Читать книгу 10 SHERLOCK HOLMES – Die neuen Fälle Box 4 - divers - Страница 8
ОглавлениеLady Cunningham war entzückt, mich auf ihrem großzügigen Anwesen begrüßen zu dürfen. Obwohl der Tag bereits weit fortgeschritten war, bestand sie auf ein ausgiebiges Dinner im Kreise von Freunden; neben einem Ehepaar, welches ich bis dato nicht kannte, war auch Sir Duncan zugegen.
Letzterer, so werden sich meine Leser erinnern, hatte fast seinen Besitz an die Bank verloren; erst im letzten Moment war es Holmes gelungen, einen vor Jahrhunderten von Sir Duncans Vorfahren versteckten Schatz ausfindig zu machen.
Mit ihm hatte der Adelsmann nicht nur seine Schulden tilgen können. Nein, es war am Ende auch genug übrig, um ihm und seinen Nachkommen ein sorgenfreies und standesgemäßes Leben zu sichern. Personal kümmerte sich nun wieder um sein Wohlbefinden, und der alte Butler, der ihm stets die Treue gehalten hatte, genoss seinen Lebensabend in einem schmucken Turmzimmer, ohne auch nur noch einen Finger rühren zu müssen.
Alles hatte sich zum Besten gewendet für Sir Duncan, und hierfür war er meinem Freund und mir noch immer überaus dankbar. Dies zeigte sich auch in dem kleinen Geschenk, welches er mir gleich nach meiner Ankunft überreichte – in einer hübsch verpackten Schachtel fand ich eine alte Schnupftabak-Dose aus purem Silber, verziert mit Edelsteinen und meinem Namen als Gravur.
Als ich an jenem Abend im Kreise all jener Gäste saß und das Mahl genoss, wurde mir klar, dass ich mich im Kreise von Freunden befand, von denen ich bisher nicht gewusst hatte, dass ich sie habe. Der informelle Umgang, die Scherze und nicht zuletzt die Blicke, die mir Lady Cunningham schenkte, stimmten mich einerseits froh, andererseits aber auch nachdenklich.
Mein Leben hatte einige Wendepunkte erfahren. Die Kriege, in denen ich verwundet worden war, sowie meine Bekanntschaft mit Holmes zählten sicherlich ebenso dazu wie meine Hochzeit mit Mary und deren allzu frühem Tod.
Nun, da ich in diesem Kreis saß, wurde mir bewusst, dass ein weiterer Wendepunkt anstand. Vielleicht der finale Schlusspunkt, denn in meinem Alter kommt der Moment, da man sich zurückzieht und die Früchte seines Lebens genießt, so man welche zu ernten hat.
Holmes, das erwähnte ich bereits, spielte verstärkt mit dem Gedanken, sich zur Ruhe zu setzen und der Bienenzucht zu frönen.
Was aber blieb mir, wenn er London verließ?
Gewiss, ich konnte eine Praxis eröffnen oder gemeinsam mit einem Kollegen praktizieren. Auch würde sich die Polizei freuen, mich als Experten konsultieren zu können.
Aber was bedeutete dies für die Abendstunden? Wollte ich wirklich in einem Salon sitzen, allein mit mir und meinen Gedanken, ohne die Möglichkeit, mich mit jemandem auszutauschen? Was für ein trauriges und einsames Leben wäre das?
Anders als Holmes schien ich nicht für solche Einsiedelei geschaffen. Zumal ich dem weiblichen Geschlecht bei Weitem nicht so negativ gegenüberstand wie Holmes. Wo er Schwäche und Probleme sah, entdeckte ich Stärke, Hingebung und die Freude einer Zweisamkeit, die das Leben versüßen kann!
Mary fehlte mir, mehr aber noch ein weiblicher Widerpart. Holmes, bei all seinen Qualitäten, war mir ein lieber und teurer Freund. Aber er konnte nicht ersetzen, was Männer an Frauen begehrenswert und interessant finden.
War ich in meinen bisherigen Berichten eher zurückhaltend, so möchte ich an dieser Stelle offenbaren, dass mir Lady Cunningham vom ersten Moment unserer Begegnung zugetan war.
Ich sah es in ihren Blicken, spürte es bei jeder noch so zufälligen Berührung und hörte es am Klang ihrer Stimme, wenn sie zu mir sprach.
Anfänglich schob ich es auf den Schock, da ihr wertvollster Besitz gestohlen worden war und sie ihre Hoffnung in Holmes und vielleicht auch in mich setzte.
Zu meinem Erstaunen hielt ihre Zuneigung jedoch an. Auch nach dem Fund des goldenen Schmetterlings änderte sich ihr Verhalten mir gegenüber nicht. Im Gegenteil – während meiner Besuche, während wir für Lord Duncan tätig wurden, intensivierte sie ihre Bemühungen um meine Aufmerksamkeit.
Diese Einladung nun, so mutmaßte ich bereits, während ich meine Antwort verfasste, würde einige Klarheit bringen.
Wie richtig diese Überlegung war, zeigte sich nicht nur während der Begrüßung, sondern auch in den darauffolgenden Tagen. Nach dem Frühstück ließ Lady Cunningham einen Schlitten anspannen, um mit ihm über Land zu fahren.
Da es sich bei diesem Schlitten um einen umgebauten Clarence handelte, der zudem über einen Ofen verfügte, waren diese Ausfahrten überaus behaglich. Während die Winterlandschaft an den Fenstern vorbeizuziehen schien, vertieften wir uns in Gespräche.
Während einer dieser Ausfahrten erfuhr ich auch den Grund für den geplanten Umzug der Lady nach London. Offenbar wollte sie als einzige noch lebende Verwandte ihrer Nichte zur Seite stehen, die in London ein Studium begann.
Damit eine junge, vom Leben noch recht unerfahrene Frau nicht den Lockungen einer wüsten und gefährlichen Stadt wie London erlag, trachtete sie danach, mit ihr gemeinsam ein standesgemäßes Haus zu beziehen, unterstützt von etwas Personal.
Ein Vorschlag, den ich gar nicht genug preisen konnte. Denn wahrlich bot London diverse Anreize, die gerade Bahn des Lebens zu verlassen. Zudem erklärte dies, warum eine Countess aus Schottland überraschend in die Hauptstadt des Empires zu ziehen gedachte.
Es war am vierten Tag meines Besuches, als es zu einem Zwischenfall kam, der einen Schatten auf den Frieden der winterlichen Welt hier in Kaledonien warf.
Lady Cunningham und ich saßen im Kaminzimmer beisammen und unterhielten uns leise über das Leben in London, aber auch über die Einsamkeit eines Menschen, der seinen Partner verloren hat, als Richardson, der neue Butler Ihrer Ladyschaft, den Raum betrat und sich diskret erkundigte, ob Lady Cunningham etwas von Sir Andrew McDermott gehört habe. Seine Familie und seine Verlobte vermissten ihn offenbar seit einigen Tagen und noch immer fehle jede Spur von ihm. Und dies, obwohl die Hochzeit zwischen ihm und der liebreizenden Lady Sandrine Finnigan in einigen Tagen anstand.
Lady Cunningham zeigte sich von dieser Nachricht überaus betroffen, war sie selbst doch mit beiden Familien befreundet.
Sie verneinte die Frage, versprach aber, noch am gleichen Abend Nachrichten an ihre Bekannten zu senden mit der Bitte, nach dem jungen Sir McDermott Ausschau zu halten.
Wie sehr die Sache Lady Cunningham beschäftigte, zeigte sich im weiteren Verlauf des Abends, denn immer wieder kam sie auf McDermott und Lady Finnigan zu sprechen.
Letztere, so erklärte sie mir, sei so alt wie ihre Nichte; ein liebes, aber etwas naives Ding und zudem das einzige Kind von Lord und Lady Finnigan.
Andrew McDermott hingegen war von anderem Holz geschnitzt, wie ich erfuhr. Gebildet, voll Tatkraft und körperlicher Stärke. Beide würden sich hervorragend ergänzen, zumal auf diese Weise zwei wohlhabende Familien verbunden wurden und so von ihren Beteiligungen, überseeischen Besitztümern und lokalen Geschäften profitieren würden.
Ich verlieh meiner Hoffnung Ausdruck, dass sich am Ende alles finden würde, aber vorerst sah es so aus, als würde sich diese Hoffnung nicht erfüllen. Auch am kommenden Tag blieb McDermott verschwunden. Selbst eine Anzeige in der lokalen Zeitung sowie ein Suchtrupp Freiwilliger brachten keinen Erfolg.
Als auch drei Tage später noch immer keine Spur des Verschwundenen zu finden war, tat ich das einzig Vernünftige – ich telegrafierte meinem Freund Holmes mit der Bitte, uns bei der Suche beizustehen. Obgleich sich mir hier die Gelegenheit bot, selbst Holmes’ Methoden anzuwenden und auf eigene Faust nach McDermott zu suchen, wagte ich einen solchen Alleingang nicht. Das Leben eines Menschen stand auf dem Spiel und dies schien mir nicht der Moment, eigenen Ruhm zu suchen.
So kam es, dass sich mein Besuch bei Lady Cunningham abermals zu einem Abenteuer entwickelte.
*
»Sie hätten mich wirklich früher informieren müssen!«, tadelte mich mein Freund gleich nach seiner Ankunft. »Nun sind alle Spuren verschwunden. Wie soll man nach all dieser Zeit einen Mann finden, der offenbar nicht gefunden werden will oder nicht gefunden werden soll?«
Mein Blick glitt aus dem Fenster hinaus zu der schneebedeckten Welt. »Die Spuren wären bereits bei Ihrer Ankunft verwischt gewesen, ganz egal, an welchem Tag ich Ihnen telegrafiert hätte!«
Holmes schüttelte anklagend den Kopf. »Das war nicht wörtlich auf Spuren im Schnee bezogen. Aber nun gut, es ist nun einmal, wie es ist. Wir sollten uns nun unverzüglich an die Arbeit machen!« Er klatschte in die Hände. »Eine Kutsche steht bereit?«
»Ein Schlitten!«, erklärte ich lächelnd. »Kommen Sie!«
Wir verließen das Haus, bestiegen den bereitstehenden Schlitten und schon setzte sich dieser in Bewegung. Lady Cunningham hatte vorgeschlagen, dass Holmes bei ihr übernachten solle; sie wusste wohl, dass wir beide gemeinsam agieren würden, und wollte vermeiden, dass ich das Haus vorzeitig verließ.
Inzwischen bestand kein Zweifel mehr daran, dass Lady Cunningham ihre Zeit künftig mit mir und mit niemandem sonst zu verbringen gedachte. Ein Entschluss, der mir überaus gut gefiel, denn sie war nicht nur klug und reif, sondern auch humorvoll und warmherzig.
Schweigend fuhren wir durch die weiße Welt, vorbei an einem Park, an einem nun zugefrorenen See und auch vorbei an einem erst vor wenigen Jahren frisch angelegten Wald. Die Bäume waren noch jung und biegsam, doch hier zeigten sich die ersten Versuche, die Spuren der Highland Clearances auszumerzen.
»Der Urlaub bekommt Ihnen gut!«, ließ mich Holmes nach einer Weile wissen. »Die Beziehung zu Lady Cunningham nimmt Formen an, wie ich merke. Und Sir Duncan ist spendabel!«
»Was meinen Sie?«, fragte ich indigniert. Als erwachsener, wohl gesitteter Gentleman war ich stets bemüht, meine privaten Empfindungen allein für mich zu behalten. Wie konnte Holmes also wissen …
»Ach, mein lieber Freund«, sagte Holmes lächelnd, »wir kennen einander zu gut, als dass wir bestimmte Dinge voreinander geheim halten könnten. Wir haben unsere Leidenschaften und unsere Freuden. So, wie Sie auf den ersten Blick erkennen, wenn mich ein neuer Fall umtreibt, so erkenne ich anhand Ihrer Blicke, Ihres verträumten Ausdrucks in den Augen, wenn Sie zum Fenster hinausschauen, und auch anhand des Wangenkusses, den Ihnen Lady Cunningham zum Abschied gab, sofort den Zustand Ihres Herzens.«
Er blickte mich amüsiert an. »Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass ich mich für Sie freue!«
»Und Sir Duncan?«, wollte ich wissen.
»Die Schnupftabakdose. Sie ist viel zu alt, als dass sie ein Geschenk Ihrer Ladyschaft sein könnte. Zudem würde eine Frau einem Mann eine grazilere Dose schenken, wenn überhaupt. Ich behaupte, dass Taschentücher oder eine hübsche Krawatte eher jene Sorte Geschenke sind, die Frauen einem Mann darbringen. Nein, diese Dose wurde Ihnen von einem Mann geschenkt. Zudem von einem Mann, der vor Kurzem sehr viele alte Wertsachen fand. Und hier kommt nur Sir Duncan infrage!«
»Elementar!«, gab ich zu. Tatsächlich hatte mir Mary niemals eine Schnupftabakdose geschenkt. Wie Holmes richtig vermutete, war ihr erstes Geschenk an mich ein hübsches, mit Monogramm versehenes Taschentuch aus Seide gewesen.
Holmes schien überaus zufrieden mit seinen Schlussfolgerungen, denn das Lächeln blieb auf seinem Gesicht, während er aus dem Fenster schaute.
Dicke Flocken fielen vom Himmel.
»Schauen Sie sich das an, Watson! Das Grauen eines jeden Detektivs!«
»Das Wetter?«, fragte ich erstaunt. »Oh, mir gefällt die weiße Pracht außerordentlich. Als Kind tobte ich gerne im Schnee.«
»Kinder sind unwissend und ungezogen!«, erwiderte mein Freund barsch. »Inzwischen sind Sie erwachsen, Watson. Sie sollten daher erkennen, dass der Schnee beträchtliche Nachteile mit sich bringt! Gerade hier, in dieser Abgeschiedenheit. Begeht hier jemand ein Verbrechen, hat er gute Chancen, davonzukommen. Allein schon, weil Ihre weiße Pracht die Spuren verdeckt. Sie sagten es eben selbst!«
»Was sagte ich?«, fragte ich ein wenig ungehalten. Ich mochte es nicht, wenn Holmes mit Worten zerstörte, woran ich Freude gefunden hatte.
Zudem empfand ich seine Worte als Angriff auf mich. Inzwischen sind Sie erwachsen … Gewiss war ich das. Nahm mir dies das Recht, an solchen Dingen wie Schnee meine Freude zu haben?
»Auf meinen Hinweis, die Spuren seien nun erkaltet, antworteten Sie, dass dem ohnehin so wäre, ganz egal, wann Sie mir telegrafiert hätten. Sie erkannten es selbst – der Schnee ist der Feind der Detektivarbeit, Watson. Daran ändert nichts, dass Sie als Kind darin getobt haben!«
»Wenn man es so betrachtet …« Ich musste zugeben, dass er recht hatte. Für seine Profession war der Schnee durchaus hinderlich. Dann aber fiel mir etwas ein. »Der Schnee kann Ihnen aber auch eine Hilfe sein!«
Er nickte ungeduldig. »Schon wahr. Wenn er gefallen ist, nicht schmilzt und es auch nicht schneit, mag er sich gut für Spuren eignen. Aber bedenken Sie, welche Voraussetzungen dafür erfüllt sein müssen. Mir war er bisher häufiger hinderlich als nützlich.«
Ich schwieg, denn offenbar ließ Holmes in diesem Punkt keine abweichende Meinung gelten.
*
»Mister Holmes! Ich bin so froh, dass Sie kommen konnten!«, rief Lady McDermott, als sie uns an der Tür empfing. »Wir können uns das Verschwinden unseres Sohnes nicht erklären. Wo mag er nur sein?«
»Um das herauszufinden, sind wir hier. Sie kennen meinen Freund, Doktor Watson?«
»Oh, wir haben schon viel von ihm gehört!« Lady McDermott ergriff meine Hand und schüttelte sie. »Francine … Lady Cunningham … spricht häufig von Ihnen!«
»Nun, wollen wir mit der Suche beginnen?«, fragte Holmes ein wenig ungeduldig. »Es ist bereits viel Zeit seit dem Verschwinden Ihres Sohnes vergangen!«
Lady McDermott nickte und ließ uns ein. In der Halle trafen wir Lord McDermott, Earl of Livington, aber auch eine junge, verstörte Dame mit geröteten Augen und dem waidwunden Blick einer verletzten Seele.
»Sie sind Lady Sandrine Finnigan?«, erkundigte sich Holmes, während er ihr die Hand reichte. »Ich werde einige Fragen an Sie haben.«
»Gewiss!« Die junge Frau blickte zu Boden und schluchzte leise. »Alles, solange Sie nur meinen Verlobten finden!«
»So er gefunden werden will!« Holmes lächelte kalt.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Lady McDermott erstaunt. »Wieso sollte er nicht gefunden werden wollen?«
»Mister Holmes deutet an, dass sich unser Sohn aus dem Staub gemacht haben könnte. Dass er … kalte Füße bekam.«
»Unsinn!«, rief Lady McDermott.
Holmes hingegen blickte zu ihrem Gemahl. »Ihnen kamen ähnliche Gedanken, nicht wahr?«, fragte er bestimmt. »Sie haben bei der Marine nachgefragt?«
»Bei der Marine, der East India Company und der Armee«, bestätigte McDermott. »Vergebens!«
»Warum hast du mir davon nichts gesagt?«, rief Lady McDermott aufgebracht. »Wie kannst du an deinem eigenen Fleisch und Blut zweifeln?«
»Nun ja, der junge McDermott wäre nicht der Einzige, den plötzlich die Angst vor der Ehe packt«, sagte Holmes milde. »Auch die edelsten und mutigsten Männer sind hiervor nicht gefeit! Zudem sind die Umstände ungewöhnlich, nicht wahr?«
»So ist es!«, gab der Hausherr zu. »Kein Brief meines Sohnes, kein Wort an das Personal, dass er etwas zu erledigen habe. Keine Lösegeldforderung, die auf eine Entführung hindeuten würde, keine Erpressung. Es ist, als habe sich mein Sohn in Luft ausgelöst!«
»Das ist in der Tat seltsam!« Holmes schaute sich kurz um. »Nun, ich denke, ich beginne im Zimmer Ihres Sohnes. Hat er eine persönliche Zofe?«
»Lydia!«, bestätigte Sir McDermott. »Soll ich sie rufen lassen?«
»Das wäre freundlich. Sie kann uns sicherlich durch das Haus führen?«
»Gewiss. Was immer Sie brauchen, es steht zu Ihrer Verfügung. Und bitte – seien Sie heute unsere Gäste zum Dinner!«
*
»Hat der junge McDermott in den letzten Tagen vor seinem Verschwinden verstört gewirkt? War er schweigsam, wirkte er ängstlich?«, fragte Holmes die junge Zofe, während wir durch das große Haus gingen, hin zum Zimmer des Verschwundenen.
»Nein, Sir!« Die Augen der Zofe flackerten.
»Sie können die Wahrheit sagen«, erklärte ich darum sanft. »Keine Angst, Ihre Ladyschaft wird es nicht erfahren!«
Lydia senkte den Blick. »Andrew … Sir McDermott … war mir gegenüber stets sehr offen. Er … vertraute mir an, dass ihn Zweifel beschlichen ob der Heirat. Er fragte sich, ob Lady Sandrine Finnigan wirklich die richtige Partnerin für ihn sei!«
Lydia seufzte, ohne den Blick zu heben. »Nun, ich war wohl die falsche Person, die er da fragte. Er merkte es und brachte das Thema nicht wieder auf.«
Eine Träne rann über das Gesicht der jungen Frau, die aber mein Freund nicht bemerkte, denn wir hatten die Räume des jungen McDermott erreicht.
Sofort öffnete Holmes den großen, begehbaren Schrank und trat ein. Sein kühler, analytischer Blick glitt über die Anzüge, Hemden, Uniformen und Socken. »Warum waren Sie die falsche Person? Sie kennen Andrew McDermott doch sehr gut«, sagte er dabei geistesabwesend.
»Sie ist selbst verliebt in den jungen Lord«, sagte ich leise. Dann blickte ich zu Lydia. »So ist es doch, oder?«
Sie nickte.
»Und er?«, hakte ich nach. »Erwidert er Ihre Gefühle?«
»Ein wenig …« Noch immer blickte die Zofe zu Boden. »Sehen Sie, Doktor Watson – ich weiß, dass es ein unmöglicher Traum ist. Und doch war mir unwohl, wenn er über seine Liebe zu Lady Finnigan sprach.«
Holmes betrachtete das junge Ding nun doch mit Interesse. Seine scharfen Augen ruhten auf ihr, ohne dass er etwas sagte.
Dann wandte er sich wieder ab; so, als habe er einen kurzen Verdacht gehegt, diesen aber wieder verworfen. »Ist Andrew McDermott häufig verreist?«
»Hin und wieder«, sagte Lydia, froh, dass Holmes ein anderes Thema anschnitt.
»Haben Sie für ihn gepackt?«
»Gewiss!«
»Wo werden die Koffer aufbewahrt?«, hakte Holmes nach.
»Auf dem Boden!« Lydia lächelte schwach. »Sie sind alle vorhanden. Auch sind seine Kleidungsstücke vollzählig. Lord McDermott ließ mich dies gleich nach dem Verschwinden kontrollieren. Erst gab es Aufregung, weil Unterwäsche, Socken und auch Hemden sowie Hosen verschwunden zu sein schienen, aber es stellte sich heraus, dass sie lediglich in den falschen Schrank geräumt worden waren. Anne, Lord McDermotts Zofe, verwechselt hin und wieder die Kleidung!«
Holmes nickte. »Ja, das dachte ich bereits. Hier fehlt nichts … Der Schrank ist überaus ordentlich, Lydia!«
»Danke!« Die junge frau errötete.
»Sprach Andrew davon, das Haus zu verlassen?«, fragte ich, während sich Holmes nun dem restlichen Zimmer widmete.
Er besah sich die Post, hob einige Bücher auf, die auf dem Nachttisch lagen, und schnupperte an einem halb vollen Glas auf dem Schreibtisch.
»Nein. Als ich das letzte Mal mit ihm sprach, erwähnte er nichts davon.«
»Worüber haben Sie gesprochen?«, wollte Holmes wissen, während er den Papierkorb durchsuchte. Er fand ein Stück Papier und besah es sich. Dann steckte er es ein, obwohl es völlig leer zu sein schien.
»Über … Nun, es war privat!« Lydia wurde rot. »Er deutete jedoch nicht an, sich seiner Verantwortung entziehen zu wollen!«
Holmes musterte sie wieder aufmerksam. Dann schaute er zu einem Porträt, das über dem Schreibtisch hing. Eine hübsche, aber gestrenge Dame blickte den Betrachter an. Sie war bereits im fortgeschrittenen Alter, als sie sich hatte porträtieren lassen. In ihrem grauen Haar steckte ein Diadem, um ihre Schultern lag eine Stola aus Pelz.
»Lady Annabella McDermott, Countess of Livington. Sie war die erste weibliche Trägerin des Titels; das Bild entstand 1790!« Lydia lächelte versonnen. »Manche sagen, nach ihrem Tod erreichte kein McDermott jemals wieder den Glanz, den das Haus zu ihrer Zeit verströmte.«
»Ein hübsches Diadem!«, merkte ich an. »Und auch die Stola … Rotfuchs?«
»So ist es. Beides befindet sich nicht mehr im Besitz der Familie. Obgleich Andrew … Sir McDermott … davon sprach, seine Braut gerne mit diesem Schmuck zu sehen, um den alten Glanz zurückzuholen.«
Unwillkürlich strich sich Lydia durch das Haar. So, als könne sie das Diadem darin spüren.
»Wurde es verkauft?«, fragte Holmes, der das Porträt nun ebenfalls musterte.
»Es verschwand. Manche sagen, die Countess habe sich damit bestatten lassen. Andere vermuten, es sei gestohlen worden. Die Familie wurde vor etwa sechzig Jahren von einem Skandal heimgesucht, als mehrere Mitarbeiter bei Nacht und Nebel mit einigen sehr wertvollen Besitztümern verschwanden. Obwohl hohe Belohnungen ausgesetzt wurden, fasste man weder die Täter, noch konnte die Habe beschafft werden.«
»Sie wissen erstaunlich viel«, stellte Holmes fest.
»Andrew … Sir McDermott … erzählte mir all das. Ich bin … wissbegierig, wie er es ausdrückte. Nicht so, wie …«
Ihr Gesicht verfinsterte sich.
»Hm?«, fragte ich. »Sprechen Sie ganz frei! Keine Angst, niemand wird es erfahren!«
»Es schickt sich nicht!«, wiegelte sie ab.
»Seien Sie unschicklich!«, flüsterte Holmes verschwörerisch und bewies damit, wie gut er sich in andere hineinversetzen konnte. Ihm gelang es, Menschen zum Sprechen zu bringen, die bei jedem anderen schwiegen.
»Lady Sandrine Finnigan ist eine hohle Nuss!«, wisperte Lydia. »Es heißt, sie sei auf einem Internat für Mädchen gewesen, aber ich frage mich, ob man sie dort aus Versehen zu den Pferden stellte, statt sie zu unterrichten. Andrew ist ein gebildeter, weit gereister Mann, der seine größte Freude darin findet, sich neues Wissen anzueignen. Und sie … redet nur von ihren Kleidern, von unschicklichen Bediensteten und davon, wie gerne sie doch ausreitet!«
Lydia klang verzweifelt, schien aber gleichzeitig froh, all das endlich einmal sagen zu können.
»Wie denkt das restliche Personal über sie?«, fragte Holmes sanft, während ich mir ein herzhaftes Lachen verkneifen musste.
»Jeder hier denkt das Gleiche. Niemand ist glücklich über diese Verbindung. Nun ja, abgesehen von Lord und Lady McDermott, aber denen geht es eher um die Vergrößerung von Reichtum und Einfluss. Das Personal sähe es gerne, würde die Heirat abgesagt. Andrew hat Besseres verdient!«
»Sie zum Beispiel!«, sagte Holmes.
»Ich bin nur eine Zofe und damit weit unter seinem Stand. Aber vielleicht jemanden wie mich. Jemanden, der an seinem Wissen interessiert ist, nicht an seinen Pferden und dem See im Süden!«
Holmes nickte, blickte noch einmal zu dem Gemälde, dann wandte er sich ab und verließ den Raum. »Sie waren sehr hilfreich, Lydia. Wir benötigen ein Zimmer, in dem wir ungestört sein können. Zudem wäre es schön, könnten Sie mir einen Bleistift bringen!«
»Folgen Sie mir! Und bitte – sagen Sie der Herrschaft nicht, was ich Ihnen anvertraut habe. Ich arbeite trotz allem sehr gerne für die Familie!«
*
»Was halten Sie davon?«, fragte Holmes, als wir unter uns waren. Lydia hatte uns eine Schreibstube zugewiesen; in ihr fanden wir nicht nur ein Sofa, sondern auch einen Schreibtisch mit diversen Utensilien, darunter auch einen Bleistift.
»Dieses junge Ding hat eine geschliffene Ausdrucksweise. Ihre farbige Metapher wird mir nicht so leicht aus dem Kopf gehen«, gab ich zu.
»Sie hat ein Motiv, McDermott verschwinden zu lassen!«, gab Holmes zu bedenken. »Jeder Angestellte hat es. Denken Sie nur daran, was sie sagte. ›Das Personal sähe es gerne, würde die Heirat abgesagt. Andrew hat Besseres verdient!‹ Das macht sie verdächtig!«
»Denken Sie, Lydia hat McDermott getötet?«, wunderte ich mich.
»Dazu liebt sie ihn zu sehr. Nein, an einen Mord glaube ich nicht. Aber was, wenn sie ihn festgesetzt hat? Eine Entführung muss nicht stets ein Lösegeld nach sich ziehen. Nicht, wenn sie andere Ziele verfolgt.«
»Etwa eine Ehe zu verhindern. Oder eine Ehe zu erzwingen; vielleicht zwischen McDermott und Lydia!«, folgte ich seinem Gedankengang.
Holmes nickte. »Diese Idee kam mir. Aber dann … Sie erscheint mir doch zu abwegig!« Er holte das Papier hervor, das er aus dem Mülleimer gefischt hatte.
»Was ist das?«, fragte ich neugierig.
»Ein Blatt Papier. Man sieht Abdrücke eines Textes; offenbar hat sich die Schrift durchgedrückt.«
Holmes griff nach dem Bleistift, hielt ihn schräg und begann vorsichtig, die Abdrücke zu schraffieren. Auf diese Weise wurden die Buchstaben sichtbar.
Nach wenigen Minuten legte mein Freund den Stift beiseite und besah sich stirnrunzelnd das Ergebnis seiner Arbeit. Dann reichte er mir das Papier. »Was machen Sie daraus?«
Ich besah mir den Text.
Bacchus’ Reich!
Halter 13 Links!
Nach oben! OBEN!
Vorsicht auf sieben und elf!
Große Kerzen, Zündholz, Tasche, Kreide (?)
»Was in aller Welt ist das?«, fragte ich, nachdem ich den Text dreimal gelesen hatte, ohne dabei klüger zu sein als nach dem ersten Durchgang. »Ein Code?«
»Vielleicht. Ein Treffpunkt vielleicht?« Holmes sank in einen Sessel und schloss die Augen. »Lassen Sie mich eine Weile über dieses Problem nachdenken!«, bat er. »Gehen Sie und sprechen Sie mit dem restlichen Personal. Überprüfen Sie, ob Lydia die Wahrheit sagte oder ob bei ihr der Wunsch der Vater des Gedankens war.«
»Wie Sie wünschen!« Damit verließ ich den Raum und machte mich auf, Holmes’ Bitte nachzukommen. Der seltsame Text ging mir dabei aber nicht aus dem Kopf. Was in aller Welt hatte er zu bedeuten? War Andrew McDermott doch entführt worden? Hatte man ihn mit dieser Anweisung aus dem Haus gelockt?
Wenn ja, was war das Druckmittel gewesen?
So sehr ich auch überlegte, ich kam auf keinen grünen Zweig. Daher hoffte ich, Holmes habe mehr Erfolg mit seinem Grübeln!
*
»Ich hörte«, sagte Holmes während des Abendessens, »dass es vor etlichen Jahren einen unerfreulichen Zwischenfall gab. Angestellte verschwanden mit einem Teil der Wertsachen?«
»Wer hat Ihnen denn die alte Geschichte erzählt?«, fragte Sir McDermott erstaunt. »Aber ja, es stimmt. Eines Tages wachte meine Urgroßmutter auf und stellte fest, dass etliche Dinge fehlten. Gemälde waren abgehängt, Schmuck aus den Schatullen entwendet und das gute Silberbesteck aus dem Schrank geräumt worden. Hinzu kamen Vasen, Statuen und andere, schwere Gegenstände.«
Sir McDermott schüttelte den Kopf, als könne er es auch nach all der Zeit nicht glauben. »Drei männliche Mitarbeiter, die Hausdame und mein Urgroßvater waren ebenfalls verschwunden; keiner von ihnen tauchte jemals wieder auf!«
»Ihr Urgroßvater?«, rief Holmes. »Wie das?«
»Wir glauben, dass ihn die Banditen zwangen, den Safe zu öffnen und seine eigene Frau zu bestehlen. Dann entführten sie ihn und …« Er schwieg.
»Sehr sonderbar!«, murmelte Holmes. »Überaus sonderbar! Wie lange waren die Bediensteten im Haus?«
»Viele Jahre; die Hausdame wuchs bereits in unserem Haus auf und trat in die Fußstapfen ihrer Mutter.«
»Kam niemand jemals auf die Idee, dass sich damals etwas völlig anderes zugetragen haben könnte?«, fragte Holmes erstaunt.
»Anfangs wurden Thesen diskutiert, aber am Ende waren sich alle einig, dass wir Opfer eines Raubzuges geworden waren«, sagte Lady McDermott. Dann aber neigte sie den Kopf zur Seite. »Andrew schien die Sache auch nicht glauben zu wollen. Er forschte in dieser Angelegenheit, aber nach all den Jahren konnte er auch keinen Anhaltspunkt finden, was mit unserem Besitz geschah.«
»Sie denken doch nicht, dass dieser alte Diebstahl und das Verschwinden meines Sohnes in einem Zusammenhang stehen, oder?«, fragte Sir McDermott eindringlich. »Das ist Nonsens, Mister Holmes!«
»Möglich!«, sinnierte mein Freund. Er schaute zu Lady Finnigan. »Und welche These vertreten Sie? Was glauben Sie, warum Ihr Verlobter verschwand?«
»Ich denke nicht sehr viel darüber nach«, gab die junge Frau zu. »Es ist zu schrecklich. Ich weiß aber eines – er würde mich niemals im Stich lassen. Ihm muss etwas zugefahren sein, Mister Holmes!«
»Zugestoßen!«, korrigierte ich sie. »Oder widerfahren!«
»Oh, natürlich. Ich bin verwirrt. Diese Angst …!« Sandrine Finnigan errötete.
»Gewiss!« Ich schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. »Haben Sie keine Angst, es wird sich alles finden!«
Lady McDermott nickte und griff nach der Hand ihrer Schwiegertochter in spe, während ihr Mann alles andere als sicher schien. Er besaß jedoch genug Takt, sich jedes Kommentars zu enthalten.
Nach dem Essen bedeutete mir Holmes, ihm noch einmal zu folgen. Wir gingen durch das Haus und betraten erneut das Zimmer des Vermissten.
»Die Sache wird zunehmend verworrener!« Er griff nach den Büchern, die nach wie vor auf dem Nachttisch lagen, und schlug sie auf. »Chroniken der Familie!«
»Glauben Sie, dass der alte Diebstahl von vor sechzig Jahren etwas mit der Sache zu tun hat?«
Mein Freund nickte, ohne sich aber in Erklärungen zu ergehen. Stattdessen nahm er auf dem Bett Platz und begann, eine mit einem Lesezeichen markierte Seite zu lesen. »Hören Sie hier, Watson! Der Autor, ein Chronist der Familie, schrieb im Jahr 1810, dass er Gerüchte über alte Katakomben vernommen habe. Angeblich habe man Räume für von der Pest und dem Wahnsinn befallene Bewohner angelegt! Ein Gespräch mit dem Hausherrn erbrachte jedoch keinen Aufschluss über deren Existenz.«
»Katakomben, in dem man Aussätzige sperrte«, wisperte ich. »Das ist grausam!«
»Aber immer noch besser, als sie des Hauses zu verweisen. Je nachdem, wie hübsch die Räume eingerichtet waren …«
Holmes las noch ein paar Seiten, dann hob er eine Braue. »Im Jahr 1828 kam es zu einem Brand. Mehrere wertvolle Gemälde wurden ein Opfer der Flammen. Die Renovierung dauerte zwei Jahre. Kurz nach Beendigung ereignete sich besagter Zwischenfall; der Hausherr und ein Teil des Personals verschwanden mit diversen Wertsachen.«
Holmes sank auf dem Bett zurück und schloss die Augen. »Es wird Zeit, dass ich mich aus dem Berufsleben zurückziehe, Watson! Ich merke, dass da ein Gedanke ist. Eine Idee! Aber ich kann sie nicht greifen. All die Fälle, das Kombinieren, die Fakten und Verbrechen haben mein Gehirn ermüdet.«
»Sie sind noch immer ein brillanter Detektiv!«, widersprach ich ihm. »Sie erinnern mich in manchen Momenten an gut gelagerten Wein, der mit den Jahren besser wird, nicht schlechter!«
»Sie schmeicheln mir!«, sagte Holmes, noch immer die Augen geschlossen. »Ich …«
Er hielt inne, setzte sich ruckartig auf und blickte mich an. »Das ist es! Watson, das ist es!« Sie haben mich auf die richtige Spur gebracht! Was würde ich nur ohne Sie tun!«
Er sprang auf und eilte aus dem Zimmer. »Sir McDermott! Sir McDermott, holen Sie das Personal zusammen! Bei Gott, ich hoffe, wir sind nicht zu spät!« Er wandte sich an mich. »Ihre Arzttasche, alter Freund!
Seine lauten Rufe sorgten dafür, dass das Personal und auch die Bewohner zusammenliefen, während ich meine Arzttasche aus dem Salon holte.
»Mister Holmes, was ist denn los?«, rief der Hausherr. »So beruhigen Sie sich doch!«
»Wir müssen sofort handeln, Ihr Sohn schwebt in Lebensgefahr!«
Mir war nun klar, dass Andrew McDermott in einer Zwangslage steckte. Und dies seit Tagen! Daher wandte ich mich an Lydia, die zitternd neben uns stand. »Rasch, holen Sie Wasser und etwas zur Stärkung, dann kommen Sie mit!«
»Sie wissen, wo sich mein Sohn aufhält?«, rief Lady McDermott.
»So ist es!«
»Das ist wunderbar!«, rief auch Lady Finnigan. »Ich hoffe, er ist wohlauf!«
»Denken Sie doch einmal nach!«, zischte Lydia. »Wie soll er wohlauf sein, wenn Mister Holmes von Lebensgefahr spricht und ich etwas zur Stärkung bringen soll?« Es war, als könne sie sich nicht länger zurückhalten.
Sandrine Finnigan schenkte der Bediensteten einen empörten Blick, konnte aber nichts mehr sagen, denn Holmes eilte bereits zu einer Treppe, die hinab in den Keller führte. »Zum Weinkeller?«
»Dort hinab. Aber wir haben bereits das Haus abgesucht!«, rief Sir McDermott.
Aber davon ließ sich Holmes nicht aufhalten. Er lief mit energischem Schritt die Stufen hinab, ging an verschiedenen Türen vorbei und öffnete jene, an der in großen Lettern Weinkeller stand.
Ich folgte ihm dichtauf.
In der Dunkelheit des Raumes sahen wir Fässer rechts und links an den Wänden stehen.
Rasch begann Lady McDermott damit, die Kerzen im Weinkeller zu entzünden.
Holmes wartete etwas, dann lief er los. »Wissen Sie, was das hier ist?«, fragte er mich dabei leise.
»Bacchus’ Reich!«, erkannte ich.
»So ist es. Wir brauchen das 13. Fass auf der linken Seite!«
»Dort!« Ich deutete auf ein großes, braunes Fass. Laut Aufschrift befand sich darin ein Tokajer.
»Und nun – der Halter!« Holmes deutete auf einen Kerzenhalter unmittelbar hinter dem Fass. Er drückte diesen nach oben – und zum Erstaunen aller schwang ein Teil der Wand beiseite und gab eine Treppe frei, die hinab in die Tiefe führte. In den Halterungen an der Wand brannten Reste schwerer Kerzen.
»Achten Sie auf die siebte und elfte Stufe!«, rief ich den anderen zu, während Holmes und ich in die Tiefe stiegen.
»Sehrt gut, Watson! Sie haben verstanden«, wisperte mein Freund auf dem Weg hinab.
Uns folgte eine Weile Sir McDermott, doch als wir den Fuß der Treppe erreichten, hatte sich Lydia nach vorne geschoben. Sie trug einen Krug mit Wasser, Suppe, Brot und Obst.
Wir folgten nun einem schmalen Gang, bis wir an ein Gitter kamen, das von der Decke gefallen zu sein schien und den Weg blockierte. Ein Rad links an der Wand diente dazu, es zu öffnen.
»Jemand muss hier bleiben, falls es erneut hinabfällt!«, befahl Holmes, ehe wir unseren Weg fortsetzten.
Noch zweimal fanden wir solche Gitter vor, ehe wir schließlich vor einer breiten Holztür standen. Auch sie war von außen verriegelt und mit einem letzten Gitter gesichert.
Eilig öffnete Sir McDermott. Holmes riss die Tür auf und dort, inmitten eines großen Salons mit antiken Möbeln, sahen wir Andrew McDermott.
Er saß in einem Sessel und schaute uns aus schweren Lidern an, die Wangen eingefallen, die Haut bleich.
»Andrew!« Lydia stieß einen Schrei aus und eilte mit den Lebensmitteln zu dem jungen Mann.
Ihr folgten sein Vater und die Mutter, ehe auch Lady Finnigan zu Andrew McDermott herantrat und ihn erstaunt musterte.
Dann sah sie die Skelette, die auf Sofas und in Sesseln saßen. Sie stieß einen Schrei aus und floh aus dem Raum.
Ich kauerte bereits neben Andrew McDermott und maß dessen Puls und Blutdruck. »Haben Sie etwas getrunken?«, fragte ich dabei.
»Etwas Wasser!« Er deutete auf eine Flasche. »Schnee fiel durch eine Luftöffnung. Aber es war nicht viel!« Der junge Mann blickte zu Lydia, die nun hemmungslos weinte, ihm aber gleichzeitig Wasser und eine Suppe reichte.
Gierig nahm McDermott von beidem. Ich musste ihn bremsen, denn sein Körper konnte in dieser Verfassung keine großen Mengen vertragen.
»Das sind die Besitztümer, die man uns raubte!«, rief Sir McDermott, der sich inzwischen umgeschaut hatte. Auf dem Boden und auf Tischen lagen all die Dinge, die er beim Dinner aufgezählt hatte. »Und die Toten …?«
»Ururgroßvater und seine treuen Angestellten!« McDermott nahm wieder einen Schluck, ehe er ein erleichtertes Lachen ausstieß. »Ich dachte, mich würde das gleiche Schicksal ereilen. Ohne den Schnee …« Er griff nach Lydias Hand, dann schlief er ein.
»Bringen Sie ihn in sein Zimmer. Ich schaue bald nach ihm!«, wies ich jene Angestellten an, die mit in den Raum vorgedrungen waren.
»Ich verstehe das alles nicht!«, gab Sir McDermott zu. »Was ist hier geschehen?«
Holmes hob ein Diadem in die Höhe. Es war jenes, das die Countess auf dem Gemälde trug. »Das hier war der Auslöser!«
»Ich begreife nicht …«
»Lydia erzählte uns, dass Andrew seine Braut mit dem Diadem und der Stola seiner Vorfahrin zum Altar führen wollte, um den alten Glanz herzustellen. Hierzu aber musste er beides haben.«
»Und?«, wunderte sich der Hausherr.
»Wie Ihre Frau schon sagte, glaubte Ihr Sohn nicht, dass es sich bei den Ereignissen vor sechzig Jahren um einen Diebstahl handelte. Er las die Chroniken, fand den Hinweis auf diese Anlage und begriff, dass sein Ururgroßvater einen Teil der Wertsachen hierher bringen ließ, um sie vor einem neuerlichen Feuer zu schützen. Dabei aber musste etwas geschehen sein, sodass sie nie zurückkehrten!«
»Er suchte diese Katakomben, fand sie und tappte in die gleiche Falle, die seinem Vorfahren zum Verhängnis wurden!«, begriff Lady McDermott.
»So ist es!«, rief Holmes zufrieden. »Wahrscheinlich schließen die Gitter und auch die Verriegelung der Tür nach einer Weile automatisch, um den hier Eingesperrten den Weg zurück zum Haus zu versperren. Als er es merkte, was es zu spät. Zwar hatte er nun das Diadem und die Stola gefunden, kam aber nicht mehr raus. Er schrie vermutlich, aber hier unten hörte ihn niemand.«
»Hätten Sie das Rätsel nicht gelöst …!« Lady McDermott schlug sich mit der Hand auf den Mund.
»Er wäre hier unten gestorben; genau wie sein Ururgroßvater!« Holmes lächelte. »Zum Glück konnten wir dies verhindern. Ende gut, alles gut!«
So endete der Fall des verschwundenen Bräutigams. Anfügen möchte ich noch, dass ich ein langes Gespräch mit Andrew McDermott hatte.
Zwei Monate später, als er wieder vollends bei Kräften war, lud er zu einer rauschenden Hochzeit. Selten war ein Bräutigam glücklicher als Andrew und eine Braut schöner als Lydia McDermott!
E N D E