Читать книгу 10 SHERLOCK HOLMES – Die neuen Fälle Box 4 - divers - Страница 13
ОглавлениеAls der März zu Ende ging, neigte sich auch meine Zeit in der Baker Street ihrem Ende entgegen. Ich hatte meine Zeit damit zugebracht, eine Bleibe für Lady Cunningham zu finden, und nun standen zwei Objekte zur Auswahl, die sowohl ihren als auch meinen Anforderungen genügten. Sollte es zu einem Kauf kommen, so stand einem raschen Umzug nichts im Wege.
Holmes sah dies alles mit einigem Erstaunen, aber auch mit Erheiterung. Er behauptete, unsere Zuneigung zueinander bereits vom ersten Moment an bemerkt zu haben, aber in diesem besonderen Fall erlaubte ich mir doch einige Zweifel.
Ich korrespondierte weiterhin täglich mit Lady Cunningham, inzwischen waren es auch sehr intime Zeilen, wie ich zugeben muss, denn Amor hatte sehr genau gezielt, und auch Holmes war in diesen Tagen überaus beschäftigt.
Nach dem Fall mit der ROBERT CLIVE traten zwei weitere Klienten an ihn heran und schilderten ihm ihre Lage. Es waren keine großen Fälle, auch wenn es einer davon unter der Schlagzeile Erpressung in höchsten Kreisen vereitelt in die Times schaffte. Da es sich gerade bei jener Begebenheit um einen Fall von höchst delikaten Verwicklungen handelte, kann ich darauf nicht näher eingehen. Und was die andere Sache anbelangt, so war sie derart langweilig und gewöhnlich, dass es reine Papierverschwendung wäre, darüber berichten zu wollen. Sollten Sie jedoch in nächster Zeit zu Zahnarzt Mannings in der Nähe der Waterloo-Station gehen, so sprechen Sie ihn ruhig auf den Goldzahn des Viscount an; er wird Ihnen die Story blumig ausgeschmückt darlegen!
Auch der März brachte einige Aufgaben für Holmes, in die ich jedoch nur am Rande eingebunden war. Einmal benötigte er meine Hilfe, um eine Verletzung zu behandeln, und einmal bat er mich, bei einer Besichtigung eines Hauses ein besonderes Auge auf den Makler zu werfen.
Auch hieraus ergaben sich keine nennenswerten Geschichten, die ich Ihnen näherbringen könnte.
Obwohl es eine Anekdote wert ist, erwähnt zu werden. So verkleidete sich Holmes in einem der erwähnten Fälle, er arbeitete für Lestrade, als einfacher Arbeiter und trieb sich mehrere Tage im East End herum. Dabei freundete er sich auch notgedrungen, und weil es ihm überaus nützlich war, mit einer gewissen Lily Hancock an, eine Gefallene aus Devonshire, die einst mit großen Hoffnungen nach London gekommen war und hier als Prostituierte strandete.
Tage, nachdem Holmes seine Verkleidung abgelegt und in die Baker Street zurückgekehrt war, erschien besagte Lily Hancock und bat um eine Unterredung – sie habe gehört, dass Holmes in außergewöhnlichen Fällen helfen könne, und auch wenn sie eine Gefallene sei, habe sie doch ihre Liebe für einen Mann entdeckt, der nun spurlos verschwunden sei. Da er sich mit Eddy ›the Menace‹ angelegt habe, befürchte sie nun das Schlimmste.
Holmes versprach, sich der Sache anzunehmen. Drei Tage später informierte er Lily, dass es dem Mann gut gehe, er jedoch die Stadt habe verlassen müssen und ihr alles Gute wünsche.
Es war einer dieser raren Momente, in denen ich Zeuge von Holmes’ ganzer Gutherzigkeit wurde. War er sonst allzu oft kühl und pragmatisch, so bewies er doch manchmal ein Fingerspitzengefühl, wie es selbst Geistlichen nicht immer zu eigen ist!
Ich nahm schon an, dass oben erwähnte Episode einen Schlusspunkt für den Monat setzen würde, denn er ging wie bereits gesagt zu Ende, als uns eines Morgens, wir hatten gerade unser Frühstück beendet und wollten uns den Tagesbeschäftigungen zuwenden, eine Frau im mittleren Alter aufsuchte.
Schon als Mrs Hudson das Wohnzimmer betrat, um sie anzukündigen, wirkte unsere Besucherin äußerst aufgebracht und nervös. Sie ließ Mrs Hudson nicht einmal ausreden, sondern drängte sie beiseite, eilte mit festem Schritt zu Sherlock Holmes und reichte ihm die Hand.
»Mein Name ist Emilia Moore und ich schwöre Ihnen, dass ich keinesfalls meinen Verstand verloren habe, ganz gleich, was immer Sie auch von mir gehört haben!«
Holmes betrachtete die Dame erstaunt, ehe er unsere etwas indigniert schauende Haushälterin bat, der Dame Tee und auch ein paar Sandwiches zu servieren; sie habe eine längere Fahrt hinter sich und es sei wohl anzunehmen, dass sie bei all der Hast des übereilten Aufbruchs keine Zeit fand, zuvor zu frühstücken.
»Woher … wissen Sie all das?«, fragte Mrs Moore, während sie sich fassungslos von mir zu einem Sessel führen ließ. »Haben Sie bereits mit meinem Mann gesprochen? Er ist auf dem Weg hierher, aber er wollte erst am Nachmittag eintreffen. Haben sich seine Pläne geändert?«
Sie schaute sich gehetzt um; so, als würde ihr Mann bereits in einer Ecke stehen und nur darauf lauern, von ihr entdeckt zu werden.
»Nein, nein, keine Sorge«, erwiderte Holmes freundlich. »Sehen Sie – mein Beruf bringt es mit sich, dass ich Dinge sehe, die anderen entgehen. Ich habe diese Fähigkeit zu einer Kunst erhoben, meine Beobachtungen laufen ganz automatisch ab.«
»Und woraus haben Sie all das geschlossen, was Sie Ihrer Haushälterin sagten?«, fragte Mrs Moore erstaunt.
»Beginnen wir mit dem übereilten Aufbruch. Sie werden mir zustimmen, dass sich eine Frau, ehe sie das Haus verlässt, einige Zeit nimmt, um ihr Äußeres in Ordnung zu bringen und sich entsprechend zu kleiden. Sehe ich jedoch eine hübsche und zivilisierte Dame mit zwei verschiedenen Haarspangen, so schließe ich daraus, dass sie sich für die Pflege nur wenig Zeit nehmen konnte. Auch fällt mir auf, dass Sie Ihren Handschuhen keinen zweiten Blick schenkten, ehe Sie diese anzogen; auf der linken Oberseite ist ein kleiner Fleck zu sehen, der schon vor ein oder zwei Tagen entstand. Hätten Sie sich sorgsam auf ihren Ausflug vorbereitet, wäre er Ihnen niemals entgangen!«
Unsere Besucherin errötete. Rasch entledigte sie sich ihrer Handschuhe und stopfte sie achtlos in ihre Tasche. Auch die Haarklammern entfernte sie, schüttelte das Haar aus und ließ es offen über die Schultern fallen. Zu meinem Erstaunen musste ich zugeben, dass sie auf diese Weise noch hübscher aussah.
»Und was die lange Fahrt anbelangt, so kann ich sogar sagen, dass sie auf der rechten Seite des Abteils saßen und schliefen!«
»Wie nur?«, rief Mrs Moore.
»Viele Leute schauen während der Fahrt aus dem Fenster. Bei längeren Fahrten, vor allem am frühen Morgen, fallen einem hierbei leicht die Augen zu. Sie saßen offenbar rechts, denn das Fenster befand sich zu Ihrer Rechten. Sie schauten hinaus, ihr Kopf fand Halt an der Stütze und Sie schliefen ein. Der Stoff Ihres Kragens und auch jener an der Schulter sind völlig verknittert, während die linke Seite glatt und ordentlich ist.«
»Sie haben recht, und zwar mit allem! Nun, da Sie es so erklären …« Sie lächelte scheu. »Und ich fürchtete bereits, mein Mann sei bei Ihnen gewesen! Aber nein, er konnte ja nicht wissen …«
Da Mrs Hudson den Tee und die Sandwiches servierte, blieb Mrs Moore etwas Zeit, um sich zu sammeln.
»Nun, was führt Sie her?«, fragte Holmes, nachdem unsere Besucherin einen ersten Schluck genommen und auch von dem Sandwich gekostet hatte.
»Es geht um die Vorgänge in unserem Haus, Mister Holmes!«, sagte sie, nun schon sehr viel ruhiger. »Auch wenn mein Mann fürchtet, ich könne allmählich den Verstand verlieren, glaube ich doch daran, dass sie real sind. So real wie Sie und ich, Mister Holmes!«
»Welche Vorgänge sind das?«, fragte mein Freund sanft. Dabei presste er die Fingerspitzen beider Hände aufeinander und schloss die Augen, um sich konzentrieren zu können.
»Ich lernte meinen Mann Frederic vor einigen Jahren kennen. Er ist ein gut aussehender und wohlhabender Mittfünfziger, der einst in der Armee diente, eine Weile in den Kolonien lebte und dort sein Glück machte. Er kehrte als Junggeselle nach England zurück, und so lernte ich ihn kennen; freundlich, spendabel und ganz der Gentleman.«
Sie legte eine Pause ein, um sich zu stärken. Holmes sagte dazu nichts, doch seine linke Braue hob sich als Zeichen seiner Ungeduld.
»Wir heirateten vor fast genau fünf Jahren und bisher fiel kein Schatten auf unsere Ehe. Ich schenkte Frederic einen Sohn sowie eine Tochter, beide sind gesund und aufgeweckt, soweit man dies in diesem Alter beurteilen kann. Wir leben in einem Haus außerhalb von Leicaster, umgeben von einem großen Garten. Unsere nächsten Nachbarn leben über eine Meile entfernt; einst gehörte das Grundstück einem Baron, der jedoch ohne Nachkommen verstarb. Mein Mann erwarb es günstig und ließ es renovieren.«
Wieder nahm sie einen Bissen. Holmes bewegte den Fuß ungeduldig, denn noch immer war Mrs Moore nicht zum Kern des Problems vorgestoßen.
»Die Schwierigkeiten«, hob unsere Besucherin an, als habe sie die Geste verstanden, »begannen vor etwa einem Monat. Ich war an einem der wenigen trockenen Tage im Garten und ging dort ein wenig spazieren, als ich hinter dem Fenster des Dachbodens eine Bewegung wahrnahm. Ich blickte hinauf und sah eine weiße Gestalt am Fenster stehen. Kaum kreuzten sich unsere Blicke, als sie auch schon verschwand. Ich kenne unser Personal und wusste, dass es sich bei der Gestalt keinesfalls um einen Bedienten handeln konnte. Was also hatte eine Fremde in unserem Haus verloren? Ich eilte sofort hinein, doch als ich den Boden erreichte, war dort niemand zu finden. Ich befragte das Personal, aber niemand hatte eine Fremde kommen oder gehen sehen!«
»Wo befand sich Ihr Mann zu diesem Zeitpunkt?«, fragte Holmes, ohne seine Augen zu öffnen.
»Er war in Leicaster. Zwar geht er keiner geregelten Arbeit nach, doch hin und wieder veröffentlicht er in einem lokalen Blatt Rezensionen oder auch eigene Kurzgeschichten. Es ist ein Hobby, nicht mehr, aber da er sein Geld bereits machte, kann er es sich erlauben, sich diesem viele Stunden am Tag zu widmen.«
»Und was sagte er, als Sie von den Ereignissen berichteten?«, wollte mein Freund wissen.
»Er tat es ab. Vielleicht, so mutmaßte er, sah ich mein eigenes, verstelltes Spiegelbild. Etwas, das ich zu diesem Zeitpunkt nicht einmal ausschließen wollte. Und in den Tagen nach diesem Ereignis blieb es auch ruhig. Dann aber geschah etwas, das mich in Angst versetzte! Ich saß im Nähzimmer im ersten Stock des Hauses, als ich über mir, auf dem Boden, Schritte hörte. Ich bin mir völlig sicher, Mister Holmes!«
Ich rief sofort nach meinem Mann und gemeinsam gingen wir hinauf. Doch als wir den Speicher betraten, war dort keine Menschenseele zu entdecken! Wir öffneten die Schränke und Kisten, aber abgesehen von alten Kleidern, etwas Porzellan und Kinderspielzeug, das dem verstorbenen Baron gehört hatte, fanden wir nichts.«
»Bemerkenswert!«, sagte Holmes. »Wie ging es weiter?«
»Mein Gemahl, der sich zuvor im Salon aufgehalten hatte, tat die Sache wieder ab. Offenbar habe ich mir die Schritte eingebildet. Oder aber das Holz des Fußbodens habe geknackt; das Wetter würde dem Holz zu schaffen machen.«
Holmes nickte gedankenverloren. »War dies das letzte Ereignis?«
»Nein!« Unsere Besucherin seufzte. »Das wäre zu schön gewesen. Aber erst gestern sah ich jene Gestalt wieder. Und nicht nur das – auch mein Sohn sah sie. Mehr noch, er sah sie zuerst! Ich ging mit ihm an der frischen Luft spazieren, als er jemandem im Haus zuwinkte. Ich blickte mich um und da sah ich die Gestalt hinter dem Bodenfenster. Sie winkte meinem Sohn zu, verschwand dann aber.«
»Ich nehme an, Sie gingen sofort zurück ins Haus?«, fragte Holmes.
»Auf dem schnellsten Wege. Ich nahm diesmal Conway mit, unseren Butler. Aber wie Sie schon ahnen werden, war der Boden wieder leer!«
»Und Ihr Mann?«
»In Leicaster. Als ich ihm davon berichtete, wollte er es wieder abtun, aber mein Sohn bestätigte, dass er die Frau gesehen habe. Nun ist er kaum vier und ich sah Frederic an, was er dachte – der Junge würde nachplappern, was ich sagte. Diesmal aber bestand ich darauf, etwas zu unternehmen. Da ich von Ihnen und Ihren Erfolgen hörte, bestand ich darauf, dass Frederic Sie und niemand anderen aufsuchen solle!«
»Er sagte zu?«, fragte ich.
Mrs Moore nickte. »Er versprach, es heute zu erledigen, da er ohnehin in London zu tun habe. Ich stand früh auf, um ihn zu verabschieden. Dabei hörte ich, wie er zu Conway sagte, er würde vor allem Doktor Watson bitten, sich der Sache anzunehmen, denn offenbar sei ich nervlich instabil!« Tränen glitzerten in den Augen der Dame. »Daher musste ich zu Ihnen kommen. Ich bin nicht verrückt!«
»Diesen Eindruck erwecken Sie auch nicht«, beruhigte Holmes unsere Besucherin. »Beschreiben Sie die Dame, die Sie gesehen haben, bitte!«
»Sie ist etwa in meinem Alter, ihre Haare, soweit ich es sehen konnte, sind lockig und braun. Zudem trägt sie ein weißes Kleid mit langen Armen und Rüschen an den Bündchen. Oh, und um den Hals trägt sie eine Kette mit Kreuz!«
»Sie hatten einen guten Blick auf sie?«, versicherte sich Holmes.
»Einen sehr guten! Das Fenster auf dem Dachboden ist recht groß. Zudem wird es stets sauber gehalten, genau wie alles andere. Eine Gaube beschattet es, sodass auch die Sonne kaum stört.«
»Das ist ein interessantes, kleines Problem, das sie da haben«, sagte Holmes nach einigen Sekunden des Nachdenkens. »Wir werden den Besuch Ihres Mannes abwarten, aber ich bin mir schon jetzt sicher, dass wir um einen Besuch in Ihrem Haus nicht herumkommen.«
»Ich wäre erfreut, Sie bei uns begrüßen zu dürfen.« Sie zögerte kurz. »Frederic weiß nicht, dass ich bei Ihnen vorstellig wurde und es wäre besser, wenn er es nicht erführe!«
»Keine Sorge, wir werden es diskret behandeln«, sagte Holmes. »Eine letzte Frage noch – gibt es irgendwelche Streitigkeiten zwischen Ihnen und Ihrem Mann? Oder fürchten Sie, er könne eine Affäre haben?«
»Nichts von alledem!«, rief Mrs Moore. »Frederic ist mir zugetan wie eh und je. Wir haben keine Sorgen, Mister Holmes – bis diese eine Sache nun.«
Holmes nickte und verabschiedete die Dame. Dabei versprach er, sich ihres Falles so bald wie möglich anzunehmen.
»Nun?«, fragte ich, nachdem wir unter uns waren. »Was meinen Sie?«
»Noch meine ich nichts«, erwiderte mein Freund lächelnd. »Warten wir ab, was Mister Moore zu sagen hat. Möchten Sie die Zeit nutzen und Ihren täglichen Brief schreiben? Lady Cunningham wird wissen wollen, was zum Frühstück gab.«
*
Mister Moore war das Gegenteil von seiner Frau. Dies bemerkten wir schon beim Eintreffen. Er reichte Mrs Hudson seine Karte und wartete geduldig, bis wir ihn hineinbaten.
Auch dann, mit einem Drink in der Hand, wirkte er ruhig, fast schon amüsiert von der ganzen Angelegenheit.
Ich wiederhole an dieser Stelle nicht mehr jedes Wort, denn im Grunde bestätigte Mister Moore, was uns seine Gemahlin bereits berichtete. Jedoch ließ er keinen Zweifel daran, dass er ihr kein Wort glaubte. Weder hatte er je eine Frau am Fenster des Dachbodens gesehen, noch besagte Schritte gehört. Zwar gab er zu, dass dies aufgrund seines Aufenthaltsortes zur fraglichen Zeit unmöglich gewesen wäre, doch machte er auch klar, dass keiner den Boden hätte verlassen können, da seine Gemahlin sofort zur Treppe geeilt sei. Und an Gespenster würden kultivierte, aufgeklärte Männer wie wir doch hoffentlich nicht glauben!
Nachdem er seinen Bericht beendet hatte, wandte er sich an mich und fragte, was ich als erfahrener Arzt von alledem hielt.
Ich konnte Holmes ansehen, dass er eine ausweichende Antwort erwartete. Eine, die uns einen Besuch in dem Haus ermöglichen würde. Wie ich selbst schien auch mein Freund zu fürchten, dass Mister Moore die Sache ohne eine Untersuchung durch uns abschließen wollte.
Daher sagte ich, dass solche Wahnvorstellungen viele Ursachen haben könnten. Auf jeden Fall sei es erfolgversprechend, wenn Unbeteiligte dem Patienten vor Augen führten, dass er lediglich Hirngespinsten aufsaß.
Zu meinem Erstaunen reagierte Moore völlig anders, als erwartet. Er schien froh, dies aus meinem Munde zu hören.
»Doktor Watson, ich hatte nicht zu hoffen gewagt, dass Sie und ihr berühmter Freund einen Grund sähen, uns zu helfen. Aber nun sagen Sie es selbst – würde es Ihnen etwas ausmachen, zwei oder drei Tage unsere Gäste zu sein und Emilia zu beweisen, dass sie sich unnötige Sorgen macht? Sie können sich frei bewegen und jeden Inch des Speichers unter die Lupe nehmen. Aber befreien Sie uns von der Angst, die meine Frau befallen hat!«
Holmes sagte unsere Anreise für den kommenden Tag zu und verabschiedete einen überaus dankbaren Mister Moore.
»Seltsam!«, sagte mein Freund, nachdem unser Besuch gegangen war. »Bisher erschien mir der Fall glasklar. Ihre Aussage war brillant und ich rechnete bereits, nun eine Bestätigung für meinen Verdacht zu erhalten. Aber weit gefehlt – Mister Moore stürzte mich in Zweifel!«
»Wie das?«, wollte ich wissen.
»Ich glaubte, Moore selbst stecke hinter allem. Er wolle seine Frau aus noch unbekannten Gründen zum Wahnsinn treiben und habe darum die Erscheinungen arrangiert. Aber seine Einladung und die Zusicherung, alles haarklein untersuchen zu dürfen, passen nicht dazu. Er muss wissen, dass wir nur schwer in die Irre zu führen sind.«
»Ein Trick?«, mutmaßte ich. »Eine Ablenkung, um uns in Sicherheit zu wiegen?«
»Höchst unwahrscheinlich!«, widersprach er sofort. »Nein, da geht etwas anderes vor. Ich bin höchst gespannt, was wir finden werden!«
Er blickte auf die Uhr. »Was halten Sie davon, wenn wir die weiße Dame geistig beiseitelegen und den Abend im Theater verbringen? Hamlet sollte die passende Abwechslung bieten, finden Sie nicht auch? Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage!«
Ich stimmte meinem Freund unumwunden zu!
*
Die Fahrt hinaus zum Wohnsitz der Familie Moore verlief so angenehm, wie eine solche Reise nur sein konnte.
Wir hatten unsere Fahrt so geplant, dass wir einen köstlichen Lunch im Speisewagen einnehmen konnten, ehe wir in Leicaster eintrafen und dort von einem Landaulet erwartet wurden. (Ein Brougham, dessen Verdeck geöffnet werden kann. In Deutschland auch als »Landauer« bekannt.)
Da das Wetter in Leicaster sehr viel besser war als in London, hier hatte sich bereits der Frühling mit milden Temperaturen zu Wort gemeldet, von Regen fehlte jede Spur, hatte der Kutscher das Verdeck geöffnet und ermöglichte uns so eine fantastische Fahrt hinaus zum Anwesen der Moores.
»Arbeiten Sie für die Familie Moore?«, fragte Holmes den Kutscher, nachdem wir über eine breite und gut zu befahrende Straße unserem Ziel entgegenstrebten.
»So ist es. Seit Mister Moore vor zwei Jahren beschloss, ein kleines Gestüt aufzubauen. Ein feiner Mann, Sir! Früher arbeitete ich für ein Gestüt in der Region, musste dann aber einem jüngeren Mann weichen, da mein Rücken nach einem Unfall nicht mehr mitmachte.«
Der Kutsche wandte sich zu uns um. »Und was tut Mister Moore? Sagt, er brauche einen Mann mit Sachverstand für die Tiere! Um den Stall könne sich auch ein Bursche kümmern. Ja, ein feiner Mann, der Mister Moore. Und er hat ein paar feine Pferde! Noch ein, zwei Jahre und sie laufen bei den großen Rennen!«
»Weder Mister noch Mrs Moore sagten etwas von Pferden«, sagte ich leise zu meinem Freund. »Es war nur vom Schreiben die Rede!«
»Es mag nichts mit der Sache zu tun haben«, erwiderte Holmes, ehe er sich wieder an den Kutscher wandte. »Sie haben gehört, weswegen wir kommen?«
»Wegen der weißen Dame! Mister Moore sagte seiner Frau, er habe alles arrangiert! Seither ist sie sehr viel ruhiger.«
»Was halten Sie von der Sache?«, wollte mein Freund wissen.
»Hab nie einen Geist gesehen. Im Stall jedenfalls war die weiße Dame nie.« Er lachte leise. »Ich hab vor ein paar Jahren aus Versehen Medizin für ein Pferd getrunken. Anschließend habe ich auch Geister gesehen!«
Holmes hob eine Braue. »So?«
»Der Doc war da und wollte eine Entzündung am Huf auskratzen. Mir sagte keiner, dass in dem Wasser schon ein Beruhigungsmittel war. Erst, als ich einen Schluck genommen hatte, sprang ein Bursche herbei. Da war es zu spät! Machte mich eine Woche zum Gespött des Gestüts!« Er grinste schwach.
Holmes erwiderte nichts, aber ich sah, dass er sich diese Information merken würde. Ob sie am Ende zu einem Ergebnis führen würde, vermochte er jedoch wahrscheinlich nicht zu sagen.
*
Mister und Mrs Moore begrüßten uns, kaum dass die Kutsche das Rondell vor dem Eingang erreicht hatte.
Unwillkürlich schauten wir an dem Haus empor. Eine große Gaube erhob sich in der Mitte des Dachs. Das Fenster reichte fast bis zum Boden, undeutlich konnten wir die Umrisse einer Lampe erkennen, die von der Decke baumelte. Ob sie mit Gas betrieben wurde oder ob Kerzen in den Haltern steckten, vermochten wir jedoch nicht zu sagen, dazu war der Winkel zu schlecht.
»Ja, das ist der Dachboden. Dort oben habe ich die Frau gesehen«, sagte Mrs Moore, der unsere Blicke aufgefallen waren.
»Mister Holmes – dies ist meine wunderbare Frau Emilia!«
»Erfreut!« Holmes küsste die Hand der Dame und tat, als habe er sie noch nie zuvor gesehen.
Auch ich fiel in diese Scharade ein, was Mrs Moore mit einem zufriedenen Blick zur Kenntnis nahm.
»Wo sind die Kinder?«, erkundigte sich mein Freund. »Im Haus?«
»Bei ihrer Großmutter«, erwiderte Mrs Moore. »Es erschien mir sinnvoll, sie nicht zu ängstigen. Wir werden über Dinge sprechen, die sie nicht verstehen.«
Holmes nickte verständnisvoll.
»Sie sind sicherlich müde von der Reise«, sagte der Hausherr jovial. »Ich habe zwei Zimmer bereiten lassen. Wie wäre es, wenn wir uns in einer Stunde zum Tee treffen?«
»Wir hatten bequeme Sitze!«, erwiderte mein Freund. »Ich würde gerne sofort zur Tat schreiten, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Aber nicht im Geringsten! Wir zeigen Ihnen das Haus, dann können Sie sich frei bewegen!«
Und so geschah es. Conway, der Butler, kümmerte sich um unser Gepäck, während uns Mister und Mrs Moore durch das Haus führten. Vom Keller bis hinauf zum ominösen Dachboden ging die Tour, und hier nun trat Holmes in Aktion.
Er schaute sich sehr genau um, öffnete die Truhen und Schränke, untersuchte sie auf versteckte Türen, klopfte die Wände ab und schaute sogar in den Kamin – was ihm einige schwarze Flecken im Gesicht einbrachte.
»Ich denke«, sagte er mit so viel Würde, wie er in diesem Moment aufbringen konnte, »nun wäre eine gute Gelegenheit, sich frisch zu machen!«
»Gewiss!«, erwiderte Mister Moore schmunzelnd.
Wir folgten den Gastgebern die Stufen hinab in den ersten Stock des Hauses und dort zu unseren Zimmern.
Auf einen Wink meines Freundes folgte ich ihm in sein Zimmer und schloss die Tür.
»Ich war überzeugt, recht schnell eine verborgene Tür zu finden!«, gestand er mir, während er Wasser in eine Schale gab, um sich zu reinigen. »Aber auf Anhieb gelang mir dies nicht. Ich fürchte, wir werden zu anderen Mitteln greifen müssen!«
»Und welche?«
»Mehl!«
»Mehl?«, wunderte ich mich.
Er bestätigte dies und führte aus, dass es meine Aufgabe sei, am Abend, wenn alle zu Bett gegangen seien, Mehl aus der Küche zu entwenden. Anschließend würden wir uns hinauf auf den Dachboden schleichen und etwas davon auf dem Boden verteilen. Sollte sich eine weiße Dame zeigen, so würde sie unweigerlich Abdrücke hinterlassen. Mehr noch – die Spuren würden zu jenem geheimen Gang führen, den Holmes nicht zu finden in der Lage gewesen war.
Die Idee erschien mir außerordentlich gerissen und so machte ich mich daran, die Gegebenheiten in der Küche auszukundschaften.
Wie beiläufig stattete ich der Köchin einen Besuch ab, schaute ihr bei der Zubereitung des Dinners zu und stellte einige belanglose Fragen. Dabei behielt ich die Schränke im Blick und fand sehr schnell heraus, wo sich das Mehl befand.
Dem abendlichen Abenteuer stand nichts mehr im Wege!
*
Das Frühstück am folgenden Morgen verlief in größtmöglicher Stille. Holmes schien frisch und ausgeruht, ich hingegen musste mehrfach gähnen, denn das nächtliche Abenteuer hing mir noch etwas nach.
Die Moores waren erst gegen Mitternacht zu Bett gegangen; zuvor hatten wir beisammengesessen und den Abend genossen. Dabei war die weiße Dame, wie die Erscheinung nun wohl offiziell genannt wurde, nicht zur Sprache gekommen. Stattdessen sprachen wir über Mister Moores schriftstellerische Tätigkeiten. Er fragte nach einigen Tipps; schließlich hätte ich schon sehr viele Abhandlungen zu Holmes’ Fällen veröffentlicht.
Auch Holmes beteiligte sich an dem Gespräch, war jedoch die meiste Zeit damit beschäftigt, den Hausherren und seine Gemahlin zu beobachten.
Auch ich ließ beide nicht aus dem Blick, konnte aber keinen Hinweis darauf finden, dass uns Mister Moore eine Komödie vorspielte. Er war seiner Frau herzlich zugetan; zu diesem Schluss kam zumindest ich.
Nach dem Frühstück machten wir einen ausgedehnten Spaziergang über Land, ehe uns Mister Moore fragte, ob wir nicht mit ihm nach Leicaster kommen wollten. Er müsse mit seinem Verleger sprechen, anschließend könnten wir jedoch in einem Pub speisen und uns die Stadt ansehen.
Holmes bat mich, der Einladung zu folgen, während er bei Mrs Moore bleiben wollte – es war nicht auszuschließen, dass die weiße Dame erneut die Abwesenheit des Hausherrn ausnutzen würde.
So kam es, dass ich mich in dem mir bereits bekannten Landaulet wiederfand, diesmal an der Seite des Hausherrn.
Schon nach wenigen Minuten brachte er die Sprache auf den Fall. Er fragte, was ich von seiner Frau hielte und ich antwortete ihm ehrlich, dass ich bisher keine Anzeichen für eine Krankheit habe erkennen können.
Mister Moore nickte und er schien durchaus erleichtert, dies zu hören.
Wir sprachen noch kurz über die Sache, dann aber begann Mister Moore, mir einige landschaftliche Besonderheiten zu zeigen.
In Leicaster angekommen betraten wir sofort den Golden Goose, denn es war Zeit für einen kleinen Lunch.
Kaum saßen wir, als uns ein älterer Mann von der Theke her zunickte. »Und, wie lebt es sich auf Everton House?«, rief er hinüber.
»Gut!«, erwiderte Moore, ohne den Mann anzuschauen. Sein Gesicht spiegelte Abneigung wider.
»Wer ist das?«, wollte ich wissen, während ich gleichzeitig einen Blick in die Speisekarte warf.
»Mister Singleton, der Butler des ehemaligen Besitzers unseres Hauses. Bevor wir das Anwesen erwarben, hieß es Everton House, aber ich ließ den Namen streichen. Mister Singleton bewarb sich um die freie Stelle des Butlers, aber er schien zu sehr mit der Vergangenheit verhaftet zu sein.«
»Hab gehört, die weiße Dame ist Ihnen erschienen!«, rief Singleton. »Haben Sie schon mit ihr gesprochen?« Er kicherte.
»Was wissen Sie von der weißen Dame?«, fragte Moore scharf.
»Das würden Sie gerne wissen, hm?« Singleton genoss es offenbar, Moore zu reizen. »Hab so meine Quellen, Moore. Hab gehört, dass Sie die weiße Dame gesehen haben. Kein gutes Zeichen, Moore. Wenn das geschieht, sterben Menschen!«
»Ist das so?«, fragte Moore verärgert. »Das haben Sie sich aber fein ausgedacht!«
Singleton kam zu unserem Tisch und stützte sich mit beiden Händen ab. »Ich habe es erlebt, Moore. Ich erwarte nicht, dass es jemand wie Sie glaubt. Aber ich habe es erlebt! Ich sah die weiße Dame mehrmals und jedes Mal starben Menschen. Zuletzt der Baron!«
»Wieso haben Sie nie zuvor davon gesprochen?«, fragte Moore. Er schien gegen seinen Willen beeindruckt.
»Weil ich nicht will, dass man mich für verrückt hält. Aber nun, da ich weiß, dass sie Ihrer Frau erschienen ist … Menschen sterben, Sie werden es sehen!«
Damit verließ er das Lokal.
Ich schaute ihm nach, nicht wissend, was ich von dieser Sache halten sollte. Hatte sich Singleton die Sache ausgedacht, weil er Moore nicht leiden konnte? Oder stimmte es?
*
»Das ist überaus interessant!«, sagte Holmes, als ich ihm am Nachmittag von der Sache erzählte. »Was haben Sie unternommen?«
»Nichts«, gab ich zu.
»Watson!«, rief er aus und rang mit den Händen. »Haben Sie denn in all den Jahren nichts gelernt, alter Junge? Sie hätten mit anderen Angestellten des Barons sprechen müssen! Wenn stimmt, was Singleton sagt, haben wir es mit einem viel tiefer gehenden Problem zu tun!«
»Nun ja, ich … kam nicht auf diese Idee«, gab ich zu, ein wenig eingeschnappt von seinem harschen Ton. »Hat sich hier etwas ergeben?«
Holmes schüttelte den Kopf. »Ich war einmal auf dem Boden, um das Mehl zu kontrollieren. Noch zeigen sich keine Spuren darin.«
Wir schwiegen sekundenlang und schauten zu Mrs Moore, die im Garten stand und sich um die Rosenhecken kümmerte. Hin und wieder schaute sie hinauf zu dem Dachfenster, schüttelte aber stets den Kopf und wandte sich wieder den Rosen zu.
Wir glaubten schon, dass es ein ruhiger Nachmittag werden würde, als wir plötzlich lautes Geschrei von den Stallungen her hörten.
Wir eilten ebenso dorthin wie Mrs Moore und ihr Gemahl.
Schon auf halbem Weg kam uns der Kutscher entgegen. Er war kalkweiß im Gesicht, schiere Panik blickte uns aus geweiteten Augen entgegen. »Die weiße Dame! Ich habe sie gesehen! Sie stand auf der Scheune. Und der Bursche … Peter … er ist tot!«
»My goodness!«, entfuhr es mir. Mir fiel ein, was Singleton gesagt hatte. Sieht man die weiße Dame, sterben Menschen.
Wir eilten zu den Stallungen und dort, vor einem Gebäude, sahen wir den Toten.
Peter, ein junger Bursche von vielleicht sechzehn Jahren, lag auf dem Boden, die Kehle aufgeschlitzt. Blut bildete eine große Lache um den Körper herum, unter seinem Hals lag ein großes Messer.
Ich beugte mich sofort zu ihm hinab, sah aber, dass dem armen Kerl nicht mehr zu helfen war. Die Klinge hatte seinen Hals von Ader zu Ader aufgetrennt. Er musste rasch das Bewusstsein verloren haben, denn es gab kaum Spuren eines Todeskampfs.
»Ich führte Grey Pride an der Longe, als ich sie auf dem Dach sah«, wisperte der Kutscher, während er kraftlos zu Boden sank und den Blick von der Leiche abwandte. »Ihr Kleid war seltsam grünlich, ihre Haut weiß wie Schnee. Sie stand einfach da! Dann schrie Peter auf, ich schaute hinüber zum Futterdepot, und als ich wieder zu ihr schaute, war sie weg. Ich lief los und fand Peter in seinem Blut.«
»Sonst sahen Sie niemanden?«, versicherte sich Holmes.
»Nein!« Der Kutscher schluckte. »Er muss gestolpert und in das Messer gefallen sein«, wisperte er. »Welch seltsames Schicksal!«
»In der Tat!«, sagte Moore. Er hielt seine schluchzende Frau im Arm. Seinem Blick war zu entnehmen, dass auch er an Singletons Worte dachte.
Holmes wandte sich ab. »Sie sollten die Polizei informieren!«, sagte er zu Moore. »Der Fall nimmt überaus ernste Züge an.«
Wir begleiteten Mrs Moore zum Haus. Sie brauchte Ruhe und die sollte sie auch bekommen. Ich verabreichte ihr etwas zur Beruhigung und versprach, hin und wieder nach ihr zu sehen, ehe sie sich in ihr Zimmer zurückzog.
»Und nun?«, fragte ich meinen Freund, nachdem wir unter uns waren.
»Der Fall ist verworren«, gab Holmes zu. »Ich denke, ich werde heute auswärts essen. Mal sehen, ob ich Ihr Versäumnis nachholen kann. Mister Moore wird sicherlich noch jemanden haben, der eine Kutsche steuern kann!«
*
An jenem Abend sah ich Holmes nicht mehr. Er kam, wie er mir am nächsten Morgen berichtete, erst spät zurück.
Bei dieser Gelegenheit konnte ich ihm auch von den Ereignissen nach seiner Abfahrt berichten.
Die Polizei hatte sich der Leiche des unglücklichen Burschen angenommen und sich auch die Umstände unserer Verwicklungen in diesen Fall haarklein darlegen lassen. Natürlich glaubte auch der ermittelnde Inspector nicht an Geister, ging jedoch davon aus, dass Peter einem Unfall erlegen sei; die Indizien sprächen dafür. Da ich als Arzt nichts anderes hatte sagen können, sah er die Sache vorerst als erledigt an, würde aber ein wachsames Auge auf die Entwicklungen halten.
Holmes zeigte sich mit dem Ergebnis recht zufrieden, ehe er seinerseits berichtete, einige sehr interessante Informationen erhalten zu haben. Er glaube nun zu wissen, woher der Spuk rühre. Nun müsse man ihn nur noch beenden!
Nach dem Frühstück teilten wir uns auf. Während ich zu den Stallungen ging, blieb Holmes in der Nähe des Hauses.
Doch wir mussten bis zum Nachmittag warten, ehe die weiße Dame letztlich in Erscheinung trat. Holmes und ich unternahmen einen Verdauungsspaziergang im Garten, als Mrs Moore plötzlich auf das besagte Fenster deutete. Sie war bleich, ihre Hände zitterten und es war, als würde sich ein Schrei in ihrer Kehle sammeln, ohne aber über ihre Lippen zu entweichen.
Sofort schauten wir empor und sahen eine hell leuchtende Frau, die jedoch nicht aus dem Fenster blickte, sondern sich erstaunt umsah.
»Jetzt haben wir sie!«, rief Holmes und lief los.
Ich folgte ihm, ebenso Mrs Moore.
»Sie haben sie auch gesehen, ja?«, rief die Hausherrin. »Ich bilde es mir nicht ein?«
»Oh nein, wir haben sie gesehen«, bestätigte Holmes. »Und sie sah etwas, das sie verwirrte. Ich denke, das Spiel ist aus!«
Wir erreichten den Dachboden. Holmes stieß die Tür auf, und da – an einer offenen Klappe stand eine uns unbekannte Frau in grün fluoreszierendem Kleid, Gesicht, Arme und Hände mit Theaterschminke geweißt. Sie starrte uns an, einen Ausdruck unergründlichen Zorns und Verzweiflung in den Zügen.
»Mrs Singleton, wohin des Weges?«, rief Holmes zu meinem Erstaunen. »Kommen Sie, kommen Sie nur her. Ihr Mann ist noch dort drinnen?«
Unter Fluchen hörten wir einen Mann zur Klappe kommen und hervortreten. Er starrte uns finster an, die Lippen zu einem boshaften Grinsen verzogen. »So, haben Sie uns doch erwischt!« Er blickte auf den Boden und sah das Mehl. »Clever. Sehr clever!«
»Was in aller Welt …«, rief Moore aus, der hinzugekommen war. »Singleton, Sie? Was hat das zu bedeuten?«
»Oh, ich denke, ich weiß es«, sagte Holmes. »Aber ich möchte der weißen Dame die Chance geben, den Sachverhalt aufzuklären. Nun?«
Beide Singletons schüttelten den Kopf.
»Sehen Sie, Mister und Mrs Singleton arbeiteten für den Vorbesitzer dieses Hauses einen Großteil ihres Lebens. Sie erhofften sich, am Ende für ihre Treue belohnt zu werden, schließlich gab es keine Erben. Aber kurz vor dem Tode des Barons stellte Mister Singleton fest, dass sie beide leer ausgehen würden. Ist es nicht so?«
Der ehemalige Butler nickte. »Woher wissen Sie das?«, fragte er dann mit unterdrücktem Zorn.
»Miss Wilson, ebenfalls eine ehemalige Bedienstete, war so freundlich, mir von einem Streit zu berichten, den sie belauscht hatte. Demnach konfrontierten Sie Ihren Dienstherrn mit Ihrem Zorn, aber dieser sagte, Ihnen stünde nichts zu, da Sie gut entlohnt worden seien.«
»Ja! Da stand dieser alte Mistkerl und sagte, der Lohn sei ausreichend für unsere Dienste. Sein Vermögen würde der Gemeinde zugutekommen. Pah!« Singleton spuckte aus.
»Also schmiedeten Sie einen Plan, um sich schadlos zu halten. Sie schafften Wertgegenstände beiseite. Hier etwas und da etwas. Versteckten es so gut, dass es niemand fand. Nach dem Tode Ihres Dienstherrn könnten Sie es ja einfach beiseiteschaffen. Und Sie begannen, die weiße Dame in Erscheinung treten zu lassen. Miss Wilson berichtete, dass sie kurz nach besagtem Streit das erste Mal erschien – stets jedoch nur dem Baron, den dies sehr mitnahm!«
Singleton kicherte. »So ist es. War ein ziemlich abergläubischer Mensch, der Baron. Geister, Dämonen … Meine Frau merkte an, dass dies ein böses Omen sei. Schon andere seien gestorben, nachdem sie die weiße Lady sahen …«
»Und dann töteten Sie den Baron!«, sagte Holmes kalt.
Beide Singletons schwiegen.
»War es Gift? Oder erdrosselten Sie ihn im Schlaf?«, hakte Holmes nach, erhielt aber keine Auskunft.
»Nun, wir werden dazu noch kommen …« Holmes tat, als müsse er nachdenken. »Ah ja, Ihr Plan. Sie dachten, nach dem Tode des Barons hätten Sie Zeit, die gestohlenen Wertsachen abzuholen. Aber Sie hatten Pech – der Testamentsvollstrecker verschloss das Haus, gleich, nachdem die Leiche abgeholt worden war. Er nahm Ihnen sogar die Schlüssel ab, wie ich hörte. Sie durften nur ihre Sachen mitnehmen, sonst nichts. Zu allem Überfluss entschied sich Mister Moore nach dem Kauf des Hauses dagegen, Sie einzustellen. Was also tun? Sie beschlossen, die weiße Lady erneut einzusetzen. Ich denke, Sie wollten die Moores aus dem Haus treiben, nicht wahr? Wenn auch nur für ein paar Tage, das hätte Ihnen gereicht!«
»Wir wollten sie so richtig in Panik versetzen. Wir wollten sie davonjagen, um in Ruhe unsere Sachen holen zu können. Wir kennen zwar einen geheimen Zugang zum Haus und auch den Geheimgang, der von der Scheune hierher führt. Aber auf diese Weise konnten wir die Sachen nicht rausbringen, die Gänge sind einfach zu eng. Obwohl wir es mehr als einmal versuchten …«
Singleton schüttelte den Kopf. »Wir hätten nur einen Tag gebraucht. Nur einen einzigen Tag! Aber es sollte nicht sein! Nachdem wir vor die Tür gesetzt worden waren, zog ein Verwalter ein und brachte das Haus auf Vordermann. Es war, als habe sich das Schicksal gegen uns verschworen!«
»Aber die Moores gingen nicht!«
»Nein. Sie holten Sie!«
»Und so beschlossen Sie, Peter zu töten«, sagte Holmes. »Nach der Warnung im Golden Goose ließen Sie Taten folgen.
Singleton grinste. »Wir haben niemanden getötet! Beweisen Sie uns das Gegenteil!«
Holmes schaute beide an. »Wir werden sehen, was das Gericht dazu sagt. Hier sind wir jedenfalls fertig!«
So endete das Rätsel der weißen Dame.
Einige Wochen später ließ uns Mrs Moore einen Artikel zukommen, ausgeschnitten aus einer Zeitung von Leicaster. Man hatte die Singletons vor Gericht gestellt, ihnen aber keinen Mord nachweisen können. Jedoch verurteilte man sie zu je zehn Jahren wegen des Diebstahls und auch, weil sie den Tod des Burschen verursacht hatten, als dieser vor Schreck über den Anblick des Geistes tödlich stürzte.
So war der Gerechtigkeit zumindest etwas Genüge getan worden, und die Moores lebten glücklich in ihrem Haus auf dem Lande!
E N D E