheinlich nicht bekommen, wäre uns nicht das Glück zur Hilfe gekommen. Gerade als sich Singh nach uns umschaute, taumelte ein Betrunkener auf die Straße, übersah ihn und schon lagen beide auf dem Boden.
»Stopp, Charly Singh!«, rief Holmes, als sich der Chinese wieder aufrappeln wollte. »Stopp, oder wir schießen!«
Tatsächlich hielt der Chinese inne. Er wandte sich um, hob den Arm und schleuderte jenes Messer, mit dem er zuvor das Verhängnis in der Halle ausgelöst hatte.
Holmes warf sich zur Seite und riss mich mit. Keine Sekunde zu früh, denn schon spürte ich den Luftzug, den die Waffe im Vorbeiflug verursachte.
Singh nutzte diese Gelegenheit, kam mit einem Sprung auf die Beine und floh wieder.
Ich hielt inne, zielte und drückte ab.
Die Kugel erwischte das Bein des Mannes, so, wie ich es gewollt hatte. Der Chinese schrie auf und stürzte. Diesmal, so wussten wir, würde er nicht fliehen. Wir hatten ihn!
*
»Woher in aller Welt wussten Sie, dass wir die Bastarde heute schnappen würden?«, fragte Simpson, als wir später beisammensaßen.
»Ich ahnte es, denn die Bande konnte sich nicht allzu viel Zeit lassen!« Holmes zündete sich eine Pfeife an. Dabei schaute er zu Singh, der in Eisen gelegt worden war und nun darauf wartete, in das Gefängniskrankenhaus transportiert zu werden. Ich selbst hatte die Wunde versorgt, damit er ihr nicht erlag. Keinesfalls sollte er auf diese Weise davonkommen. Für ihn musste der Henker eine besonders hübsche Schlinge knüpfen ... Und selbst dann war der Tod zu schnell und leicht für das, was er getan hatte!
»Wann wussten Sie, dass es eine Verschwörung gab?«, hakte Simpson nach.
»Als ich im Schreibtisch des Kapitäns das Empfehlungsschreiben eines Offiziers fand, mit dem sich Singh offenbar um die Stelle beworben hatte. Watson fand die Bestätigung hierfür im Logbuch!«
»Sie hatten es!«, rief ich aus.
Holmes nickte. »Leider trug es nur einen Schnörkel als Unterschrift. Nolan mochte er etwas sagen, uns nicht. Daher bat ich Watson, Recherche zu betreiben! Er fand heraus, dass Singh und McMillan gemeinsam auf einem Schiff dienten und dies vor etwa einem Jahr!«
»Aber der Zweck ...«
»Ging in Rauch auf, wie ich fürchte. Wie die Verschwörer!« Holmes seufzte. »Konnten Sie einen retten?«
Simpson schüttelte den Kopf. »Die Flammen ließen sich nicht löschen. Es war, als würden sie sich all unseren Versuchen widersetzen!«
»Vermutlich bereitete Singh etwas vor für den Fall, dass man ihnen auf die Schliche käme. Ein besonderes Feuer, denn hierfür sind die Chinesen bekannt!«
Er nahm einen Zug an der Pfeife. »Ich denke, in den Kisten waren Drogen. Singh schmuggelte sie nach London, hier sollte sie McMillan in Empfang nehmen.«
»Aber warum die Leichen? Warum hat er die Crew ermordet?«, wunderte sich Simpson.
»Das perfekte Manöver. Er tötete die Crew und steuerte das Schiff so, dass es wie verlassen im Hafen ankam. McMillan stand mit seinen Leuten bereit, um nach dem Rechten zu sehen. Sie ließen Singh davonkommen, sicherten die Drogen und schlugen dann Alarm. Auf diese Weise gerieten sie selbst nicht in Verdacht, das Verschwinden des Chinesen blieb lange unbemerkt ...«
»Und Sie haben das alles woraus geschlussfolgert?«
Holmes lachte. »Wie ich schon sagte, weckte das Empfehlungsschreiben meinen Verdacht. Heute verkleidete ich mich als Matrose und trieb mich am Hafen herum. Ich beobachtete McMillan und Singh, sah sie eine geheime Botschaft austauschen und schaffte es, sie zu lesen. ›Halb zehn, üblicher Treffpunkt!‹ Daraufhin informierte ich Sie und Watson, der die restlichen Beweise lieferte. Hätte ich nur geahnt, wo dieser Treffpunkt ist, könnten McMillan und die anderen noch leben.«
»Sie haben ihre Strafe bekommen«, sagte Simpson. Dann reichte er Holmes die Hand. »Wie immer ein Vergnügen!«
Und so endete eines der grausigsten Verbrechen, welches ich jemals selbst erlebt habe. Und es zeigte mir, zu welch bestialischen Taten fremde Völker doch fähig sind; und dies mit dem kalten Lächeln der Chinesen!
Hatten wir und auch die Öffentlichkeit darauf gehofft, zumindest Singh vor Gericht zu sehen, wurden wir auch darum betrogen. Die Wärter fanden ihn zwei Tage nach seiner Verhaftung tot in der Zelle; er hatte sich selbst gerichtet.
E N D E