Читать книгу Sophienlust Paket 1 – Familienroman - Diverse Autoren - Страница 28
Оглавление»Zum Donnerwetter, so geht es doch nicht!« Dr. Thomas Rodeck hieb mit der Faust auf den Tisch, dass das Geschirr klirrte. »Das wird ja ein Kuhhandel.«
»Mäßige dich!«, mischte sich Cora Berger nörgelnd ein. »Wir kommen von einer Beerdigung.«
»Genau das wollte ich sagen«, antwortete Dr. Rodeck. »Was soll der Junge denken? Wo steckt Robin überhaupt?«
Augenblicklich schwiegen die streitenden Stimmen. Vor einer Stunde hatte man Professor Malte Rodeck zu Grabe getragen, und nun war sein Sohn verschwunden.
Fritz Rodeck erhob sich. Er war der ältere Bruder des Professors und die Verkörperung eines der verknöcherten Beamten.
»Wo wird er denn schon sein. Bei dem Hund oder im Schweinestall, wo er sich auch sonst immer herumtreibt«, meinte er unwillig.
Dr. Thomas Rodeck, jüngerer Cousin und früherer wissenschaftlicher Mitarbeiter des Verstorbenen, war davon nicht überzeugt. Obwohl er sich nie allzu viel um Robin gekümmert hatte, weil seine Forschungsarbeiten ihn viel zu sehr in Anspruch genommen hatten, besaß er doch von allen Anwesenden den engsten Kontakt zu dem sechsjährigen Robin. Deshalb stand er sofort auf und verließ den Gasthof, in dem sie sich versammelt hatten, weil Stine, die alte Haushälterin des Professors, die er aus seinem Elternhaus übernommen hatte, sich geweigert hatte, diese Gesellschaft zu bewirten.
Atemlos, mit bleichem Gesicht, kam Dr. Thomas Rodeck wenig später zurück. Seine Suche nach dem Jungen war ebenso vergeblich gewesen wie die Fritz Rodecks.
»Robin ist verschwunden«, sagte er. »Mein Gott, auch das noch. Ich wage mich nicht mehr unter Stines Augen.«
»Er ist wie seine Mutter«, erklärte Cora Berger, geborene Rodeck, gehässig. »Genau wie sie!«
Dr. Rodeck warf ihr einen zornigen Blick zu, den sie mit einem hochmütigen beantwortete, bevor sie herablassend fortfuhr: »Im Übrigen hast du dich wohl am wenigsten einzumischen, Thomas. Du bist ja nur ein entfernter Verwandter.«
»Du wirst mir aber gestatten, dass ich in Sorge um den Jungen bin«, erwiderte er zornig. »Nein, so, wie ihr es euch vorstellt, geht es wirklich nicht. Wartet doch erst einmal ab, was Malte in seinem Testament bestimmt hat!«
Man hätte in diesem Augenblick eine Stecknadel zu Boden fallen hören können. »Hat er es überhaupt geändert?«, fragte Cora aufgeregt. »Es wäre ihm schon zuzutrauen, dass er es so gelassen hat, wie er es damals abgefasst hat, als er dieses Animiermädchen heiratete.«
»Halt endlich deinen Mund!«, verlangte ihr Mann, der Oberstudienrat Walter Berger. »Das wird ja peinlich.«
»Janice war kein Animiermädchen«, wies auch Thomas sie zur Ordnung.
Cora machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du warst ja immer in sie verliebt«, spöttelte sie. »Zu dir hätte sie auch besser gepasst als zu Malte.«
»Ja«, dachte er, »das mag richtig sein. Jedenfalls hätte ich sie nicht gehen lassen. So nicht!«
»Ich schlage vor, dass wir uns morgen bei der Testamentseröffnung treffen«, erklärte er rau. »Ich muss jetzt Robin suchen.«
»Wir haben unsere Zeit auch nicht gestohlen«, ereiferte sich plötzlich Fritz Rodeck. »Ich habe Doktor Keßler unterrichtet, dass wir nur diesen einen Tag bleiben können. Wir werden uns heute Nachmittag in Maltes Haus treffen, ob es Stine passt oder nicht.«
Thomas hörte nicht mehr zu. Er unterhielt sich mit der jungen Bedienung, die ihm wenigstens einen Hinweis auf den Jungen geben konnte.
»Da war vorhin noch ein Herr mit einem blauen Wagen«, berichtete sie. »Ich habe den Jungen gesehen, wie er dort herumschlich. Aber der Herr sah sehr solide aus, nicht wie ein Kidnapper. Wenn Sie mich fragen, ich wäre auch ausgerückt, wenn ich der Junge gewesen wäre!«
Thomas konnte ihr die Kritik nicht einmal übel nehmen. Es war mehr als geschmacklos gewesen, in Robins Gegenwart all diese unerfreulichen Dinge zu erörtern. Denn Robin war mit seinen sechs Jahren ein sehr aufgeweckter Junge, und irgendwie hatte er doch an seinem Vater gehangen, wenn Malte es auch nicht verstanden hatte, mit dem Kind umzugehen.
Aber wer hatte das schon verstanden? Gut, die alte Stine hatte für den Jungen gesorgt, so gut es eben ging, aber die Mutter hatte sie ihm nicht ersetzen können.
Und er, Thomas? Was hatte er denn schon groß für ihn getan, außer dass er ihm hin und wieder ein Buch oder ein Spielzeug mitgebracht hatte? Die Reue kam zu spät. Eiskalt rann es Thomas den Rücken herab. Nein, seine Reue durfte nicht zu spät kommen. Er musste Robin finden. Sollten die anderen sich doch um die Erbschaft streiten. Er besaß die Ergebnisse der Forschungsarbeit, die er zusammen mit Malte durchgeführt hatte. Zwar war das Ziel noch nicht erreicht, aber die bisherigen Ergebnisse waren wertvoll. Sie hatten es sich zur Aufgabe gemacht, ein Heilmittel gegen bösartige Geschwülste zu finden. Davon war Malte geradezu besessen gewesen, und Thomas wusste jetzt auch, warum. Denn sein Cousin und Freund war an einer solchen Geschwulst gestorben.
Thomas dachte an vieles, während er mit seinem Wagen durch die Gegend fuhr und immer wieder nach dem Kind fragte, das jedoch niemand gesehen hatte.
*
Allein mit ihrem Mann, war Cora Berger bei Weitem nicht mehr so selbstsicher wie zuvor.
»Man kann uns doch wohl keine Schwierigkeiten machen, wenn der Junge auf und davon ist?«, erkundigte sie sich ziemlich kleinlaut.
»Verletzung der Aufsichtspflicht, die uns oblag«, erwiderte er unwillig. »Gar so auf eine Erbschaft versessen brauchst du dich auch nicht aufzuführen, Cora. Man muss ja annehmen, dass wir pleite sind.«
»Geht es uns etwa so gut, dass wir es uns leisten könnten, auf diese Erbschaft zu verzichen?«, fuhr sie ihn an. »Du mit deinem lächerlichen Gehalt. Wir haben drei Kinder. Zu einem Haus kommen wir sonst nie. Ich sehe eben alles realistisch.«
Er seufzte schwer. Gegen seine Frau kam er ohnehin nicht an. Natürlich wäre es auch ihm willkommen, wenn sie Malte Rodecks Haus erben würden, obwohl sie damit zugleich den Jungen in Kauf nehmen müssten. Aber Coras Bruder Fritz würde auch darauf spekulieren.
»An deiner Stelle würde ich heute Nachmittag jedenfalls einen anderen Ton anschlagen«, riet er seiner Frau, und seine Stimme klang beinahe drohend.
»Ach, du Schwächling«, herrschte sie ihn an. »Was bringst du denn schon auf die Beine!«
Seufzend ergab er sich in sein Schicksal, doch er ahnte, dass sich ein paar Zimmer weiter eine ähnliche Szene zwischen Fritz Rodeck und dessen Frau abspielte.
*
Vielleicht ist Robin zu Stine gelaufen, überlegte Thomas plötzlich. Es war zu Fuß zwar ein weiter Weg bis zum Haus des Professors, das ganz abgeschieden in einem unberührten Waldstück lag, aber vom Erdboden konnte der Junge doch nicht verschwunden sein.
Stine war vom Friedhof aus gleich mit dem Einspänner heimgefahren, den sie auch für ihre Besorgungen benutzte. Die knochige alte Frau mit dem schütteren grauen Haar, das im Nacken zu einem festen Knoten zusammengedreht war, blickte Dr. Rodeck über ihre Nickelbrille hinweg an, als er zu ihr in die Küche kam.
»Ist Robin hier?«, fragte er außer Atem.
»Er sollte doch bei dieser Gesellschaft bleiben«, erwiderte sie verächtlich. Aber sofort kam ein ängstlicher Ausdruck in ihre Augen. »Ist er nicht mehr dort?«
»Dann wäre ich nicht hier«, antwortete er erregt und strich nervös durch sein dichtes braunes Haar.
Stine kniff die Augen zusammen. Sie war mit den Rodecks nach dem Krieg aus dem baltischen Raum gekommen, und manch einer mochte sich wundern, warum sie so lange bei ihnen geblieben ist.
»Der Robin geht schon nicht unter«, knurrte sie. »Er ist wie seine Mutter. Jetzt werde ich ja ihren Namen wieder nennen dürfen«, fügte sie anzüglich hinzu.
»Stine, du weißt doch, dass ich nie etwas gegen Janice hatte«, entgegnete Thomas leise.
»Was Sie zu viel für sie übrig hatten, hatten die anderen zu wenig. Schon allein aus diesem Grund hätten Sie sich auch mehr um Robin kümmern müssen«, erwiderte sie anklagend.
»Ich kann leider nicht mit Kindern umgehen«, entgegnete er entschuldigend.
»Das hätten Sie lernen können. Aber ihr habt ja immer nur in eurem Labor gehockt. Da konnte die Sonne scheinen, oder der Himmel weinen, was habt ihr euch denn schon darum gekümmert, wo Robin steckt? Und jetzt zeigt er es euch allen. Recht hat er!«
»Stine, du weißt, wo er ist, sonst könntest du nicht so ruhig sein«, sagte Thomas eindringlich.
»Ich weiß es nicht«, beharrte sie. »Ich fühle nur, dass ihm nichts passiert ist. Ein Schutzengel ist bei ihm, und die Gedanken seiner Mutter.«
»Heute Nachmittag kommen sie zur Testamentseröffnung«, informierte er sie vorsichtig.
»Mich werden sie nicht zu sehen beommen«, erwiderte sie unwillig. »Diese Bande, diese habgierige Bande! Oh, ich kenne sie alle. Froh hätten sie sein sollen, dass der Professor eine solche Frau bekommen hatte, aber sie haben ihr das Leben zur Hölle gemacht, und ihm war seine Arbeit wichtiger als seine Frau.«
»Er war krank«, erinnerte Thomas leise. »Er war schon lange krank, Stine. Er wusste, dass er ihr nichts mehr sein konnte, sonst hätte er sie festgehalten.«
»Er hätte ihr das Kind lassen können«, brummte sie. »Ein Kind gehört zu seiner Mutter.«
Schweigend verließ Thomas das Zimmer und ging zu dem Anbau hinüber, in dem seine kleine Wohnung und das Labor lagen.
Wie war das damals gewesen? Warum hatte Janice auf ihren Sohn verzichtet?
Er sank an seinem Schreibtisch nieder und nahm ein Bild von ihr aus einer Schublade. Wie einen Schatz hatte er es aufgehoben und oft voller Schmerz und Sehnsucht betrachtet. Ob auch Malte das Bild seiner Frau manchmal in den Händen gehalten hatte? Nie wieder war ihr Name erwähnt worden seit jenem Tage, da Janice aus dem Haus gegangen war.
Thomas blickte in ein feines zartes Gesicht, umgeben von hellem Haar, in dem sich die Strahlen der Sonne zu brechen schienen, sodass sie dieses Gesicht wie ein Heiligenschein umrahmten. Ihre großen klaren Augen waren stets von einer fernen Trauer erfüllt gewesen, als ahnte sie schon kommendes Leid.
Wie war Malte, dieser schwerfällige, verschlossene Wissenschaftler, überhaupt zu dieser wunderbaren Frau gekommen, die zwanzig Jahre jünger war als er und schön wie ein Gemälde?
Thomas wusste es nicht, denn Malte hatte darüber nie gesprochen. Er selbst aber hatte gerade sein Studium beendet, als er die Nachricht von der Heirat bekam. Erst ein Jahr später, als Malte ihn bat, sein Mitarbeiter zu werden, hatte er Janice Rodeck kennengelernt.
Thomas rief sich auch diesen Tag in die Erinnerung zurück. Der Atem hatte ihm gestockt, als die zarte, bildschöne Frau in dem düsteren Wohnzimmer erschienen war. Malte liebte keine hellen Wände, keine hellen Bilder, keine lichten Farben, und Janice schien sich damit abgefunden zu haben. Sie hatte lediglich ihrem kleinen Sohn, den sie abgöttisch liebte, in der Mansarde ein helles luftiges Reich eingerichtet. Zu diesem Zimmer zog es Thomas nun.
Der große Raum war ordentlich aufgeräumt. Bunte, luftige Gardinen, von der Sonne schon verschossen, flatterten an den offenen Fenstern, deren Blick zum Wald ging. Das Haus hatte früher dem Forstmeister gehört und war ein wenig romantisch, so recht geeignet für einen versponnenen alten Gelehrten, aber nicht für eine junge, schöne blühende Frau, die das ganze Leben noch vor sich hatte.
»War Janice jemals glücklich gewesen?«, fragte sich Thomas. Er erinnerte sich, wie er mit ihr am frühen Morgen über die Wiesen und durch den Wald gelaufen war. Wie zwei übermütige Kinder hatten sie sich gefühlt. Und wie hatte sie dabei lachen können! Aber das Lachen war ihr vergangen, als die Familie immer mehr auf Malte Rodeck eingeredet und versucht hatte, Janice mit den schlimmsten Verdächtigungen aus seinem Leben zu verbannen.
Dr. Rodeck fragte sich, ob Malte sie nur deswegen hatte gehen lassen, oder ob nicht vielmehr das Wissen um seine Krankheit der Anlass dazu gewesen war. Hatte er ihr vielleicht sein schlimmes Sterben ersparen wollen, überlegte er, während er die kleinen Dinge betrachtete, die Robins Welt gewesen waren: Ein arg zerzauster Teddybär, eine kleine Holzeisenbahn, ein Schaukelpferd, Bilderbücher, Baukästen, alles ordentlich und so gehalten, als wollte er es sich für immer aufheben.
»Wo bist du, Robin«, dachte Thomas verzweifelt, und dann: »Wo bist du, Janice?«
*
Der Junge, um den sich alle seine Gedanken drehten, saß in Sophienlust still am Tisch und blickte vor sich hin.
Denise von Schoenecker legte ihre schönen schlanken Finger auf seine Hand und streichelte leicht darüber hin.
»Bitte, iss doch etwas, Robin«, bat sie freundlich.
»Ich will nicht zu denen zurück«, stieß er hervor.
»Bitte, bitte, lassen Sie mich hierbleiben, bis ich meine Mutti gefunden habe. Stine können Sie ja ruhig sagen, wo ich bin, und Thomas auch. Aber den anderen nicht! Sie haben mich nicht lieb. Sie haben auch meine Mutti nicht lieb gehabt, und ich mag nie wieder hören, was sie alles über sie sagen.«
Ein von Schmerz zerrissenes Kinderherz, was konnte Denise von Schoenecker und alle, die in Sophienlust lebten, mehr bewegen? Der Zufall hatte Robin ausgerechnet hierhergebracht, denn er hatte sich heimlich in Luis Olbergs Wagen verkrochen, der hergekommen war, um seine Lilly zu holen. Es war, überlegte Denise, wieder einmal eine Fügung Gottes, denn dieses verstörte Kind brauchte Hilfe, Trost und viel, viel Liebe.
»Alle hier sind nett zu mir«, sagte Robin schüchtern, »aber ich bin kein Waisenkind. Ich habe noch eine Mutti.«
Denise lächelte sanft. »Hier sind mehrere Kinder, die noch eine Mutti oder sogar Eltern haben, und wir halten auch kein Kind gewaltsam fest, wenn es nicht hierbleiben will.«
Robin sah sie nachdenklich an. »Ich möchte ja ganz gern hierbleiben, bis ich zu meiner Mutti darf. Aber sie wollen mich doch nur deshalb nicht zu ihr lassen, weil es ihnen um das Geld geht. Den ganzen Morgen haben sie von dem Haus und dem Geld geredet, und was Vater alles verschwendet habe mit seinen Wahnideen. So haben sie es genannt. Aber Vater wollte doch nur kranken Menschen helfen, das hat mir Thomas erklärt.«
»Du bist ja jetzt hier, Robin«, meinte Denise beruhigend. »Nun isst du erst einmal brav, und dann spielst du mit den anderen Kindern. Bei uns bist du gut aufgehoben, mein Junge.«
»Sie sprechen so lieb«, flüsterte er, »und Sie sind fast so schön wie meine Mutti.«
Welches Schicksal würden sie wohl diesmal erfahren, überlegte Denise. In aller Eile hatte sie Dr. Lutz Brachmann über ihren neuen Schützling unterrichtet und ihn gebeten, in Erfahrung zu bringen, wohin er eigentlich gehörte. Selbstverständlich war es ihre Pflicht, die nächsten Angehörigen zu informieren. Man konnte die Anwesenheit des Jungen in Sophienlust nicht einfach verschweigen, aber Denise traute sich nach ihren mehrjährigen Erfahrungen auch zu, das Beste für dieses Kind durchzusetzen.
*
Stine verschwand, als die Bergers mit ihrem alten Auto vorfuhren. Sie rümpfte die Nase. Wert auf Äußerlichkeiten hatte ihr Professor auch nie gelegt, aber er war auch nicht so habgierig gewesen wie seine Verwandten.
Manchmal hatte Stine zwar auch gedacht, dass er eine fixe Idee habe, aber einem so berühmten Wissenschaftler stand das wohl auch zu. So viele Kränze hatte der kleine Dorffriedhof noch nie gesehen wie heute und auch nicht eine so große Trauergesellschaft. Aber was konnte das dem Professor jetzt noch nützen?
Stine wollte es sich nicht eingestehen, aber jetzt machte sie sich auch schon Gedanken um Robin. Sie hatte bestimmt gedacht, dass er wenigstens ihr Bescheid sagen würde, wo er sich versteckt hielt. Schließlich musste er doch etwas zu essen haben, und Geld hatte er auch keines.
An schlechte Menschen, denen der Junge in die Hände fallen konnte, dachte Stine zu allerletzt. Für sie gab es keine schlimmeren Menschen als die Verwandtschaft von Professor Rodeck, Thomas ausgenommen.
Nun würde es im Haus wieder zugehen, überlegte sie zornig, als sie sich in den Wald schlich. Mit den Tieren kam sie besser zurecht als mit den Menschen, und die Bäume hatten ihr auch mehr zu sagen. Doch jetzt sprach sie mit sich selbst und schickte Bittgebete zum Himmel, dass Gott dem kleinen Robin seine Mutter zurückgeben möge.
*
Die drinnen im Haus versammelt waren, dachten anders. Sie verurteilten das Weglaufen des ungezogenen Jungen und überhäuften Thomas mit bitteren Vorwürfen, dass er nicht besser auf ihn geachtet habe.
Auch jetzt ging es vor allem um den Nachlass von Professor Malte Rodeck. Inzwischen war Dr. Keßler eingetroffen, ein alter Herr mit einem schmalen klugen Gesicht und schlohweißen Haaren, der keine Miene verzog, als man ihn mit Fragen bestürmte.
»Nehmen Sie doch bitte Platz, meine Herrschaften!«, bat er ruhig. »Ich habe hier alles schwarz auf weiß. Sie werden sofort erfahren, was mein Freund Malte Rodeck in seinem Testament bestimmt hat.«
Noch ahnten sie nicht, dass ihnen allen eine große Enttäuschung bevorstand. Erst als Dr. Keßler sagte: »Lange werde ich Sie nicht aufhalten«, befürchteten sie Schlimmes.
Das Testament war kurz und bündig: »Zu meinem Alleinerben bestimme ich meinen Sohn, zu seinem Vermögensverwalter Dr. Thomas Rodeck und zu seinem gesetzlichen Vormund meine geschiedene Frau, Janice Rodeck, geborene Vandermeer.«
»Das ist unmöglich«, unterbrach Cora Bergers harte Stimme die Stille, aber eine Handbewegung ihres Mannes brachte sie zum Schweigen.
»Das wird angefochten«, drohte Fritz Rodeck empört.
»Das steht Ihnen frei«, erwiderte Dr. Keßler kühl. »Bitte, hören Sie sich noch an, was Herr Professor Rodeck in diesem Brief hinterlassen hat.«
Auch der Brief war kurz abgefasst. Er lautete: »Ich habe mich von meiner Frau nicht scheiden lassen, weil meine Familie es so wollte, sondern weil ich damals bereits wusste, dass ich unheilbar krank war. Janice hätte mich nie verlassen, davon bin ich überzeugt. Aber sie sollte nach allem, was ihr von meiner Familie zugefügt worden war, nicht auch noch diese entsetzliche Krankheit miterleben, die zu bekämpfen ich mich mit Thomas Rodeck bemühte. Mein Tod beweist, dass mir dies nicht gelungen ist, aber ich bin überzeugt, dass Thomas diese Arbeit fortführen wird.«
Tiefes Schweigen und lange Gesichter waren die Reaktion. Frau Helene Rodeck und der Oberstudienrat Walter Berger ahnten bereits, was sie daheim erwartete, aber Dr. Keßlers Gegenwart sorgte dafür, dass im Augenblick alle Empörung zurückgehalten wurde.
»Ich hatte also doch recht«, dachte Dr. Thomas Rodeck. »Aber was nützt es mir, wenn ich Robin nicht finde – und wenn Janice gar nicht gefunden werden will?«
Man war schon im Aufbruch begriffen, als noch ein Wagen vorfuhr, dem ein junger, gut gekleideter Herr entstieg.
»Mein Name ist Dr. Brachmann«, stellte er sich vor, als Thomas ihm entgegenging. »Ich bringe Ihnen die Nachricht, dass sich Robin Rodeck seit heute Vormittag auf Gut Sophienlust befindet.«
Warum konnte er nicht etwas später kommen, dachte Thomas betroffen. Nun wissen sie es alle, und wie ich sie kenne, werden sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um sich des Jungens zu bemächtigen.
Doch zunächst waren sie wie erstarrt, dann doch recht teilnahmsvoll. Jedenfalls versuchten sie, diesen Anschein zu erwecken.
»Nun können wir der Entwicklung in Ruhe entgegensehen«, sagte Cora Berger zu ihrem Mann. »Der Junge ist untergebracht. Um ihn brauchen wir uns nicht zu kümmern, und alles andere überlässt du am besten mir. Malte muss ja geistig umnachtet gewesen sein. Es wäre doch gelacht, wenn man dieses Testament nicht anfechten könnte. Kein Wort über den Wert der Erbmasse, nichts!«
»Bedenke, dass er auch Schulden haben könnte«, warnte er.
Sie funkelte ihn zornig an. »Ich kenne meinen Bruder. Er hinterlässt keine Schulden. Außerdem muss er irrsinnige Summen mit seinen Büchern verdient haben. Und aufwendig gelebt haben sie auch nicht.«
»Das solltest du dir mal zu Herzen nehmen«, war seine kühle Antwort. Worauf sie ihn mit einem vernichtenden Blick bedachte.
*
»Erzählen Sie mir bitte, wie Robin nach Sophienlust kam, Herr Doktor Brachmann«, bat Thomas.
»Ich weiß selbst nicht viel. Frau von Schoenecker hat mich sofort unterrichtet, und ich habe keine Zeit verstreichen lassen, um die Angehörigen des Kindes ausfindig zu machen. Es war nicht schwer. Professor Rodeck war ein bekannter Gelehrter. Gestatten Sie mir bitte die indiskrete Frage: War er auch vermögend?«
Thomas warf Dr. Keßler einen unsicheren Blick zu. Der nickte. »Ein sehr vermögender Mann«, bestätigte er seinem jungen Kollegen. »Wenn dieses Haus auch keinen Aufschluss darüber gibt.«
»Und wer ist der Erbe?«
»Robin in erster Linie«, erwiderte Dr. Keßler ruhig. »Es wäre jetzt zu klären, wo sich Frau Rodeck aufhält. Mein Mandant wollte ihr regelmäßig einen ausreichenden Unterhalt gewähren, was sie jedoch ablehnte. Alle Geldsendungen kamen als unzustellbar zurück. Sie wissen auch nicht, wo sie sich befindet, Thomas?«, erkundigte er sich vorsichtig.
»Ich wollte, ich wüsste es«, entgegnete der junge Wissenschaftler. »Die Umstände, unter denen sie das Haus verließ, waren etwas fatal.«
»Es wäre interessant für mich, mehr darüber zu erfahren«, erklärte Dr. Brachmann ruhig. »Ich denke doch, dass wir die gleichen Interessen vertreten, nämlich die von Robin Rodeck.«
»Kann ich mit Robin sprechen?«, fragte Thomas beklommen.
»Dem steht nichts im Wege. Aber vielleicht lassen Sie ihm erst ein paar Tage Zeit, sich in seine neue Umwelt einzuleben, in der er zu bleiben wünscht. Darf ich Ihr Einverständnis voraussetzen, Herr Doktor Rodeck?«
»Es wird die beste Lösung sein«, meinte Thomas. »Für einige Zeit werde ich wohl damit beschäftigt sein, den Aufenthalt seiner Mutter ausfindig zu machen. Ich muss sie finden, denn ich weiß, dass Robin sich nach ihr sehnt.«
Dr. Keßler verabschiedete sich. »Das ist noch für Sie, Thomas«, sagte er eindringlich und drückte ihm ein Päckchen in die Hand. »Es ist nur für Sie allein bestimmt!«
Nachdem Thomas mit Dr. Brachmann noch verabredet hatte, dass er am Wochenende nach Sophienlust kommen würde, war er allein. Totenstill war es im Haus. Gedankenverloren stand er am Fenster, bis er Stines magere Gestalt auftauchen sah. Beruhigt atmete er auf. Sie kehrte wenigstens zurück, und er konnte ihr sagen, dass Robin gefunden war.
»Es wird gut für ihn sein, wenn er das Lachen lernt«, meinte sie wortkarg.
Thomas wusste, wie sehr sie den Jungen vermisste, aber noch nie hatte sie in Worten ausgedrückt, was sie fühlte, wenn es nicht der Groll gegen die Rodecks war, von dem sie sich ab und zu befreien musste.
Thomas ging in seine Wohnung und öffnete das Päckchen, das Dr. Keßler ihm gegeben hatte. Dann hielt er Malte Rodecks Tagebuch in der Hand, das dieser vor zwei Jahren begonnen hatte, einen Monat, bevor er sich von Janice getrennt hat.
Thomas las das Bekenntnis einer tiefen Liebe und eines schweren Leidens, und niemand hatte davon gewusst, nicht einmal Janice.
Ich weiß, dass ich Janice Schmerz zufüge, aber mir selbst tut das Herz noch viel mehr weh, weil ich sie mit einer sie sehr kränkenden Lüge wegschicke. So begann das Tagebuch. Thomas konnte sich nicht mehr davon lösen, bis die Nacht hereinbrach.
Heute habe ich erfahren, dass meine Krankheit, die mir manchmal so abscheuliche Schmerzen bereitet, nicht mehr zu heilen ist. Lag diese Ahnung schon in mir, als ich meine Forschungen begann, als ich Janice bat, meine Frau zu werden? Ich glaubte, mich von diesen Schmerzen befreien zu können, ich glaubte auch, Janice Ruhe und Geborgenheit schenken zu können. Aber meine Hoffnung ist zerstört. Es kann drei Monate dauern, oder sechs. Vielleicht auch noch ein Jahr, sagte der Arzt, der nicht wusste, dass er meine eigenen Röntgenbilder vor sich hatte. Man sieht es mir also noch nicht an, dass ich krank bin, und ich kann Janice täuschen, sodass sie meinen Verfall nicht miterleben braucht. Lieber soll sie mich hassen als mit mir leiden. Sie hatte schon genug durchgemacht, als ich sie aus dem ›Goldenen Käfig‹ holte, in dem sie ohne ihre Schuld ein unwürdiges Dasein führen musste. Und hier begann meine Schwester Cora ihr das Leben zur Hölle zu machen. Janice wird froh sein, wenn sie den Namen Rodeck nicht mehr hört, sie soll frei sein. Ich werde ihr die Möglichkeit geben, so zu leben, wie sie es verdient. Und dass ich ihr Robin nehme, ist ja nur für kurze Zeit. Sie wird ihn bald wiederbekommen, und dann für immer. Sie ist jung, sie wird mir vielleicht auch verzeihen, dass ich den Jungen noch bei mir behalte. Erleben werde ich ihre Verzeihung nicht.
Thomas schnürte es die Brust zusammen. »Mein Gott, Malte, warum hast du nicht mit mir darüber gesprochen?«, dachte er. Aber sie hatten immer nur ihre gemeinsame Arbeit zum Thema gehabt, denn sie waren beide davon besessen gewesen und hatten alles um sich herum vergessen, auch Robin.
Das Schuldbewusstsein drückte Thomas wieder fast zu Boden. Seine Augen brannten, sein Kopf schmerzte, seine Hände, die das schmale Buch hielten, bebten.
Wo sollte er Janice finden?
Er warf sich auf sein Bett und blickte zur Decke. Deutlich vermeinte er ihre Stimme zu hören, diese wunderbare melodische Stimme, die nie ein lautes oder gar böses Wort ausgesprochen hatte.
»Wenn die Wellen angerollt kommen«, hörte er sie sagen, »wenn sie über den Sand hinweggehen und den Tang zurücklassen, ganz früh am Morgen, dann ist es am schönsten in meiner Heimat. Aber Sehnsucht habe ich dorthin nicht. Glaubst du, dass es einen Menschen gibt, der nur eine Sehnsucht kennt, die Stille? Die Stille und darin das Lachen eines Kindes?«
An der belgischen Küste hatte sie Malte kennengelernt, in einem kleinen Badeort. Das hatte sie einmal erwähnt. Cora wusste bestimmt mehr über ihre Herkunft, denn sie hatte Nachforschungen durchgeführt und war ihr dann mit diesen schrecklichen Vorhaltungen gekommen.
Ein Animiermädchen hatte sie Janice genannt, das in einem obskuren Nachtlokal die Männer zum Trinken animierte.
Janice hatte geschwiegen und immer wieder geschwiegen. Was Malte zu Cora gesagt hatte, hatte nie jemand erfahren.
Dort muss ich ansetzen, dachte Thomas, an der belgischen Küste. Janice Vandermeer. Ob das dort ein seltener Name ist, der mir die Spur weisen kann? Er wusste es nicht, denn er kannte dieses Land nicht. Er wusste auch nicht, wie es Janice in den letzten Jahren ergangen war. Hatte sie inzwischen ein anderes Glück gefunden? Hatte sie vielleicht ein anderes Kind und vermisste Robin deshalb gar nicht?
Thomas seufzte. Die Gedanken erdrückten ihn fast.
*
»Sei doch nicht so fad, Robin!«, rief Dominik von Wellentin-Schoenecker dem neuen Spielgefährten zu. »Fang den Ball!«
Robin wünschte sich, so fröhlich wie die anderen Kinder sein zu können, aber es gelang ihm einfach nicht, sosehr er sich auch bemühte. Immer wieder sah er, wie man den Sarg seines Vaters ins Grab senkte, und immer wieder gingen dann seine Gedanken zu seiner Mutti.
Wenn sie nun auch tot und begraben war, wenn man ihm das nur verschweigen wollte? Das war der schlimmste Gedanke für den Jungen. Wortlos wandte er sich ab, um die aufsteigenden Tränen nicht zu zeigen.
Dominik kannte das, und sein mitfühlendes Herz regte sich. Zaghaft legte er die Hand auf Robins Schulter. »Du musst nicht weinen«, tröstete er. »Es wird schon alles wieder gut.«
Doch Robin hatte sich Stines pessimistische Philosophie zu eigen gemacht. »Ich glaube nur das, was ich sehe und höre«, hatte sie immer gesagt, und so konnte Robin jetzt Dominiks Worten keinen Glauben schenken. Dass Stine nun mit Thomas allein in dem düsteren Haus war, beschäftigte ihn ebenfalls. In Sophienlust war alles hell und licht, so wie das Zimmer, das seine liebe Mutti für ihn eingerichtet hatte. Nach diesem Zimmer hatte er Sehnsucht, aber die Angst, von diesen schrecklichen Leuten weggeholt zu werden, war stärker als alle Sehnsucht. Nur die Sehnsucht nach seiner Mutti blieb gleich stark. Sie musste doch wissen, dass er allein war. Sie musste doch kommen und bei ihm bleiben. Vater hatte es ihm versprochen.
»Eines Tages wird sie kommen und dich holen, Robin«, hatte er ernst gesagt. »Ihr werdet dann weggehen an einen schönen Ort.«
Warum hatte Vater eigentlich nicht »wir« gesagt, überlegte Robin jetzt. Er hatte doch nicht wissen können, dass er so bald sterben würde. Oder doch? Ob er sich mit Nick darüber unterhalten konnte?
Robin mochte den Erben von Sophienlust gern. Er mochte auch die anderen Kinder, nur wollte er Sophienlust nicht als seine Heimat betrachten. Denn er wollte ja zu seiner Mutti.
»Du wirst dich schon noch eingewöhnen«, fuhr Nick in seinen Tröstungsversuchen fort. »Alle haben sich eingewöhnt, sogar die Feldmann-Kinder, dabei wollte Cornelia erst gar nicht hierbleiben. Nun sollen sie zurück zu ihren Eltern, und sie wollen es gar nicht.«
Das wiederum konnte Robin nicht begreifen. Mochte ein Heim auch noch so schön sein, wenn man eine Mutti hatte, ganz für sich allein, dann war das noch viel schöner.
Dass Dominik, Sascha und Andrea sich hier ganz zu Hause fühlten, war verständlich, denn sie waren ja auch wirklich hier zu Hause, und sie hatten ihre Eltern immer um sich. Ebenso verständlich war, dass auch die Kinder, die keine Eltern mehr hatten, hier glücklich waren.
»Wenn ich nur wüsste, ob meine Mutti fühlt, wie sehr ich an sie denke«, meinte Robin sinnend. »Nur wissen möchte, wo sie ist und ob sie weiß, dass ich auf sie warte.«
Dominik war mit seiner Überredungskunst am Ende. Er musste unbedingt mit seiner Mutter sprechen, die in allen Lebenslagen noch einen Rat wusste.
»Na, Nick, was hast du denn schon wieder auf dem Herzen«, empfing Denise ihn. Sie war gerade dabei, ihren jüngsten Sohn Henrik von Schokoladenresten zu befreien, was dieser wohl als Spaß betrachtete, denn er zappelte ungeduldig und patschte ihr mit seinen beschmierten Händchen ins Gesicht.
»Es ist wegen Robin«, berichtete Nick nachdenklich. »Er redet dauernd nur von seiner Mutti. Kann man sie denn nicht mal herholen? Oder ist sie gar nicht so, wie er sie sich vorstellt?«
»Da spielen Dinge mit, die du noch nicht verstehst, Nick«, erwiderte sie. »Wir verstehen sie selbst nicht.«
Dieses Zugeständnis beeindruckte Nick tief. Wenn die Erwachsenen die Sache schon nicht verstanden, musste sie sehr rätselhaft sein.
»Übrigens kannst du Robin langsam darauf vorbereiten«, meinte Denise von Schoenecker, »dass sein Onkel Thomas heute kommt.«
Von Thomas hatte Robin schon manchmal gesprochen. Aber Onkel hatte er ihn nicht genannt. Vielleicht war es auch kein richtiger, überlegte Nick, sondern so einer wie Onkel Lutz, der gar nicht mit ihnen verwandt war, aber doch zur Familie gehörte. Für Nick hatten sich die Begriffe verschoben, weil sie eine große Familie in Sophienlust waren.
»Thomas wird mich nicht hier wegholen«, meinte Robin nachdenklich als Nick ihm die Neuigkeit brachte. »Er ist sehr nett.«
Das war beruhigend für Nick, denn er fühlte sich verantwortlich für Robin, ebenso wie für alles, was auf Gut Sophienlust geschah. Schließlich sollte er einmal hier bestimmen, wenn er erwachsen war, so hatte es Urgroßmama Sophie von Wellentin bestimmt.
*
Denise und Alexander von Schoenecker gewannen einen guten Eindruck von Dr. Thomas Rodeck, obgleich er sich nur sehr zurückhaltend über die Familienverhältnisse der Rodecks äußerte. Dagegen zeigte er sich sehr davon angetan, dass Robin so vorbildlich untergebracht war, und schließlich gab er auf Denises offene Frage auch zu, dass er sich bemühen wolle, Robins Mutter zu finden.
Dann kam es zu dem Wiedersehen zwischen ihm und Robin. Der Junge versuchte ein Lächeln, das seine traurigen Augen jedoch nicht erreichte.
»Bist du auch böse mit mir, Thomas?«, fragte er. »Die anderen waren wohl schrecklich böse?«
»Stine und ich waren nur sehr erschrocken, aber glücklicherweise erfuhren wir ja, dass du gut aufgehoben bist. Gefällt es dir hier, Robin?«
»Ganz gut, aber ich möchte zu meiner Mutti. Wie lange ist sie schon fort, Thomas? Ich kann mich nicht mehr so genau erinnern.«
»Es ist noch gar nicht so lange her, Robin«, wich Thomas aus. »Sicher macht sie eine große Reise.«
»Du brauchst mich nicht zu belügen. Sie ist fortgegangen, weil alle so gemein zu ihr waren. Vater hätte sie nicht gehen lassen dürfen. Du denkst wohl auch, dass ich zu klein bin, um es zu verstehen?«
»Ich werde deine Mutti holen, Robin«, versprach Thomas rasch.
»Sie wird bestimmt kommen, wenn sie weiß, dass Vater tot ist, dass ich allein bin und dass mich keiner von hier wegholen darf. Das dürfen die anderen doch nicht?«
»Nein, das dürfen sie nicht, Robin.«
Der Junge blickte ihn nachdenklich an. »So haben wir noch niemals miteinander gesprochen«, sagte er traurig. »Du hattest immer wenig Zeit für mich, Thomas.«
»Viel zu wenig, mein Junge«, erwiderte Thomas rau. »Aber ich hätte mir die Zeit nehmen müssen.«
»Vater wollte die Arbeit fertigbringen, nicht wahr? Hat er es geschafft?«
»Nein, leider nicht!«, gab Thomas zu.
»Dann wirst du es allein schaffen«, erklärte Robin zuversichtlich.
»Das liegt in Gottes Hand.«
Robin versank in Schweigen.
»Wenn alles in Gottes Hand liegt, wird Gott auch meine Mutti zu mir zurückbringen. Warum kann man Gott nicht sehen und mal mit ihm sprechen?«
»Gott ist überall. In allen Lebewesen, in allen Pflanzen.«
»Es mag sein«, meinte Robin. »Ich möchte nur wissen, warum es dann auch böse Menschen und böse Tiere gibt.«
Was sollte Thomas darauf sagen? Er wusste keine Erklärung.
Plötzlich zog der Junge ein goldenes Medaillon unter seinem Hemd hervor.
»Du musst dir Mutti noch einmal genau anschauen, Thomas, damit du sie auch ganz bestimmt erkennst«, flüsterte er und öffnete das Medaillon.
»Woher hast du das, Robin?«, fragte Thomas atemlos.
»Von Mutti. Sie gab es mir und sagte, dass sie mich nie vergessen werde.«
»Ich werde deine Mutter bestimmt erkennen«, versicherte Thomas heiser. Und in Gedanken fuhr er fort: »Ich konnte sie ja gar nicht vergessen, dazu hat sie mir viel zu viel bedeutet.«
*
Ja, sie hatte ihm viel bedeutet, aber dennoch hatte er ihr gegrollt, als sie so wortlos gegangen war. Manchmal allerdings hatte er sich auch gefragt, ob nicht vielleicht doch ein dunkler Punkt in ihrer Vergangenheit bestanden habe. Warum nur hatte sie sich nie verteidigt? Warum nur hatte sie als stille Dulderin alles hingenommen, was so demütigend für sie gewesen war? Doch damals war er wohl selbst zu befangen gewesen, um ganz zu begreifen, was er für sie empfand. Außerdem hatte Malte ihm zu viel bedeutet, als dass er sich hätte zwischen ihn und sie drängen wollen.
Nun war er auf der Reise ins Ungewisse, um Janice Vandermeer zu finden und vielleicht auch des Rätsels Lösung.
Aber was ging ihn Janices Vergangenheit an? Genügte es nicht, wenn er sie lebend fand? Wenn er Mutter und Kind zusammenführte?
Doch was sollte er Robin sagen, wenn seine Mutter nicht zu ihm zurückkehren wollte?
*
»Madame Janice, Madame Janice«, schallte eine Kinderstimme durch den Gymnastiksaal, »kommen Sie schnell! Madeleine hat sich den Fuß verstaucht!«
»Setzt diese Übung fort, Kinder«, ermahnte Janice Vandermeer. Dann eilte sie in den Waschraum, wo ein kleines Mädchen im schwarzen Trikot am Boden hockte und sich den Fuß hielt. Ein anderes stand daneben.
»Du kannst jetzt gehen, Mireille«, sagte Janice freundlich zu diesem Kind. »Ich werde mich um Madeleine kümmern.«
Zögernd ging Mireille, doch Widerspruch wagte sie nicht. So sanft Madame Janice auch immer sprach, sie genoss absolute Autorität bei den Kindern.
Die sehr schlanke zarte Frau mit dem tizianblonden Haar beugte sich zu der kleinen Madeleine hinab und untersuchte ihren Fuß. Madeleine stieß einen Schmerzenslaut aus, der allerdings etwas gekünstelt wirkte.
»Du hast dir den Fuß ja gar nicht verstaucht, Madeleine«, stellte Janice fest. »Warum hast du geschwindelt?«
Ein Tränenstrom stürzte sofort aus den Augen des Kindes und rann über die runden Kinderwangen.
»Aber deshalb brauchst du doch nicht gleich zu weinen«, meinte Janice begütigend. »Es tut doch gar nicht weh.«
»Aber dass Mama sich von Papa scheiden lassen will, tut weh«, schluchzte Madeleine. »Ich dachte, wenn mir etwas passiert, vertragen sie sich vielleicht wieder. Aber ich weiß nicht, wie ich es anfangen soll. Können Sie mir nicht ein bisschen helfen, Madame Janice?«
Janice sah das Kind nachdenklich an. Helfen sollte sie, dabei konnte sie sich selbst nicht helfen! Es war immer wieder das alte Lied: man heiratete und ging auseinander. Stets waren die Kinder die Leidtragenden dabei. Aber die Ehe der Debois schien doch intakt gewesen zu sein! Ein junges reiches Ehepaar mit einem wunderschönen Ferienhaus am Meer und einer reizenden kleinen Tochter, die schon das zweite Jahr zu Janice in den Gymnastikunterricht kam.
»Lass uns mal überlegen«, schlug sie vor. »Meinst du wirklich, dass es deinen Eltern nützen würde, wenn du einen verstauchten Fuß hättest?«
»Ganz bestimmt!«, erklärte Madeleine sofort. »Keiner will mich hergeben, und wenn mir etwas wehtut, da waren sie sich immer einig.«
Eine schlaue kleine Evastochter, dabei noch nicht einmal acht Jahre alt. Aber konnte ein solcher Trick eine Ehe kitten?
»Papa will sich ja gar nicht scheiden lassen«, fuhr Madeleine vertraulich fort. »Er hat auch nichts mit Mary-Ann, das hat er selbst gesagt. Aber Mama will ihm nicht glauben. Und schuld ist nur Mary-Ann, weil sie immer um Papa herumscharwenzelt.«
Was Kinder sich so alles ausdachten! Oder waren sie viel hellsichtiger, als man ihnen zutraute?
Was mochte sich wohl Robin gedacht haben, damals, als sie ihn verlassen hatte? Ein jäher Schmerz durchzuckte Janice. Warum hatte sie sich ausgerechnet einen Beruf aussuchen müssen, der sie immer nur mit Kindern zusammenführte? Wollte sie sich damit selbst strafen?
»Nun, wenn du darauf vertraust, dass dir ein verstauchter Fuß helfen kann, werden wir den Fuß einbinden«, meinte sie mit einem Lächeln.
»Sie sind so lieb, Madame Janice«, flüsterte Madeleine. »Es tut mir nur so schrecklich leid, dass ich dann ein paar Tage nicht kommen kann. Aber wenn ich zu Hause bin, kann ich auch besser aufpassen, dass Mary-Ann Papa in Ruhe lässt.«
»Wenn es in dieser Ehe kein anderes Problem gab als diese Mary-Ann, musste die Ehe doch zu retten sein«, überlegte Janice. Zugleich aber dachte sie: »Andere Ehen will ich kitten helfen, für meine eigene habe ich jedoch nichts getan. Und warum nicht? Nicht, weil ich zu müde oder zu resigniert war.« Nein, es war etwas anderes. Etwas, was sie noch heute nicht begreifen konnte und womit sie wohl niemals fertig werden würde.
Während sie eine elastische Binde mit geschickten Händen um Madeleins Fußgelenk legte, kamen und gingen diese Gedanken.
»Nun wartest du hier schön, bis deine Mama dich abholt«, ermahnte sie das Kind. »Ich muss mich um die anderen kümmern.«
»Aber verraten werden Sie mich nicht, Madame Janice?«
»Nein, ich verrate dich nicht, Madeleine«, versprach Janice.
*
An diesem Tag kam nicht Madeleines Mama, sondern der Papa, um das Töchterchen abzuholen. Er war ein gut aussehender Mann, Anfang der Dreißig, ganz der Typ, der Frauen schwach werden ließ. Leicht hatte es eine eifersüchtige Ehefrau mit ihm bestimmt nicht, aber Monsieur Debois machte dennoch nicht den Eindruck, als wäre er ein Playboy, der sich keine Gelegenheit entgehen ließ, seine Chancen wahrzunehmen. Er geriet in Aufregung, als er sein Töchterchen mit einem verbundenen Fuß vorfand, und war bereit, alle und jeden dafür verantwortlich zu machen, sogar die bezaubernde Madame Janice, nur nicht Madeleine selbst.
»Madame Janice kann nichts dafür, Papa«, versicherte Madeleine. »Ich bin ganz allein schuld. Ich war ungehorsam.«
»Mein Liebling ist niemals ungehorsam«, beteuerte er enthusiastisch. »Mein kleiner Liebling ist das bravste Kind der Welt.Was soll ich dir für einen Wunsch erfüllen, Chéri?«
Die Evastochter Madeleine sah ihre Chance gekommen, und Janice konnte sich nur wundern, wie raffiniert sie diese ausnützte.
»Wirst du dich mit Mama vertragen, Papa?«, bettelte sie.
Monsieur Debois warf Janice einen hilflosen Blick zu. »Was dieses dumme kleine Mädchen sich da einredet«, murmelte er. »Mama und ich streiten doch nicht.«
»Das sagst du so, aber Mama ist böse wegen Mary-Ann.«
»Muss Madame Janice solche Dinge wissen, Chéri?«, fragte er niedergeschlagen.
»Du solltest einmal mit ihr sprechen, Papa«, erklärte Madeleine impulsiv. »Sie ist so klug.«
»Meine Tochter macht Ihnen Komplimente, Madame«, wandte Monseur Debois sich charmant an Janice. »Ich zweifle nicht daran, dass sie der Wahrheit entsprechen. Madeleine ist ein kluges Kind, nicht wahr?«
»Sehr klug«, erwiderte Janice lächelnd. »Sie sollten sich einmal mit ihr so unterhalten, als wäre sie kein kleines Mädchen, Monsieur Debois.«
Er sah seine Tochter argwöhnisch an. »Du hast mit Madame Janice auch darüber gesprochen, Madeleine?«, fragte er erstaunt.
»Mit euch kann ich doch darüber nicht sprechen«, rechtfertigte sie sich. »Madame Janice klatscht nicht. Nur Mary-Ann ist schuld, dass Mama sich so aufregt. Mir gefällt sie auch nicht.«
Monsieur Debois runzelte die Stirn. »Sie ist eine sehr tüchtige Sekretärin«, erläuterte er mit belegter Stimme.
»Wir haben Ferien, Papa. Da brauchst du keine Sekretärin. Das ganze Jahr haben wir dich nur abends. Manchmal möchten wir dich eben auch den ganzen Tag haben. Und hier ist Mary-Ann auch abends immer bei uns.«
Monsieur Debois lächelte verlegen. »Ich glaube, ich werde meine Sekretärin in Urlaub schicken müssen, damit dieses gescheite kleine Mädchen zufrieden ist«, meinte er.
»Das wäre fein, Papa. Dann wäre auch mein Fuß ganz schnell wieder gesund, und ich könnte auch weiter zu Madame Janice in den Unterricht gehen.«
Monsieur Debois und Janice tauschten einen verständnisinnigen Blick. »Ich denke, Madame, dass Madeleine schon übermorgen wieder kommen kann«, sagte er mit einem flüchtigen Lächeln. »Morgen werden wir mit Mama einen Ausflug machen. Ist es recht so, mein Liebling?«
Die Kleine umarmte ihn stürmisch. »Oh, du bist der beste Papa von der ganzen Welt«, strahlte sie. Dann machte sie vor Janice einen Knicks. »Danke, Madame Janice! Ich mag Sie sehr.«
»Sind Sie Seelenärztin, Madame, oder Gymnastiklehrerin?«, fragte Monsieur Debois leise, als er sich von Janice verabschiedete.
»Ich wünschte, ich könnte beides sein«, erwiderte sie ernst und dachte, als sie ihnen nachblickte, bei mir selbst habe ich versagt. Sie war überzeugt, in dieser Stunde eine Ehe gerettet zu haben. Aber es war eine Ehe, die aus Liebe geschlossen worden war, aus inniger Liebe, dieser Überzeugung war sie. Sie selbst aber hatte Malte Rodeck nicht aus Liebe geheiratet.
*
Die Kinder waren gegangen. Für Janice war wieder ein anstrengender Tag zu Ende. Manchmal wurde es ihr nicht leicht, dieses Tagespensum zu bewältigen. Viele Urlaubsgäste kamen im Sommer an die Nordseeküste. Viele Gäste mit vielen Kindern, die man bei ihr gut untergebracht wusste.
Aber sie wollte sich nicht beklagen, denn sie konnte davon leben, auch den Winter über. Große Ansprüche stellte sie nicht. Und sie war froh, wenn sie abgelenkt war. Der lange Winter ohne Arbeit war schrecklich, da kam sie zu sehr ins Grübeln.
Robin! Der Schmerz wurde immer bohrender, je öfter sie an den Jungen dachte.
Janice ging zum Meer hinunter. Brausend schlugen die Wellen an die Dünen. Sie hatte das gern. Es machte den Kopf frei. Wenigstens bildete sie sich das ein.
Warum war sie hierher zurückgegangen, ausgerechnet hierher, wo doch alles seinen Anfang genommen hatte? Aber wohin hätte sie gehen sollen? Nirgendwo war sie zu Hause, und der »Goldene Käfig« bestand nicht mehr. Dort, wo er noch vor sieben Jahren gestanden hatte, wuchs jetzt ein modernes Hotel in den Himmel. Viele ihrer kleinen Schüler und Schülerinnen wohnten dort.
Janice vergrub die Hände in den Taschen ihres leichten Mantels. Blicklos starrte sie zu dem Bau hinüber.
»Hab dich nicht so, Janice«, dröhnte die ärgerliche Männerstimme wieder in ihren Ohren. »Sei nett zu den Gästen! Trag etwas dazu bei, dass das Geld in der Kasse klingelt. Meinst du, ich kann mir zwei Schmarotzer leisten?«
Alles hatte begonnen, als sie zehn Jahre alt gewesen war und ihre Mutter diesen schrecklichen Mann geheiratet hatte. Aber war ihre Ehe mit Malte Rodeck nicht auch eine Flucht gewesen?
Janice schlug die Hände vor ihr Gesicht. »Ich werde mich nicht mehr belügen«, dachte sie. »Ich habe dafür bezahlt. Teuer bezahlt. Ich habe sogar mein Kind dafür hergegeben.«
*
Dr. Thomas Rodeck fuhr die Küste entlang. Einen komischen Namen hatte dieses Nest gehabt, von dem Janice ihm einmal erzählt hatte. Aber hier gab es viele komische Namen.
Als der Tag zu Ende ging, fand Thomas ein Zimmer in einem dieser Orte, und wieder konnte er nicht richtig schlafen. Das Rauschen des Meeres vermischte sich mit Janices Stimme, und dazwischen hörte er Robin sagen: »Du wirst meine Mutti finden, du wirst sie finden?«
Unruhig wälzte Thomas sich in dem Bett. »Ich muss dich finden, Janice«, stöhnte er. »Hörst du mich? Ich muss dich finden!«
Plötzlich sprang er aus dem Bett und trat ans Fenster. Menschenleer lag der breite Strand im Schein des vollen Mondes, der silberne Gischtkronen auf die Wellen zauberte. Jetzt glaubte Thomas eine schattenhafte Gestalt wahrzunehmen, er glaubte, Janice zu erkennen. »Janice!«, schrie er, doch dann fasste er sich an die Stirn. Litt er denn schon an Verfolgungswahn?
Er ging zurück zum Bett und legte sich wieder nieder. Tiefer Schlaf umfing ihn nun endlich, aber im Traum erschien ihm wieder Janice. Wie eine Feengestalt auf einer Wolke schwebte sie über den Strand. Ein verklärtes Lächeln lag über ihren Zügen, als er sich ihr näherte, dann hüllte sie eine Wolke ein, und als er nach ihr greifen wollte, zerrann der Spuk.
*
Das Zimmermädchen war schon recht bejahrt und wunderlich. Eine Flämin, die recht gut deutsch sprach. Dr. Rodeck erschien sie wie ein Wunderwesen, denn seine französischen Sprachkenntnisse waren nicht so vollkommen, dass er seine Wünsche präzise ausdrücken konnte.
»Madame Rodeck?«, fragte sie mit schief gelegtem Kopf. »Ich habe diesen Namen hier niemals gehört.«
»Janice«, murmelte er.
»Janice?«, wiederholte sie fragend. »Die kleine Janice aus dem ›Goldenen Käfig‹? Die jetzt die Gymnastikschule hat? Eine andere Janice kenne ich nicht. Ein seltener Name. Wie hieß sie doch? Janice Lebruis, sie hatte diesen schrecklichen Stiefvater, der sich und seine Frau umgebracht hat.«
Thomas war zuerst wie erstarrt, dann nahm er einen großen Geldschein aus seiner Tasche. »Erzählen Sie!«, drängte er. »Wie ist Ihr Name?«
»Josephine«, erwiderte die alte Frau verwirrt.
»Erzählen Sie, Josephine! Ich werde Sie reich belohnen, wenn Sie mir die Auskunft geben können, die ich suche.«
»Ich muss meine Arbeit verrichten, Monsieur«, erwiderte sie. »Ich bin darauf angewiesen.«
»Wann haben Sie Zeit, Josephine? Ich werde Sie belohnen!« Er drückte ihr einen zweiten Schein in die Hand.
»Nach dem Essen, Monsieur. Ich muss auch in der Küche helfen. Ich habe acht Enkelkinder, muss Monsieur wissen. Wir leben von der Saison.«
»Nach dem Essen«, seufzte er. Sie nickte. Dann nannte sie ihm eine Adresse, wo sie sich ungestört treffen konnten, wie sie versicherte.
Janice Lebruis, dachte er. War es die Janice, die er suchte, oder jagte er einem Irrlicht nach wie in seinem nächtlichen Traum?
Er ging zum Strand, warf sich in das klare Wasser. War er der Lösung aller Rätsel nahe? Würde er Janice finden?
*
»Sieben Tage ist Thomas nun schon weg«, meinte Robin und riss ein neues Kalenderblatt ab. »Was kann man in sieben Tagen machen, Nick?«
»Überleg mal, was wir gemacht haben«, entgegnete sein Freund, denn Nick war ihm bereits ein richtiger Freund geworden.
»Ich habe ein paar Buchstaben schreiben und reiten gelernt«, zählte Robin auf, »das ist eine ganze Menge. Aber wie weit kann man in sieben Tagen fahren?«
»Ich weiß es nicht, ich muss erst Mutti fragen«, erklärte Nick und lief davon. Schon nach wenigen Minuten kam er wieder. »Mutti meint, dass man in sieben Tagen nicht so sehr weit fahren kann«, berichtete er kleinlaut.
»Wenn Thomas doch mal schreiben würde«, seufzte Robin.
»Da kommt ein Pferdewagen«, lenkte ihn Nick ab.
Robin drehte sich um. Dann weiteten sich seine Augen. »Stine«, flüsterte er. So schnell ihn seine Füße tragen konnten, lief er davon.
»Stine«, flüsterte er zum zweiten Mal, als er vor der alten Frau stand. »Bist du den ganzen Weg mit dem Wagen gefahren?«
»Was denkst denn du, Jungchen?«, fragte sie und presste ihn an sich. »Ich hab’s vor Sehnsucht nach dir nicht mehr ausgehalten in dem leeren Haus. Geht es dir gut, mein Jungchen?«
Robin, der solche Gefühlsausbrüche von Stine nicht gewöhnt war, wusste gar nicht, was er sagen sollte.
»Es ist schön hier«, brachte er endlich stockend hervor. »Ich dachte nie, dass du kommen würdest. Seit wann bist du unterwegs?«
»In halber Nacht bin ich losgefahren. So einfach ist das gar nicht«, klagte sie und streckte ihre steifen Glieder. »Aber nun sehe ich dich, und es ist wirklich schön hier.«
Zögernd kam Nick näher. »Das ist Stine«, sagte Robin. »Ich glaube, sie hat noch nie eine so weiter Reise gemacht.«
»Die letzten dreißig Jahre nicht, mein Jungchen«, bestätigte sie. »Und ich werde auch keine mehr machen.«
»Dann willst du auch hierbleiben?«, staunte Robin.
Stine blickte sich um. »Vielleicht können sie mich bei der Feldarbeit brauchen, oder ich kann mich anderswo nützlich machen. Bezahlen braucht mich keiner. Ich habe meine ganzen Ersparnisse mit, und das ist nicht wenig.«
Robin war überwältigt, und Frau Rennert, die Stines Worte mit angehört hatte, war tief gerührt.
»Ich wusste gar nicht, dass du mich so lieb hast, Stine«, stammelte Robin.
»Große Worte waren noch nie meine Sache«, brummte die alte Frau. »Deswegen hat dein Vater mich ja so lange ertragen. Den anderen hätte ich immer schöntun müssen, aber das liegt mir nicht. Ob das Mohrle ein bisschen Hafer kriegen könnte?«, wandte sie sich an Frau Rennert und holte ihren prall gefüllten Geldbeutel hervor.
»Den bekommt es auch so, Stine«, lächelte Frau Rennert. »Aber Sie haben auch eine Stärkung nötig.«
So wurde die gute alte Stine in Sophienlust aufgenommen. Robin konnte noch lange nicht damit fertig werden, dass sie sich mit dem kleinen Pferdewagen zwischen den stinkenden Automobilen, wie sie immer voller Verachtung sagte, in die Welt hinausgewagt hatte, die sie doch so gerne mied. Sehr lieb musste sie ihn schon haben, dass sie ein solches Abenteuer auf sich genommen hatte. Das fand auch Nick.
*
Dr. Rodeck erschien pünktlich bei Josephine. Ein altes kleines Haus, aber ein blitzsauberes Stübchen erwarteten ihn.
Verlegen drehte Josephine ihre Finger umeinander. »Monsieur darf es mir nicht übel nehmen«, begann sie stockend. »Geredet ist viel worden. Der Lebruis … Erinnern mag sich niemand gern an so etwas.«
»Mich interessiert Janice«, murmelte er.
»Ihre Mutter brachte sie mit in die Ehe, so ein mageres kleines Ding. Ausgenützt hat er sie und geschlagen, aber keiner getraute sich, was zu sagen. Er war bärenstark. Ein gutes Geschäft hat er schon gemacht mit dem ›Goldenen Käfig‹. Nicht nur im Sommer. Auch im Winter war dort immer etwas los. Aber die Polizei war auch oft da. Na ja, wie das eben so ist. Ich war dann ein paar Jahre in der Stadt, und als ich zurückkam, war der ›Käfig‹ geschlossen. Janice war schon vorher weggegangen, wie man sagte. Ein Fremder hätte sie geheiratet, wollten die Leute wissen. Geglaubt hat es niemand so recht. Und vor zwei Jahren ist sie dann zurückgekommen. Sie heißt nicht Lebruis.«
»Janice Vandermeer«, murmelte er.
Josephine nickte stumm. »Wenn Sie es wissen, warum fragen Sie mich dann?«, wunderte sie sich.
Ja, warum fragte er sie? Warum war er nicht gleich zu Janice gegangen und hatte sich überzeugt, ob sie es war? War es aus Neugierde geschehen? Um das Geheimnis zu ergründen, das Janice umgab und das sie nie preisgegeben hatte?
Lebruis hatte also sich und seine Frau umgebracht. Guter Gott, er hätte es wahrscheinlich auch nicht an die große Glocke gehängt, wenn in seiner Familie so etwas geschehen wäre! Aber warum war Janice an diesen Ort zurückgekehrt? Glaubte sie, dass man sie hier zuletzt suchen würde?
Josephine wurde noch gesprächiger, als er ihr ein paar Geldscheine auf den Tisch legte. Man könne Janice mit den Kindern am Strand sehen, erzählte sie. Nur Kinder von den feinen Leuten gingen zu ihr, und sie sei eine Dame geworden.
Wie und wo sie wohne? Josephine zuckte die Schultern. In einem der ganz modernen Häuser.
Ob sie Freunde habe? Jeder habe seine Arbeit, meinte Josephine, und so wäre es nicht, dass man sich viel um den andern kümmern könne. Der Herr sei doch nicht etwa von der Polizei?, fragte sie dann plötzlich ängstlich.
Thomas beruhigte sie rasch. Dann ging er gedankenverloren an den Strand zurück. »Ich werde dir deine Mutti zurückbringen, Robin«, dachte er.
*
Heute stand Schwimmunterricht auf dem Tagesplan der Gymnastikschule. Mit ihrer Gruppe von dreißig Kindern ging Janice zum Schwimmbad, das erst in dieser Saison eröffnet worden war.
Schmal, schlank und grazil, das leuchtende Haar zurückgebunden, lief sie neben den Kindern her, die Lebhaften unter ihnen immer wieder zur Ordnung mahnend. Und es waren einige sehr lebhafte Rangen darunter, deren Eltern froh waren, sie für ein paar Stunden loszuwerden. Janice aber konnte zufrieden sein, denn in diesem Jahr hatte sie doppelt so viel Schützlinge wie im vergangenen.
In aller Frühe schon war Madame Debois bei ihr erschienen und hatte ihr einen großen Blumenstrauß und eine Schachtel Pralinen gebracht.
Die lebhafte und glückliche Madelein hatte ihr kleines Ränkespiel nicht für sich behalten können. Madame Debois hatte sehr schnell erfahren, wem sie es zu verdanken hatte, dass Mary-Ann heimgeschickt worden war.
Währenddessen kam Thomas Rodeck zu dem Haus, in dem sich die Gymnastikschule befand.
»Heute ist Madame mit den Kindern beim Schwimmen«, erklärte ihm der Portier. »So ist es immer am Montag und Donnerstag. Wenn Sie auch ein Kind anmelden wollen, Monsieur, kommen Sie am besten morgens.«
Ein Kind anmelden! Thomas musste fast lächeln. Holen wollte er Janice zu einem Kind, zu ihrem Sohn, der sich in heißer Sehnsucht nach ihr verzehrte.
Er ließ sich den Weg zum Schwimmbad erklären und machte sich erneut auf den Weg. Eine Gruppe größerer Jungen spielte mit einem Medizinball, und drüben auf dem gepflegten Rasen gewahrte er plötzlich die Kinder, die unter Janices Anleitung Schwimmbewegungen übten.
Thomas blieb stehen und nahm ihr Bild in sich auf. »Eins, zwei, drei, die Arme schön strecken«, hörte er ihre weiche Stimme, die vom lauen Wind zu ihm herübergetragen wurde. Dann lief er plötzlich, impulsiv und nur von dem Gedanken gefangen, sie endlich ganz nahe zu sehen, blindlings los.
»Attention!« Der Ruf erreichte noch sein Ohr, doch schon prallte etwas Hartes an seinen Kopf. Rote Funken tanzten vor seinen Augen. Dann war Nacht um ihn.
»Jacques, Charles …« Namen schwirrten durch die Luft und wirre Beteuerungen. »Er ist mir direkt in den Ball hineingelaufen. Ich konnte nichts dafür. Ich auch nicht!« Mehrere Jungen beugten sich über den Mann, der wie vom Blitz getroffen umgefallen war.
»Madame Janice, da ist etwas passiert«, sagte ein kleines Mädchen.
»Ein Mann ist umgefallen«, rief ein anderes.
»Ihr bleibt hübsch beisammen«, erklärte Janice streng. »Niemand läuft weg. Der Sanitäter ist ja in der Nähe.«
»Ich hab’s gesehen«, machte sich der kleine Bruno bemerkbar. »Der Medizinball hat ihn genau am Kopf getroffen. So ein großer starker Mann.«
»Haltet euch fern, dass ihr nicht auch von einem Ball getroffen werdet.« Janice bewahrte Ruhe. Sie ahnte nicht, wen der Ball getroffen hatte. Ihre Aufmerksamkeit galt in erster Linie den Kindern, die ihr anvertraut waren.
»Jetzt tragen sie ihn weg«, riefen die Kinder.
»Und wir fahren mit unseren Übungen fort«, erklärte Janice.
Es passierte immer wieder etwas am Strand. Einmal ein Kollaps, dann ein Sonnenstich, oder jemand sprang zu rasch ins Wasser. Janice hatte darauf zu achten, dass ihren Kindern nichts passierte. Dreißig lebhafte Kinder zu beaufsichtigen, war ohnehin nicht einfach.
Später, als Thomas bereits im Hospital lag, ging Janice mit den Kindern zurück. Der Ball hatte ihn so unglücklich an der Schläfe getroffen, dass er noch immer bewusstlos war.
»Bei Ihnen ist alles in Ordnung, Madame?«, fragte der Sanitäter Janice, als sie mit ihren Kindern an ihm vorbeiging. Schon manches Mal hatte er auch hier Erste Hilfe leisten müssen.
»Es war doch vorhin hoffentlich nichts Ernsthaftes?«, erkundigte sie sich nun doch.
Der Sanitäter zuckte die Schultern. »Man hat ihn ins Hospital gebracht. So ein Medizinball hat ein ganz schönes Gewicht, aber es war ja ein großer starker Mann. Er wird es schon überstehen. Und selbst schuld war er auch.«
*
Die Finsternis wollte nicht weichen. Mühsam öffnete Thomas die Augen. Es flimmerte, und der Kopf schmerzte unerträglich. Verschwommen sah er ein Gesicht über einem weißen Punkt. Was war nur mit ihm geschehen? Er versuchte sich zu erinnern, aber es formte sich kein klares Bild.
»Man muss abwarten«, tönte eine Stimme an sein Ohr. Sie klang, als käme sie aus einem Lautsprecher. Eine kühle Hand legte sich auf seine Stirn. Eine Frauenhand.
»Janice«, murmelte er.
»Was hat er gesagt?«, fragte der Arzt die Krankenschwester.
»Ich konnte es nicht richtig verstehen. Janni oder so ähnlich.«
»Er ist Deutscher. Wir müssen in Erfahrung bringen, in welchem Hotel er abgestiegen ist und ob Familienangehörige bei ihm sind. Diese Gehirnerschütterung wird ihn für einige Zeit ans Bett fesseln. Haben Sie die Personalien aufgenommen, Schwester Rose?«
»Doktor Thomas Rodeck«, buchstabierte sie. »Zweiunddreißig Jahre alt.«
»Er wird ja gemeldet sein«, meinte Dr. Vartan.
Es verging jedoch geraume Zeit, bis man herausgefunden hatte, in welchem Hotel Thomas abgestiegen war.
Josephine erfuhr erst am nächsten Morgen, dass der Gast von Zimmer dreiundzwanzig verunglückt sei. Sie war völlig verstört. Krampfhaft überlegte sie, ob sie etwas für ihn tun könne. Hatte er vor dem Unfall noch mit Janice gesprochen?
»Der Mann, den gestern der Medizinball getroffen hat, ist im Krankenhaus, Madame Janice«, erzählte der kleine Bruno in der Gymnastikstunde eifrig. »Im Hotel haben sie es erzählt. Er hat eine Gehirnerschütterung.«
»Da seht ihr wieder einmal, wie vorsichtig man sein muss. Turne nicht so waghalsig an den Ringen herum, Irene«, ermahnte sie nebenbei ein Mädchen.
»Madame Janice, eine Frau möchte Sie sprechen«, tönte es durch die Sprechanlage.
Janice seufzte. »Ihr setzt euch alle auf den Boden und macht Lockerungsübungen«, forderte sie die Kinder auf, während sie zur Tür ging. Dann blickte sie in ein runzliges Gesicht.
»Ich bin Josephine vom Hotel Diana«, sagte die Frau leise.
»Kommen Sie wegen eines Kindes?«, versuchte Janice ihr weiterzuhelfen, als sie ins Stocken geriet.
»Wegen Monsieur Rodeck. Madame wissen noch nicht?«
Janice wurde totenblass. »Monsieur Rodeck?«, stammelte sie.
Josephine nickte. »Er ist gestern verunglückt. Er liegt im Hospital. Er hat mich nach Madame gefragt. So ein junger, kräftiger Herr, man sollte es nicht glauben, dass ein Ball …«
»Ein junger Herr …? Sie wissen bestimmt, dass er Rodeck heißt?«, fragte Janice erregt.
»Er sagte es mir. Er suchte Madame Janice. Ich dachte, dass ich Ihnen dies sagen sollte.«
»Sie kennen mich?«, fragte Janice, nach Fassung ringend.
»Ich kannte eine kleine Janice.«
Janice presste ihre Hände zusammen. »Danke!«, flüsterte sie. »Sie sagen …, ach ja, die Kinder sagten schon, dass er im Hospital sei. Warten Sie, Josephine, Sie sollen den Weg nicht umsonst gemacht haben.«
»Monsieur Rodeck hat mir schon viel Geld gegeben«, murmelte Josephine. »Ich hätte die kleine Janice fast nicht wiedererkannt«, fügte sie dann noch staunend hinzu.
*
»Thomas«, dachte Janice. »Es kann nur Thomas sein. Malte war nicht jung, und er würde nicht kommen.«
Janices Herz klopfte zum Zerspringen. So unaufmerksam hatten die Kinder sie noch nie erlebt. Es nützte nichts, dass sie sich immer wieder zur Ruhe mahnte. Sie war froh, als die Kinder gingen, und stellte sich unter die Dusche. Als das kalte Wasser über ihren Körper rieselte, fragte sie sich erschrocken, ob Robin etwas passiert sei. »Robin«, dachte sie, »mein Kind. Dein Vater hat mir versprochen, dass ich dich nicht für immer hergeben müsste …«
In das Wasser, das über ihr Gesicht rann, mischten sich Tränen.
Geistesabwesend ging sie danach durch die Straßen zum Hospital. Würde sie Erklärungen abgeben müssen, warum sie den deutschen Patienten besuchen wollte? Ein paar Meter nur von ihr entfernt war er von dem Ball getroffen zu Boden gesunken, und sie hatte keine Notiz davon genommen!
»Sie wünschen, Madame?«, tönte die freundliche Stimme einer Schwester an ihr Ohr.
»Herr Doktor Rodeck«, antwortete sie, »ist er noch hier?«
Ein forschender Blick ruhte auf ihrem blassen Gesicht. »Er ist noch bewusstlos. Sie sind eine Verwandte?«
»Ja, ich bin eine Verwandte«, erklärte sie mechanisch. »Janice Vandermeer.«
»Ich werde Doktor Vartan fragen, ob Sie zu ihm dürfen«, sagte die Krankenschwester.
Dr. Vartan wollte selbst mit Janice sprechen. Er stellte Fragen, die Janice ausweichend beantwortete.
»Er darf keinesfalls erregt werden«, bemerkte er mit mahnendem Unterton. »Es ist besser, wenn Sie Ihren Besuch noch aufschieben, Madame.«
»Ich möchte ihn nur sehen«, flüsterte sie.
Zögernd ging er ihr voran. Merkwürdig kam ihm dies alles vor. War sie wirklich eine Verwandte? Warum hatte sie sich nicht gleich gemeldet? Aber wozu sollte er sich den Kopf zerbrechen? Ihm konnte es nur recht sein, wenn sich jemand um den Patienten kümmerte.
Janice lehnte an der Tür. Mit brennenden Augen blickte sie in das blasse Männergesicht.
»Ist es schlimm?«, fragte sie leise.
»Die lange Bewusstlosigkeit ist bedenklich«, flüsterte Dr. Vartan. »Er ist an einer äußerst empfindlichen Stelle getroffen worden.
»Kann das böse Folgen haben?«, rang es sich von ihren Lippen.
»Bewusstseinstrübung«, stellte er zögernd fest, »vielleicht auch eine Gedächtnislücke. Der Sehnerv ist glücklicherweise nicht verletzt.«
»Wie lange wird es dauern?«, fragte sie.
»Das kann man jetzt noch nicht sagen. Möchten Sie verständigt werden, wenn er zu sich kommt?«
Wollte sie das? Sie war sich darüber nicht im Klaren. Aber Thomas war nicht zufällig hier. Ihretwegen war er gekommen. Sie musste den Grund erfahren.
»Ja, bitte verständigen Sie mich sofort«, bat sie leise und gab ihm ihre Karte. »Ich komme morgen wieder, wenn Sie es gestatten.«
»Bitte, Madame«, erwiderte er mit einer höflichen Verbeugung.
*
Trotz der sommerlichen Hitze fröstelte es Janice, als sie wieder auf der Straße stand. Deutlich erinnerte sie sich des Tages, an dem sie Thomas Rodeck zum ersten Mal gesehen hatte.
»Thomas hat eingewilligt, mit mir zu arbeiten«, hatte ihr Malte erklärt. »Wir werden ihm in dem Anbau eine Wohnung einrichten.«
Dann war Thomas gekommen. Groß, jung, mit einem Lächeln auf dem schmalen, ausdrucksvollen Gesicht stand er vor ihr, ein Staunen in den Augen.
»Du bist Janice?«, hatte er atemlos gefragt, und wie ein elektrischer Schlag hatte es sie durchzuckt, als er ihre Hand ergriffen hatte.
Janice hatte Thomas vom ersten Augenblick an geliebt. Aber da war Malte Rodeck gewesen, der Mann, der sie aus einer Hölle befreit hatte, dem sie so unendlich viel verdankte. Und da war Robin, ihr kleiner Sohn.
Thomas aber war wie ein großer Bruder zu ihr gewesen. Er hing an Malte mit Verehrung, und er arbeitete mit ihm, als gäbe es sonst nichts auf der Welt. Tag um Tag, Jahr um Jahr trafen sie sich meist nur bei den gemeinsamen Mahlzeiten, einige wenige Stunden ausgenommen. Doch diese wenigen Stunden waren für Janice voller Glück gewesen. Ihn anschauen, mit ihm reden dürfen, hatte ihr genügt.
In dieser Zeit war aber auch anderes geschehen. Von überallher hatte sie plötzlich Coras grelle Stimme gehört.
Janice stöhnte auf, hielt sich die Ohren zu. Erstaunte Blicke der Passanten brachten sie in die Gegenwart zurück.
Ein fremder Wille schien sie nun zu zwingen, zu jenem Platz zu gehen, an dem damals der »Goldene Käfig« gestanden hatte.
Sie sah wieder das zweistöckige Haus vor sich, nicht übermäßig einladend, doch auch nicht verratend, was sich hinter seinen Mauern abspielte. Abend für Abend gab es hier Betrunkene, Pokerspiele, die kein Ende fanden. Und Lebruis, der sie, blutjung, wie sie war, zwang, diese zu bedienen. Die vornehmen Feriengäste mieden dieses Lokal. Nur manche kamen aus Neugierde. Und eines Abends erschienen sechs gut gekleidete Herren, die nicht in diese verräucherte Gaststube passten.
Einer blieb zögernd an der Tür stehen. »Nur auf ein Bier, Professor«, rief ihm ein anderer zu. »Dann geht es weiter nach Ostende.«
Ostende! Für Janice bedeutete das die weite Welt. »Die haben Geld«, sagte Lebruis zu ihr. »Mach nicht so ein abweisendes Gesicht, Janice!« Er gab ihr einen Stoß, als sie noch immer träumend dastand, sodass sie dem einen Fremden an die Brust flog.
Was dann folgte, war wie ein Traum. Immer wieder hatte der Fremde zu ihr herübergesehen. Und als die anderen bald darauf aufbrachen, war er auf sie zugekommen.
»Behandelt man Sie hier immer so?«, hatte er leise gefragt. »Warum gehen Sie nicht fort?«
»Wohin sollte ich gehen? Er ist mein Stiefvater«, hatte sie ungewollt geantwortet und es nicht fassen können, dass der Fremde am nächsten Tag wiederkommen und sie treffen wollte.
Doch er war gekommen, sie hatten sich getroffen, und ein paar Wochen später war sie Malte Rodecks Frau geworden.
Liebe? Was hatte Janice von Liebe gewusst. Ihr hatte es genügt, dass ein Mensch gut zu ihr war. Sie hatte nie wie andere junge Mädchen von Kleidern, Pelzen und Vergnügen geträumt, von weiten Reisen und einem Traumhaus. Sie hatte sich nach Stille gesehnt, und die hatte sie in dem Haus am Wald gefunden. Bis Cora in diese Stille eingebrochen war.
»Du hast ein Animiermädchen geheiratet«, dröhnte es jetzt wieder in ihren Ohren. Oh, Cora war nicht einmal taktvoll gewesen, unter vier Augen mit ihrem Bruder darüber zu sprechen. In Janices Gegenwart hatte sie ihm alles ins Gesicht geschleudert. »Du hast sie aus einer Kaschemme geholt. Wie konntest du das tun, wie konntest du unseren guten Namen so beschmutzen?«
Dies und noch viel mehr hatte sich Janice in Abständen immer wieder anhören müssen. Und dann, nach Jahren, war der furchtbare Tag gekommen, an dem auch Cora erfahren hatte, dass Lebruis zum Mörder und Selbstmörder geworden war.
»Was hat Janice mit diesem Mann zu schaffen«, hatte Malte aufbegehrt. »Er ist doch nicht ihr Vater!«
Aber Janice hatte es nicht mehr ertragen, und dann hatte auch ihr Mann resigniert.
»Warum ist Thomas gekommen?«, fragte sie sich jetzt wieder.
*
Die Krankenschwester betupfte die trockenen Lippen des Patienten. »Janice«, stöhnte Thomas, und diesmal konnte die Schwester den Namen deutlich verstehen.
»Soll sie kommen?«, fragte sie sanft.
Mühsam öffnete Thomas seine schmerzenden Augen. »Janice«, wiederholte er fragend. Und nach einer Pause erkundigte er sich: »Wer sind Sie?«
»Schwester Rose«, erwiderte sie. »Nein, hübsch liegen bleiben. Sie haben eine Gehirnerschütterung.«
»Ich kann mich an nichts erinnern«, flüsterte er.
»Das kommt schon wieder«, entgegnete sie beruhigend.
Leise ging die Tür auf. Janice trat ein in einem leichten bunten Kleid. Diskret zog Schwester Rose sich zurück.
»Thomas«, sagte Janice weich. Ihre Hand legte sich an seine Wange. Zart strich ihr Finger die Nase entlang.
»Janice«, seufzte er. »Bist du es wirklich?«
»Nicht so viel sprechen«, flüsterte sie, »sonst muss ich gleich wieder gehen.«
Seine kraftlose Hand tastete sich über die Bettdecke. »Ich muss dich fühlen«, stöhnte er auf.
Sie beugte sich ganz dicht zu ihm herab, bis ihre Lippen an seiner Wange lagen.
»Es ist ein Traum«, dachte er. »Es kann nicht Wirklichkeit sein. Was ist geschehen?«, fragte er gequält.
»Du hattest einen kleinen Unfall«, erwiderte sie beschwichtigend. »Es wird alles gut, Thomas. In ein paar Tagen geht es dir schon viel besser.« Sie legte ihren Finger auf seinen Mund. »Nicht sprechen«, bat sie. »Es strengt dich zu sehr an.«
Ihr Gesicht verschwamm vor seinen Augen. Verzweifelt wehrte er sich gegen den bohrenden Schmerz in seinem Kopf, aber er raubte ihm wieder das Bewusstsein.
Fragend blickte Janice in sein Gesicht, das von Schmerz gezeichnet war. Wann würde sie erfahren, was ihn hierhergeführt hatte?
*
»Ist wieder keine Post von Thomas gekommen?«, fragte Robin wie jeden Morgen.
Frau Rennert schüttelte den Kopf, und sofort zeigte sich tiefe Enttäuschung auf dem Gesicht des Jungen, den immer die gleiche Frage bewegte: Wo ist meine Mutti?
Mit unbewegtem Gesicht stand er abseits, als die Feldmann-Kinder von ihren Eltern abgeholt wurden. Es war ein fröhlicher Abschied mit dem Versprechen, in den Ferien wiederzukommen. Für zwei maßlos verwöhnte Kinder war der Aufenthalt in Sophienlust eine gute Lehre gewesen. Mit dem Erfolg konnte Denise ebenso zufrieden sein wie die Eltern der Kinder.
»Wir bleiben doch alle da«, trösteten die zurückbleibenden Kinder den traurigen Robin.
»Wenn ich wüsste, dass Mutti auch eines Tages kommt, würde ich gern hier sein«, murmelte er. »Cornelia und Michael haben ja immer gewusst, dass ihre Eltern sie wieder heimholen.«
Doch dann kam ein Tag, an dem Robin darauf beharrte, in Sophienlust zu bleiben. Das war der Tag, an dem Cora Berger kam. Sie hatte zu ihrer Unterstützung ihren jüngsten Sohn Andreas mitgebracht und zeigte sich von ihrer freundlichsten Seite. Doch auch damit konnte sie auf Robin keinen Eindruck machen, auf Stine schon gar nicht.
Auch Stine hier zu finden, verblüffte Cora Berger. Es verschlug ihr buchstäblich die Stimme, aber Denise von Schoenecker klärte sie freundlich auf, dass niemand hier etwas dagegen einzuwenden habe.
»Sie müssen verstehen, dass es für mich ein unerträglicher Gedanke ist, den Sohn meines lieben verstorbenen Bruders in einem Heim zu wissen«, meinte Cora mit süßlichem Lächeln. »Er hat doch eine Familie, die sich um ihn sorgt und sich um ihn kümmern wird.«
»Das Vormundschaftsgericht hat bereits verfügt, dass er hierbleiben darf, bis seine Mutter gefunden worden ist«, entgegnete Denise von Schoenecker unbeirrt.
»Sie wissen zweifellos nicht, was das für eine Frau ist«, erklärte Cora Berger nun erregt. »Wir fechten das Testament meines Bruders an. Wir dulden nicht, dass Robin von dieser unmoralischen Person erzogen wird.«
»Das sind sehr harte Worte, die erst bewiesen werden müssen«, antwortete Denise nun weniger verbindlich. »Ich möchte meinen, dass ein Mann vom Format Professor Rodecks nicht eine Verfügung trifft, die sich zum Schaden seines Sohnes auswirken könnte.
Cora Berger gab so schnell nicht auf. »Mein Bruder war ein weltfremder Gelehrter, und er war krank. Ich muss leider feststellen, dass auch Sie gegen Robins Interessse handeln, Frau von Schoenecker.« Nun hatte sie die Maske fallen lassen. Ihre Augen funkelten gehässig.
»Dazu habe ich nicht die geringste Veranlassung«, wies Denise die Anschuldigung zurück.
»Nun, Ihre Preise sind nicht gerade niedrig«, ereiferte sich Cora Berger. »Ich habe mich informiert. Natürlich sind Sie daran interessiert, die Kinder festzuhalten.«
»Sie täuschen sich, Frau Berger«, erwiderte Denise jetzt sehr kühl. »Es gibt Kinder, die wir kostenlos aufnehmen, aber es gibt auch Eltern, die freiwillig mehr zahlen, als vorgesehen ist. Wir machen kein Geschäft aus diesem Heim.«
Währenddessen versuchte Andreas auf seine Weise, Robin davon zu überzeugen, was ihn in der Familie Berger erwartete.
Die eindringlichen Ermahnungen seiner Mutter vergaß er rasch, als er sah, was den Kindern hier alles geboten wurde.
»Wenn ich du wäre, würde ich nie von hier fortgehen«, erklärte er unumwunden.
»Ich will ja gar nicht fort«, wehrte sich Robin.
»Wenn Mama etwas will, setzt sie es auch durch«, fuhr Andreas fort. »Aber Maxi haut dich, wenn du kommst.«
Robins Stirn legte sich in Falten. »Ich komme ja nicht«, knurrte er gereizt. »Was meinst du, warum ich weggelaufen bin?«
»Mama sagt, dass nur deine Mutter schuld daran ist, dass alles so gekommen ist«, bemerkte Andreas einfältig. »Und wenn sie dich erst mal hier raus hat, wird sich alles andere finden. Das sagt sie auch. Papa sagt, dass wir sowieso keinen Platz haben. Ob ich auch ausreiße und lieber herkomme?«
»Tu das lieber nicht«, riet Robin, mehr um seinen und Stines Frieden besorgt als um Andreas’ Wohlbefinden.
»Ich hätte aber Lust dazu. Hier ist es viel schöner als zu Hause. Ich würde auch gar nicht mit dir streiten«, versprach er. »Doch zu Hause dürfte ich nicht so nett sein zu dir.«
Robin warf ihm einen schrägen Blick zu. »Pass auf, dass deine Mutter nicht hört, was du sagst«, warnte er. »Da kommt sie schon.«
»Nun, ihr versteht euch ja schon sehr gut«, stellte Cora Berger wohlwollend fest. »Andreas hat dir sicher gesagt, wie sehr wir uns freuen, wenn du zu uns kommst, Robin.«
Andreas wurde knallrot, aber Robin zuckte mit keiner Wimper. »Ich will trotzdem nicht weg«, begehrte er auf. »Meine Mutti kommt bald.«
»Da wirst du lange warten können«, zischte Cora. »Sie ist bestimmt schon längst vor die …«
»Frau Berger«, fiel ihr Denise scharf ins Wort. »Ich muss sehr bitten.«
»Es ist besser, wenn Sie gehen, sonst bekommen Sie einiges von mir zu hören«, mischte sich nun Stine ein, die sich bisher abseits gehalten hatte.
»Muss ich mich auch noch von diesem ordinären Trampel zurechtweisen lassen?«, empörte sich Cora Berger.
Robin warf den Kopf in den Nacken. »Stine ist kein Trampel und das andere schon gar nicht«, sagte er aggressiv. »Sie hat ein gutes Herz. Ich lasse nicht zu, dass sie beleidigt wird.«
»Ach«, meinte Stine wegwerfend, »die da kann mich doch gar nicht beleidigen.«
Was blieb Cora Berger übrig, als das Feld zu räumen? Andreas warf Robin noch einen tief betrübten Blick zu, der diesem bewusst machte, dass er glühend beneidet wurde.
»Ich bin sehr gern hier«, sagte Robin darauf fast entschuldigend zu Denise von Schoenecker. »Und wenn ich keine Mutti hätte, würde ich auch lieber hier sein als anderswo. Andreas dagegen hat eine Mutter und würde doch lieber hier sein«, fügte er sinnend hinzu.
»Bei so einem Satan von Mutter«, knurrte Stine in sich hinein, aber das konnte Robin glücklicherweise nicht mehr hören.
*
Es war Sonntag, und somit konnte auch Janice über ihre Zeit verfügen.
Sechs Tage lag Thomas nun schon in der Klinik, und sein Befinden hatte in dieser Zeit ständig gewechselt. Selten war er bei klarem Bewusstsein gewesen, und Dr. Vartan hatte schon recht deprimiert geäußert, dass man eventuell noch einen Spezialisten hinzuziehen müsse. Unter diesen Umständen war Janice noch immer unbekannt, was Thomas hierhergeführt hatte.
Als sie ihn am Nachmittag besuchte, traf sie ihn schlafend an, doch Schwester Rose versicherte ihr mit einem zuversichtlichen Lächeln, dass es ihm heute besser ginge. Tatsächlich war sein Gesicht nicht mehr ganz so bleich, und sein Atem ging ruhiger und nicht mehr so stoßweise.
Behutsam nahm Janice seine abgemagerte Hand zwischen ihre Finger. Alle Liebe, die sie seit Jahren für ihn empfand, strömte in ihrem Herzen zusammen.
»Thomas, Liebster«, flüsterte sie. Weich legten sich ihre Lippen auf seinen Mund.
Ein leiser Seufzer löste sich aus seiner Brust. Seine Hände hoben sich. »Janice … Robin!« Dann folgte ein Stöhnen. »Malte ist tot«, flüsterte er.
Janice schloss die Augen. »Malte ist tot«, hämmerte es in ihren Schläfen. Das Blut erstarrte in ihren Adern.
Als sie endlich Kraft fand, Thomas wieder anzusehen, waren seine Augen weit geöffnet. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als wollte er einen Spuk wegwischen.
»Du bist da, Janice«, sagte er überrascht. »Ich habe dich gefunden!«
»Ich bin da«, bestätigte sie.
»Ich habe Robin versprochen, dich zu ihm zu bringen«, flüsterte er.
»Wo ist Robin?«, fragte sie und dachte gleichzeitig: »Seinetwegen hat er mich gesucht, nur seinetwegen. Wie das schmerzte!«
»In einem sehr schönen Kinderheim. Malte ist gestorben, Janice.«
Sie nickte. »Du sagtest es schon.«
Er wollte sich aufrichten, aber sie drückte ihn sanft in die Kissen zurück. »Immer langsam, Thomas. Du darfst dich nicht anstrengen.«
»Wie lange liege ich schon hier?«
»Sechs Tage.« Ihre Stimme wollte ihr kaum gehorchen, als ein schmerzliches Lächeln über sein Gesicht glitt.
»Wer hat es dir gesagt?«, fragte er leise.
»Josephine.«
Er musste sich daran erst erinnern.
»Ich sah dich im Bad«, sagte er. »Dann traf mich plötzlich ein Schlag. Jetzt weiß ich es wieder.«
»Ein Medizinball. Er hätte ruhig kleiner sein dürfen«, versuchte sie zu scherzen.
»Ich habe dir so viel zu sagen, Janice!«
»Wir werden noch viel Zeit dazu haben, Thomas«, meinte sie gedankenvoll.
»Ich muss Robin holen. Er wird warten. Er hat schon so lange auf dich gewartet, Janice.«
»Es wird noch einige Zeit dauern, bis du aufstehen darfst«, flüsterte sie.
»Dann musst du zu ihm fahren. Malte hat in seinem Testament bestimmt, dass du die Vormundschaft für ihn erhältst. Robin ist der Alleinerbe.«
Sie senkte den Kopf. »Malte hat auch bestimmt, dass Robin bei ihm bleibt.«
Seine Augen hielten ihren Blick fest. »Willst du dein Kind nicht mehr, Janice? Gibt es einen anderen Mann? Vielleicht auch ein anderes Kind, die dich beide hier festhalten?«
»Du hältst mich jetzt hier fest«, wollte sie sagen, aber kein Laut kam über ihre Lippen.
»Malte hat ein großes Vermögen hinterlassen, Janice«, klang seine Stimme eindringlich an ihr Ohr. »Du kannst mit Robin leben, wo du willst. Du brauchst dir nie mehr Sorgen zu machen.«
»Glaubst du, ich würde einen Pfennig von seinem Geld annehmen?«, fragte sie bitter.
Sein Gesicht überschattete sich. »Du wirst alles verstehen, wenn du die ganze Wahrheit weißt. Malte hat dich geliebt. Er hat dich sehr geliebt.«
»So sehr, dass er mich nicht mehr ertragen konnte«, widersprach sie tonlos.
»Er war todkrank, Janice. Er allein wusste es. Du solltest dieses Leiden nicht mit ansehen. Er meinte, dass du genug gelitten hättest.«
»Mein Gott«, flüsterte sie, dann barg sie aufschluchzend ihr Gesicht in den Händen.
*
Dreißig enttäuschten Kindern klarzumachen, dass sie ihre Gymnastikschule schließen müsse, war nicht ganz einfach gewesen für Janice. Aber dafür wartete ein anderes Kind auf sie: ihr Kind.
Robin hatte sie nicht vergessen. Janice konnte es kaum begreifen. Aber Thomas war gekommen, um ihr das zu sagen. Nun trug der Zug sie über weites Land, während er im Hospital bleiben musste. Blicklos starrte Janice vor sich hin. Sie bekam ihr Kind zurück. Warum dachte sie nicht nur an Robin? Warum weilten ihre Gedanken jetzt bei Thomas?
Ihr wurde bewusst, dass sie in all den Tagen, an denen sie an seinem Bett gesessen hatte, gehofft hatte, er wäre ihretwegen gekommen, er würde sie genauso lieben, wie sie ihn liebte. Aber er hatte nur davon gesprochen, dass Malte sie geliebt habe und dass Robin sich nach seiner Mutter sehnte.
Ihre Hände waren kalt. Sie spürte nicht die drückende Schwüle, die den anderen Reisenden die Schweißtropfen auf die Stirn trieb. Wiesen und Felder, Bäume und Flüsse flogen an ihren Augen vorüber. Sie sah nichts. Sie sah nur Thomas.
Der Zug ratterte. Robin … Robin … Robin …, als wollte er ihr diesen Namen einhämmern und den anderen auslöschen. Wieder eine Station, noch eine – und dann das Ziel!
Ein grauer Morgen dämmerte. Regen peitschte ihr ins Gesicht, als sie aus der Bahnhofshalle trat.
Ein Taxifahrer starrte sie entgeistert an, als sie ihm sagte, wohin sie wollte.
»Das sind drei Stunden, meine Dame«, brummte er. »Wollen Sie nicht zur Kreisstadt mit dem Zug fahren?«
»Nein«, erwiderte sie kurz.
»Na dann!«
*
»Wir singen das Lied ›Kommt ein Vogel geflogen‹«, sagte Wolfgang Rennert. »Von wem soll heute der Gruß kommen?«
Er fragte es, weil sie immer gekichert hatten, wenn sie gesungen hatten: »Von der Liebsten einen Gruß.« Deshalb hatten sie vereinbart, dafür immer den Namen eines Kindes einzusetzen, das mal in Sophienlust gewesen war.
Heute war Robin der Schnellste. »Von der Mutti«, sagte er laut. Niemand widersprach. Sie sahen ihn nur ein wenig mitleidig an. Ihm war wohl nicht zu helfen. Er dachte an nichts anderes.
»Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein’ Fuß, trägt ein Brieflein im Schnabel, von der Mutti einen Gruß.« Hell klangen die Kinderstimmen aus dem offenen Fenster, als das Taxi in den Gutshof fuhr. Die junge Frau hörte es und übersah den auffordernden Blick des Fahrers, der auf sein Geld wartete.
»Der Fahrpreis, meine Dame. Wollen Sie sich überzeugen«, sagte er brummig. Eine so weite Strecke, ohne ein einziges Wort reden zu können, war ihm zu viel gewesen.
»Ja, ja«, sagte Janice gedankenlos und nahm ein paar Geldscheine aus ihrem Portemonnaie.
»War der Postbote eigentlich schon da?«, unterbrach drinnen im Haus Robin den Gesang. »Darf ich mal nachsehen, Herr Rennert?«
Er war schon draußen, bevor er eine Antwort bekommen hatte. Das Taxi fuhr gerade wieder davon. Schwere Regentropfen fielen auf die schlanke Frau, die einsam inmitten des Hofes stand.
Robin hielt im Laufen inne. »Mutti?«, rief er fragend. »Mutti, Mutti, meine allerliebste Mutti!« Er fiel ihr in die Arme, klammerte sich zitternd an ihr fest.
Gab es noch mehr Glück? Janice presste ihren Sohn an sich und bedeckte sein Gesicht mit zärtlichen Küssen.
»Nun ist sie doch gekommen«, sagte Stine rau und schneuzte sich heftig die Nase. Aber dann konnte nichts sie aufhalten, Janice zu begrüßen.
»Stine ist auch hier«, flüsterte Janice staunend.
»Sie war doch so allein«, murmelte Robin. »Wo ist Thomas? Warum ist er nicht mitgekommen, Muttilein?«
»Er ist krank.«
»Thomas war nie krank«, meinte Robin kopfschüttelnd.
Doch als Janice erzählt hatte, was mit ihm geschehen war, sagte er rasch: »Dann müssen wir aber gleich wieder zu ihm fahren, Mutti.«
*
Jetzt wird Janice bei Robin sein, dachte Thomas beim Erwachen. Sie hat ihren Jungen wieder und wird mit ihm fortgehen. Weit fort, um allen Erinnerungen zu entfliehen. Ich aber werde an ihrem Leben nicht teilhaben dürfen. Niemals werde ich ihr sagen können, was sie mir bedeutet.
»Ich möchte aufstehen«, bat er Schwester Rose, als sie eintrat.
Energisch schüttelte sie den Kopf. »In zwei Tagen, früher nicht.«
»Ich bin gesund«, begehrte er auf. »Man kann mich nicht anbinden.«
»Das tut niemand. Aber ich habe Madame Janice versprochen, auf Sie aufzupassen.«
Was wird Janice nun tun?, fragte er sich wieder. Wird sie Robin hierherbringen? Nein, das würde sie bestimmt nicht tun. Aber in das düstere Haus am Wald würde sie sicher auch nicht zurückgehen.
Warum nur hatte Malte dieses junge Geschöpf an sich gebunden? Warum war Janice ihm gefolgt und nicht irgendeinem anderen Mann?
Was nützte alles Grübeln. Nie hatte Janice darüber gesprochen, selbst in den Stunden nicht, als sie einander nahe waren. Aber ganz nahe waren sie einander niemals gekommen. Immer hatte Malte zwischen ihnen gestanden, sein Freund und Cousin, ihr Mann.
Auch jetzt stand er noch zwischen ihnen. Würde es für alle Zeiten so bleiben?
*
Janice Rodeck und Denise von Schoenecker saßen sich gegenüber.
»Sie werden Robin gleich mitnehmen?«, fragte Denise vorsichtig. »Sicher werden Sie doch vorher mit Doktor Keßler sprechen wollen.«
Janices Gesicht blieb verschlossen. »Ich kann für Robin nicht auf das Erbe verzichten, aber ich will davon nichts haben«, erwiderte sie tonlos.
Denise zögerte. »Ich war einmal in einer ähnlichen Situation wie Sie, Frau Rodeck«, begann sie dann zu erzählen. »Mein Sohn Dominik erbte dieses Gut Sophienlust, nachdem man mir lange Zeit das Recht abgesprochen hatte, den Namen seines Vaters zu führen. Er war ein Wellentin. Mit Alexander von Schoenecker bin ich in zweiter Ehe verheiratet. Ich weiß nicht, warum ich gerade Ihnen das sage, was seit Langem der Vergangenheit angehört und inzwischen gut geworden ist.«
Schweigend hörte sich Janice Denise von Schoeneckers Geschichte an. Sie sah keine Parallele zu ihrer eigenen, sie wollte keine sehen.
»Ich habe meinen Mann nie geliebt, Frau von Schoenecker«, gestand sie mit klangloser Stimme. »Ich war ihm dankbar, dass er mich aus einer schrecklichen Umgebung fortholte. Ich war ihm so dankbar, dass ich mich von seiner Verwandtschaft widerspruchslos demütigen ließ. Jung war ich nie. Ich fühlte mich viel älter als er.«
»Dann werden Sie jetzt mit Robin jung sein«, versicherte Denise von Schoenecker eindringlich. »Springen Sie über diesen Schatten, auch wenn er riesengroß ist. Und wenn Sie es nicht auf einmal schaffen, dann Stück für Stück. Sie haben doch bewiesen, dass Sie das Leben meistern können!«
»Es war Selbstbetrug«, meinte Janice verhalten. »Ich bin dorthin zurückgekehrt, wo ich aufwuchs. Ich bin der Vergangenheit nachgelaufen. Das Haus steht nicht mehr, aber ich sehe es noch vor mir. Die Menschen leben nicht mehr, aber sie verfolgen mich. Meine Mutter war gut und liebevoll zu mir, bis sie diesem Mann begegnete. Wie sehr kann ein Mann eine Frau verändern!«
»Robin wird Sie schon noch das Lachen lehren«, äußerte Denise unbeirrt.
»Er hat selbst nie richtig lachen gelernt.«
»Dann lauschen Sie hinaus«, sagte Denise und öffnete die Fenster weit.
Mit einem Jauchzen lief Robin Dominik entgegen, der eben aus dem Schulbus stieg.
»Meine Mutti ist gekommen, Nick«, rief er, und seine Stimme war ein einziger Jubel.
»Wie sehr kann dieses Kind sich freuen«, flüsterte Denise. »Lohnt es sich dafür nicht, ein anderes Leben zu beginnen?«
»Ja«, erwiderte Janice, »ich danke Ihnen, Frau von Schoenecker.«
»Lassen Sie Stine bei uns, wenn Sie nichts mitnehmen möchten, das Sie an früher erinnert.«
Janice schüttelte den Kopf. »Dann müsste ich auch Robin zurücklassen«, flüsterte sie und dachte: Dann müsste ich auch Thomas aus meiner Erinnerung streichen. Aber das kann ich nicht. Ich muss damit fertig werden, mit allem.
*
Eine so weite Reise zu unternehmen, die einen ganzen Tag und eine lange Nacht währt, in einem solchen Ungetüm von D-Zug, der mit Teufelsgeschwindigkeit durch die Landschaft brauste, das wies Stine weit von sich. Aber wenn Janice sich einmal entschieden hatte, wo sie mit Robin bleiben wollte, würde sie sich eventuell dazu aufraffen. Aber dahin und dorthin fahren, nein, das sei zu viel für ihre alten morschen Knochen, wie sie sagte.
»Wir müssen uns doch um Thomas kümmern«, meinte Robin entschuldigend.
»Kümmert euch nur«, nickte Stine. »Ich warte hier, bis ihr mich holt. Wenn ihr nicht gar zu weit fortgeht«, fügte sie einschränkend hinzu.
So weit, dass Tante Cora sie niemals finden würde, dachte Robin. Alles andere war ihm gleichgültig, seit er seine Mutti wiederhatte.
Um den Besuch bei Dr. Keßler kamen sie nicht herum. Aber Dr. Brachmann nahm sich die Zeit, Janice mit seinem Wagen zu ihm zu bringen. Und was zu erledigen war, nahm nicht viel Zeit in Anspruch.
»Ich muss Sie leider darauf aufmerksam machen, gnädige Frau, dass Frau Berger und Herr Rodeck das Testament angefochten haben«, erklärte Dr. Keßler bedrückt.
»Ich habe nichts anderes erwartet«, erwiderte Janice. »Es bedeutet wohl auch, dass man alles hervorzerren und breittreten wird.«
»Vielleicht werden Ihre Gegner vorher zur Einsicht kommen.«
Das bezweifelte Janice. Aber jetzt war sie nicht mehr jene Janice Rodeck, die sich ihrem Mann in Dankbarkeit verpflichtet fühlte und außerdem schuldbewusst, weil ihre Liebe einem anderen Mann gehörte. Jetzt war sie Robins Mutter, die nichts anderes wollte als ihr Kind.
Ja, sie fühlte sich stark genug, allen Widerständen zu trotzen, auch ihrem eigenen Herzen, das sich nach Thomas sehnte. Man kann nicht alles haben, sagte sie sich. Nicht zugleich das Kind des einen Mannes und dazu die Liebe des anderen. Ich habe mich für mein Kind entschieden.
*
»Jetzt ist es genug«, sagte Thomas Rodeck zu Dr. Vartan. »Ich brauche frische Luft.«
»Sie stolpern in das nächste Unglück hinein«, warnte der Arzt. »Überschätzen Sie Ihre Kräfte nicht, Herr Rodeck.«
»Einen Spaziergang wird man mir wohl gestatten«, brummte Thomas.
»Eine Stunde, mehr nicht!«
Jeder Schritt tat weh. Thomas hatte es nicht glauben wollen. Ein lächerlicher Medizinball konnte einen bärenstarken Mann umwerfen. Nun, bärenstark fühlte er sich weiß Gott nicht, dazu zerrte die Ungewissheit an seinen Nerven.
Er kam an Janices Gymnastikschule vorbei. »Vorübergehend geschlossen«, stand auf einem Blatt Papier, das über das Messingschild geklebt war.
Er ging zu seinem Hotel, wo man ihn wie einen verlorenen Sohn begrüßte. Er war froh, sich eine Weile auf dem Bett ausstrecken zu können. Dann biss er die Zähne zusammen und raffte sich wieder auf.
Er kleidete sich um und fühlte sich vorübergehend wie neugeboren. Er lehnte am Fenster, blickte hinaus auf das Meer und atmete tief dessen Geruch ein – wie am ersten Abend.
Nun hatte er Janice gefunden, aber hatte er sie nicht zugleich wieder verloren?
Ein Klopfen an der Tür schreckte ihn auf. Gebannt blickte er auf die junge Frau und das Kind.
»Thomas«, flüsterte Robin. »Wir haben dich schon überall gesucht?«
Dr. Rodeck erreichte gerade noch das Bett, dann drehte sich das Zimmer um ihn.
Eine leichte kühle Hand legte sich auf seine Stirn. »Janice«, flüsterte er, dann schwanden ihm die Sinne.
*
»Diese Person hat den Jungen geholt«, empfing Cora Berger mit keifender Stimme ihren Mann. »Sie hat ihn mit nach Belgien genommen. Ins Ausland. Das ist Entführung. Das Vormundschaftsgericht hat bestimmt, dass er in dem Heim bleiben soll, bis zu der Entscheidung.«
»Bis seine Mutter kommt«, wandte Walter Berger müde ein. »Finde dich doch endlich damit ab, Cora!«
»Damit soll ich mich abfinden? Ich werde sie verklagen. Ich werde alle verklagen. Auch diese Frau von Schoenecker. Weißt du, wie viel Malte hinterlassen hat? Mehr als eine Million, die Verwertung seiner Patente nicht eingeschlossen. Glaubst du, dass Robin jemals einen Cent davon sieht? Sie wird es dort verjubeln, wo sie aufgewachsen ist. Im Sumpf. Er ist ein Rodeck, darauf poche ich.«
Dies und vieles andere musste sich Walter Berger Tag für Tag anhören.
Und die Kinder auch. Max nahm es zwar nicht tragisch. Er war so richtig im Flegelalter und hatte selbst immer einen frechen Mund, aber Melanie und Andreas litten unter den Wutausbrüchen ihrer Mutter.
Was war das für ein Leben, was war das für eine Ehe. Am liebsten wäre Walter Berger davongelaufen. Aber sein Pflichtgefühl hielt ihn und auch die Angst vor dem Gerede. Die Kollegen tuschelten schon hinter seinem Rücken. Jedenfalls bezog er jedes leise gesprochene Wort schon auf sich. Und wenn er es wirklich einmal wagte, seiner Frau Vorhaltungen zu machen, simulierte sie eine Ohnmacht. Auch heute, obgleich er noch gar nicht zu Wort gekommen war.
»Mama ist wieder umgefallen«, informierte ihn Andreas gleichmütig.
»Sie wird schon wieder zu sich kommen«, knurrte er.
»Diesmal schnauft sie aber wirklich nicht«, stellte Melanie fest. »Und sie ist auch ganz blass.«
Walter Berger überzeugte sich rasch, dass seine Frau diesmal tatsächlich ohnmächtig war. Schreckensbleich rief er den Arzt an.
»Der hohe Blutdruck«, stellte dieser fest, »er hat mich schon immer besorgt gemacht. Davon kommt auch ihre leichte Erregbarkeit.«
Von einer Stunde zur anderen sah sich Walter Berger vor die Tatsache gestellt, dass seine Frau in die Klinik musste. Aber wohin mit den Kindern?
Andreas wusste sofort Rat. »Nach Sophienlust«, erklärte er frohgemut und wenig beeindruckt von den deprimierenden Tatsachen.
Walter Berger war sich nicht sicher, dass seine Frau dort einen guten Eindruck hinterlassen hatte. Andererseits sah er sich in eine Situation gedrängt, aus der er keinen Ausweg wusste.
»Die schicken kein Kind weg«, behauptete Andreas. »Du brauchst uns gar nicht anzumelden. Du brauchst uns nur vor der Tür abzusetzen. Wir können auch sagen, dass wir ausgerissen sind. Robin haben sie ja auch behalten.«
Aber zu solchem Tun war Walter Berger doch nicht bereit. Lieber biss er in den sauren Apfel, eventuell eine Absage hinzunehmen.
*
»Ich fürchte, Denise, diesmal hast du eine falsche Entscheidung getroffen«, sagte Alexander von Schoenecker zu seiner Frau. »Bedenke bitte, was dir diese Frau für Schwierigkeiten bereitet hat. Und noch bereitet«, fügte er eindringlich hinzu.
»Soll man die Kinder dafür verantwortlich machen?«, fragte sie ruhig. »Der Mann ist geschlagen genug.«
»Sie hat dir das Gericht auf den Hals gehetzt«, fuhr er aufgebracht fort. »Das ist in all den Jahren noch nicht da gewesen.«
»Es wäre schlimm um unser Recht bestellt, wenn es gegen eine Mutter entscheiden würde, die sich selbst gestraft hat«, erklärte sie gelassen. »Ich fürchte mich nicht, Alexander.«
»Du fürchtest weder Tod noch Teufel«, seufzte er.
»Den Tod soll man nicht fürchten, und dem Teufel kann man zu Leibe rücken«, lächelte sie. »Mach doch kein so griesgrämiges Gesicht, Liebster!«
»Heute hast du die Kinder deiner Widersacherin aufgenommen und morgen bist du vor Gericht geladen.« Auch er gab heute nicht nach, was selten vorkam.
»Immerhin wird sie nicht erscheinen können, und darüber bin ich froh, wenngleich man sich das Unglück anderer nicht zunutze machen soll.«
»Diese Frau ist doch die personifizierte Bosheit«, meinte er.
»Man soll alle Menschen vom Guten überzeugen. Alexander, Geliebter, wenn du dir mit mir auch ein Kreuz aufgeladen hast …«
»Red nicht solchen Blödsinn!«, fiel er ihr ins Wort. »Ich bin der glücklichste Mann der Welt, und das kann durch nichts erschüttert werden.«
Sie schenkte ihm ein hinreißendes Lächeln. »Ich weiß nicht recht«, meinte sie leise, »aber ein ganz komisches Gefühl sagt mir, dass heute noch ein anderer Mann ganz ähnliche Worte sagt.«
*
»Sei mir nicht böse, Lutz«, sagte Claudia Brachmann zu ihrem Mann, »ich habe immer gutgeheißen, was Denise tut, aber diesmal ist sie wohl doch zu großzügig gewesen.«
»Wer A sagt muss auch B sagen, mein Schatz«, erwiderte er. »Ihr Wahlspruch ist, dass Sophienlust jedem Kind offen steht. Gleich, woher es kommt, gleich, wer seine Eltern sind und was es besitzt. Es ist ein Grundsatz, den man nicht nach Sympathie oder Antipathie verändern kann.«
»Noch niemals hat sie jemand vor Gericht zitiert. Noch nie hat es jemand gewagt, ihr unedle Motive zu unterschieben. Zum Glück bist du ihr Verteidiger.«
»Sie braucht keinen Verteidiger. Ich bin ihr Anwalt, sonst nichts, mein liebes Mädchen.«
»Denise ist meine Freundin. Sie ist zu gut für diese Welt«, verteidigte Claudia die ferne Denise leidenschaftlich. »Ich gehe für sie auf die Barrikaden, wenn es sein muss. Und du sagst, sie braucht keinen Verteidiger.«
»Ich meine es auch so, mein Herzblatt«, entgegnete er geduldig. »Unsere Freundin Denise ist eine großartige, tapfere Frau.«
»Und ich bin eine Nervensäge«, erklärte Claudia kleinlaut. »Du hättest wahrhaft etwas Besseres verdient, Lutz.«
Er lachte leise. »Ich bin der glücklichste Mann der Welt«, erwiderte er. »Eine bessere Frau hätte ich nicht finden können, und weil wir davon überzeugt sind, Liebes, sollten wir diesem armen, geschlagenen Herrn Berger vergönnen, dass er seine Kinder gut aufgehoben weiß.«
»Wenn du es so siehst«, meinte Claudia, als er ihr nach einem langen innigen Kuss eine Verschnaufpause vergönnte, »habe ich nichts mehr zu sagen.«
*
»Na, habe ich dir zu viel versprochen, Melanie?«, fragte Andreas leise. »Ist es nicht toll hier?«
Sie wagte nicht, ihrer Begeisterung so unbekümmert Ausdruck zu geben. Schließlich war sie zwei Jahre älter als ihr Bruder. »Wenn Mama nun nicht wieder gesund wird?«, überlegte sie beklommen.
»Dann bleiben wir immer hier?«, erwiderte er sorglos. »Schön war es doch wirklich nicht zu Hause. Ich verstehe nicht, warum sie Robin unbedingt von seiner Mutter trennen will, wo sie ihn doch sowieso nicht mag.«
»Man darf nichts Böses über seine Mutter sagen«, antwortete Melanie.
»Ich sage doch nichts Böses! Ich sage nur, wie es ist«, widersprach er. »Ich selbst bin froh, dass ich hier bin. Hier streitet niemand, und das Essen schmeckt auch viel besser als zu Hause. Mir tut es bloß leid, dass wir Papa nichts abgeben können. Er ist sowieso schon so mager.«
»Maxi würde vielleicht auch ganz gern hier sein«, meinte sie.
»Na, den würden sie schön zusammenstauchen. Hier dürfte er nicht so frech sein. Morgen gucken wir uns die Ponies an. Ich weiß nicht, warum Robin unbedingt zu seiner Mutti wollte«, schloss er nachdenklich.
*
»Ich wusste nicht, dass Onkel Thomas so krank ist«, erklärte Robin betrübt.
»Er hat sich übernommen, Robin. Du hast ja gehört, was Doktor Vartan gesagt hat.«
»Vielleicht möchte er lieber hier schlafen als in der Klinik. Hier können wir doch bei ihm bleiben.«
»Ich glaube nicht, dass es geht. Es ist ein Hotel, Robin«, seufzte Janice.
»Warum sollte es nicht gehen?«, fragte der Junge naiv. »Du kannst in dem zweiten Bett schlafen und ich auf dem Sofa. Müde wäre ich schon, Mutti.«
Er musste ja müde sein nach der langen Fahrt. Und hungrig auch, daran erinnerte sich Janice endlich. War sie eine so schlechte Mutter, dass sie in erster Linie an den Mann dachte?
Dr. Vartan war da gewesen, hatte aber gemeint, dass man Thomas im Augenblick hierlassen sollte, da er erschöpft sei.
»Ich werde dir ein Essen bestellen, Robin«, sagte sie leise.
»Ich habe aber gar keinen Hunger, Mutti«, versicherte er.
»Dann leg dich zu Thomas«, erklärte sie entschlossen und zog ihm die Schuhe aus.
»Bist du denn nicht müde?«
Unendlich müde war sie, aber dennoch schüttelte sie den Kopf.
Robin zog sich geschwind aus und schlüpfte unter die Decke.
»Ich konnte Thomas nicht mal dafür danken, dass er dich gefunden hat«, raunte er.
»Wir werden es nachholen, mein Liebling«, flüsterte sie und küsste ihn innig.
»Und nun bleiben wir immer beisammen«, meinte er noch, bevor ihm die Augen zufielen.
Vor dem Fenster rauschten die Wellen ihr ewiges Lied, und Janice kämpfte verzweifelt gegen die bleierne Müdigkeit an, die durch ihre Glieder kroch. Niemand kam, um sie aufzurütteln. Sie sank neben Thomas nieder, den Kopf an seiner Schulter, ihre Hand auf seiner Brust.
*
»Ich liebe dich, Janice«, die Worte drangen wie aus weiter Ferne in ihr Bewusstsein. Eine Hand glitt durch ihr Haar, trockene, harte Lippen lagen an ihrer Wange.
Janice wollte nicht aus diesem Traum erwachen. Sie wollte immer seine Stimme hören und diese Worte: »Ich liebe dich, Janice!«
Sie drehte ihren Kopf ein ganz klein wenig zur Seite. Nun berührten ihre Lippen beinahe seinen Mund.
»Ich habe dich von Anbeginn geliebt«, tönte seine Stimme weiter an ihr Ohr.
»Ich dich auch, Thomas«, sagte sie. Hatte sie das wirklich gesagt? Janice war plötzlich hellwach.
Die Nachttischlampe brannte. Janice erkannte die Umrisse der Möbel und die Umrisse der beiden Gestalten auf dem Bett. Den Mann und das Kind.
Ihr Herz schlug dumpf.
»Bleib bei mir«, sagte die bittende Stimme. »Ich will doch nur deine Nähe fühlen, Janice. Ich habe mich so sehr nach dir gesehnt. Viele Jahre. Du hast es nicht gespürt.«
»Robin schläft«, raunte sie.
»Ich weiß. Sein Atem streift meine Wange. Ihr seid beisammen. Er hat seine Mutti wieder.«
Janice sank in die Knie und legte ihre Stirn an seine Schulter. »Alles haben wir dir zu verdanken, Thomas«, raunte sie mit erstickter Stimme.
»Ich liebe dich!« Die drei Worte waren in ihren Ohren wie Musik aus einer wundervollen Welt, nach der sie sich lange gesehnt hatte. Ein erschütterndes Schluchzen löste endlich alles, womit sie sich gequält hatte.
Seine Hände streichelten ihr Haar, ihre Wangen, ihren Hals. »Nun wird alles gut«, flüsterte er. »Gemeinsam werden wir es schaffen, Janice.«
*
Robin musste sich erst zurechtfinden, als er erwachte. Eine Luft, wie er sie noch nie geschnuppert hatte, strömte zu dem offenen Fenster herein. Nicht, dass die Luft in Sophienlust nicht auch würzig gewesen wäre, aber hier roch sie so ganz anders. Er erinnerte sich plötzlich, dass er mit seiner Mutti eine weite Reise gemacht hatte, und drehte sich um. Er sah eine Hand auf dem Kopfkissen neben sich. Diese gehörte Thomas, und der schlief auch noch ganz fest. Aber wo war Mutti?
Gleich begann Robins Herz wieder ängstlich zu klopfen. Sie sollte nicht mehr von ihm weggehen. Nie mehr! Auch nicht einen Tag oder eine Nacht.
Schnell sprang er aus dem Bett, atmete aber sogleich erleichtert auf, denn Janice lag auf dem Sofa und schlief ebenfalls. Ganz weltentrückt sah sie aus, fand Robin. Am liebsten hätte er sie rasch einmal gestreichelt, aber er wollte sie nicht wecken. Sie war so müde gewesen und hatte sich so um Thomas gesorgt. Ganz blass war sie geworden, als sie ins Hospital gekommen waren und er nicht mehr dort gewesen war. Und wie sehr hatte sie sich aufgeregt, bevor sie Thomas endlich im Hotelzimmer gefunden hatten. Aber sie hatte ihm, Robin, das Versprechen abgenommen, das Thomas nicht zu sagen. Aber warum eigentlich?
Nachdenklich stand Robin am Fenster und blickte auf das Meer. So riesengroß hatte er es sich nicht vorgestellt, und ganz grün waren die hohen Wellen, die der Wind über den Sand peitschte.
Schön war es hier schon irgendwie, aber so übermäßig begeistert war Robin doch nicht. Außerdem sprachen die Leute hier so komisch.
Ob Mutti hierbleiben wollte? Er hatte noch gar nicht mit ihr darüber gesprochen. Es war alles zu schnell gegangen.
Und ob sie nun immer beisammen blieben? Robin runzelte die Stirn. Thomas hatte zu seinem Leben gehört wie Vater und Stine, nur mit dem Unterschied, dass er manchmal Zeit für ein Späßchen gehabt hatte, während Vater immer stiller geworden war.
Mutti war immer etwas Besonderes gewesen. Ihre weiche Stimme, ihre zärtlichen Hände hatten dem kleinen Robin so sehr gefehlt, und jetzt konnte er überhaupt nicht mehr verstehen, dass er es so lange ohne sie ausgehalten hatte.
»Robin!« Es war Thomas’ Stimme, die sein Ohr erreichte. Er drehte sich um und lächelte ihm zu. Dann ging er auf Zehenspitzen zum Bett zurück und kroch wieder unter die Decke.
»Mutti schläft auf dem Sofa«, raunte er. Thomas nickte. Nicht zu überreden war Janice gewesen, sich zu Robin zu legen und ihm das Sofa zu überlassen, obgleich sie vor Müdigkeit und Schwäche kaum noch einen Schritt hatte gehen können.
»Nun sind wir da«, flüsterte Robin. »Gefällt dir das Meer, Thomas?«
»Pssst«, machte der. »Mutti soll richtig ausschlafen.«
»Das kann ich später am Strand«, ließ Janice sich vernehmen, und ihre Stimme klang ganz munter. »Jetzt habe ich erst mal einen Riesenhunger, und ihr wohl auch.«
Sie widersprachen nicht, und niemand schien sich zu wundern, als sie wenig später zu dritt in das Frühstückszimmer kamen, das noch ganz leer war.
»Du müsstest ja eigentlich wieder ins Hospital«, lächelte Janice.
»Das fehlte noch. Hat ein kranker Mann etwa einen solchen Appetit?«, fragte Thomas.
»Nein«, lächelte Robin.
»Na also, dann bin ich auch gesund.«
»Das entscheidet der Arzt«, erklärte Janice streng.
»Hei«, sagte er, »du bist ja so energisch.«
»Mit dir muss man ja energisch sein, du Dickkopf«, lächelte sie. »Bevor wir etwas unternehmen, wird Doktor Vartan gefragt.«
»Basta«, fügte Robin hinzu.
Dr. Vartan war überrascht, dass sein Patient sich so rasch erholt hatte, aber er erhob keinerlei Einwände gegen Thomas’ Entlassung. Als die drei, den Jungen in der Mitte, davongingen, schickte er ihnen ein nachsichtiges Lächeln hinterher und sagte zu Schwester Rose: »Liebe ist anscheinend doch die beste Medizin!«
*
Mit einem heiteren »Guten Morgen« betrat Denise von Schoenecker in Begleitung von Dr. Brachmann das Amtszimmer des Vormundschaftsrichters. Sie blickte in betretene Gesichter.
Natürlich war der Name von Schoenecker hier ebenso ein Begriff wie der von Wellentin. Und Gut Sophienlust war bereits eine bekannte Institution.
»Es ist mir außerordentlich peinlich, gnädige Frau«, begann der weißhaarige alte Herr stockend, um Denise dann etwas hilflos anzusehen.
»Es braucht Ihnen gar nicht peinlich zu sein«, erwiderte sie munter. »Sie tun Ihre Pflicht, und ich stehe Ihnen Rede und Antwort. Man muss immer mit irgendwelchen Schwierigkeiten rechnen in solchen Fällen.«
»Es wäre zu prüfen, ob Sie in gutem Glauben handelten, als Sie Frau Rodeck gestatteten, Robin mitzunehmen, oder ob Sie bewusst Schützenhilfe geleistet haben.«
Denise warf Lutz Brachmann einen fragenden Blick zu. Dann hob sie den Kopf.
»Eine Mutter kam, um ihr Kind abzuholen, und ich sah keinerlei Veranlassung, ihr dies zu verwehren. Herr Professor Rodeck hat bestimmt, dass sein Sohn zu seiner Mutter kommt, und ich habe Robins Aufenthalt in Sophienlust von Anfang an als vorübergehend betrachtet.«
»Frau Cora Berger und Herr Fritz Rodeck sind da anderer Ansicht. Professor Rodeck war ein kranker Mann, als er solche Verfügungen traf. Und der Lebenslauf dieser Janice Rodeck, geschiedene Rodeck«, betonte er, »scheint nicht dafür zu sprechen, ihr das Sorgerecht für den Jungen zuzusprechen.«
Denise lächelte nachsichtig. »Ich hatte einen sehr guten Eindruck von Frau Rodeck. Der Junge liebt seine Mutter und hat nur den einen Wunsch, bei ihr zu sein. Es ist das erste Mal, dass ein Kind in Sophienlust nicht heimisch wurde. Ich bin ihm deswegen nicht böse«, fügte sie rasch hinzu.
»Was den Lebenslauf Frau Rodecks anbetrifft«, warf Dr. Brachmann ein, »so habe ich Folgendes dazu zu sagen: Ist überprüft worden, was Frau Rodeck von den Geschwistern ihres geschiedenen Mannes zum Vorwurf gemacht wird? Gut, Frau Rodeck mag aus zweifelhaften Verhältnissen kommen, aber das allein genügt nicht, einer Mutter das Anrecht auf ihr Kind zu verwehren.«
»Das Anrecht hatte sie verloren, als sie sich scheiden ließ und das Kind seinem Vater zugesprochen wurde. Das ist eine rechtliche Tatsache, die wir nicht übersehen können.«
»Professor Rodeck hat in einem Schreiben eindeutig klargestellt, aus welchen Gründen er in die Scheidung einwilligte.«
»Und eben darauf gründen sich die Einwände, die seine Geschwister geltend machen. Der Mann war todkrank. Es muss bewiesen werden, dass er noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war.«
Dr. Brachmann lachte auf. Er konnte nicht anders. »Professor Rodeck arbeitete bis zuletzt an einem Krebsverhütungsmittel, für das umfassende Forschungsunterlagen vorhanden sind. Man wird doch wohl nicht in Zweifel stellen, dass er dazu einen klaren Verstand benötigte. Frau Berger dagegen ist eine Hysterikerin. Im Übrigen wurde sie gestern mit einem Kreislaufkollaps in die Klinik gebracht, und was Sie verwundern dürfte, ihre beiden jüngeren Kinder befinden sich in Sophienlust.«
Das schlug wie eine Bombe ein. »Sie haben diese Kinder aufgenommen?«, fragte der Richter Denise verblüfft.
»Sollte ich das nicht? So wenig ich mich berechtigt fühle, einer Mutter ihr Kind vorzuenthalten, so sehr fühle ich mich verpflichtet, frei von allen Vorurteilen jedes Kind aufzunehmen, das des Schutzes und der Betreuung bedarf.«
Damit wurde die Verhandlung ausgesetzt, denn Frau Berger konnte nicht angehört werden, und Herr Fritz Rodeck hatte sich wegen dringender beruflicher Verpflichtungen entschuldigen lassen.
»Ich fürchte dennoch, Denise, dass das Schlusswort noch nicht gesprochen ist«, meinte Lutz Brachmann besorgt.
»Lassen wir es an uns herankommen«, erwiderte sie zuversichtlich. »Es geht doch nicht um das Kind, Lutz, es geht der Verwandschaft doch einzig und allein um das Vermögen.«
*
War Dominik auch mit der Zeit toleranter geworden, so gab es manchmal doch noch Dinge, die ihm nicht in den Kopf wollten und seinen Zorn erregten. Dann ließ er sich auch zu jähzornigen Äußerungen hinreißen.
Die Anwesenheit von Melanie und Andreas Berger in Sophienlust erregte ihn so sehr, dass er seinem Herzen Luft machen musste.
»Ich will nicht, dass sie bleiben«, sagte er empört zu Frau Rennert. »Ihre Mutter ist schuld, dass Mutti aufs Gericht muss, und wir füttern die Kinder durch.«
»Sei nicht ungerecht, Nick!«, ermahnte sie ihn. »Die Kinder können doch nichts dafür. Sie sind beide sehr glücklich, dass sie hier sein dürfen.«
»Klar sind sie das. So schön haben sie es ja auch nicht gleich wieder. Wenn sich diese grässliche Frau zu Hause auch so aufführt, wie sie sich damals hier aufgeführt hat, müssen sie ja froh sein, dass sie sie nicht mehr zu sehen brauchen. So eine Mutter möchte ich auch nicht haben.«
»Ich glaube nicht, dass es deiner Mutti recht wäre, dich so reden zu hören«, verwies ihn Frau Rennert.
»Sie hört es ja nicht«, erklärte Nick prompt. »Mit einem muss ich doch reden können. Was haben die Leute denn eigentlich dagegen, dass Robin bei seiner Mutti ist? Er hat sie doch lieb! Du weißt doch auch, Tante Rennert, wie traurig er immer war. Stine ist auch bitterböse.«
Schwierig war es schon, und Frau Rennert war sich nicht klar darüber, wie sie entschieden hätte, wäre sie an Denise von Schoeneckers Stelle gewesen. Jedenfalls taten die beiden Kinder nichts, was Dominiks Aggressivität gerechtfertigt hätte. Sie waren sehr brav und höflich.
Dominik war jedoch weit davon entfernt, seine einmal gefasste Meinung zu ändern. Er zeigte Melanie und Andreas die kalte Schulter. Nicht ein einziges Wort hatte er bisher mit ihnen gesprochen, und er versuchte sogar, was noch nie passiert war, auch die anderen Kinder dahingehend zu beeinflussen.
Mit Nick wollte es niemand verderben, wenn es auch gegen alle Grundsätze dieses Hauses verstieß, dass neu hinzugekommene Kinder aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wurden.
Besorgt beobachtete Carola, wie sie miteinander tuschelten und immer weiter von Melanie und Andreas abrückten. So ungern sie es auch tat, fühlte sie sich doch verpflichtet, Frau von Schoenecker davon zu unterrichten.
*
»Sie mögen uns nicht«, meinte Melanie betrübt zu ihrem Bruder. »Keiner will mit uns spielen.«
»Sie haben vorher so was geredet, dass Frau von Schoenecker wegen Mama aufs Gericht gemusst hat.«
»Aufs Gericht?«, fragte Melanie entsetzt. »Da müssen doch nur Verbrecher hin.«
»Quatsch, es ist wegen Robin. Ich sage dir, Mama hat uns da etwas Schönes eingebrockt! Papa hat sie ja immer gewarnt. Er hat stets gesagt, dass sie uns noch alle ins Unglück stürzen wird.«
In Andreas’ kindlichem Unverstand hatten sich manche Worte festgesetzt, und wenn er auch die Hintergründe nicht begriff, so fühlte er doch, dass etwas vorging, was auch sie betraf.
Während die beiden überlegten, was sie tun könnten, um sich die Zuneigung der anderen Kinder zu erwerben, nahm Denise von Schoenecker ihren störrischen Sohn ins Gebet.
»Wie lautet unser erstes Gebot, Nick?«, fragte sie streng.
Er schob trotzig die Unterlippe vor. »Klopfet an, so wird euch aufgetan«, antwortete er. »Sie haben aber nicht angeklopft, sie sind einfach gekommen.«
»Ihre Mutter ist in der Klinik, Nick«, fuhr Denise mahnend fort.
»Können wir was dafür?«, fragte er unwillig. »Das ist die Strafe, weil sie so böse ist. Sie will Robin seiner Mutter wegnehmen, das gefällt dem lieben Gott nicht.«
Denise seufzte. Man kam schwer gegen ihn an. Er hatte einen ausgeprägten Willen und würde ihnen noch manche Nuss zu knacken geben.
»Wenn Frau Berger auch Unrecht getan hat, man soll nicht Gleiches mit Gleichem vergelten«, belehrte sie ihn eindringlich, »und vor allem darf man nicht Unschuldige dafür strafen.«
»Sie können ja ihrer Mutter sagen, dass sie Robin in Ruhe lassen soll«, murrte Dominik. »Ich sage es dir doch auch, wenn mir etwas nicht passt. Aber du bist ja viel zu gut, das ist es eben.«
»Schau, Nick, es wäre doch eigentlich eine sehr schöne Aufgabe für dich, diesen Kindern freundlich entgegenzukommen. Dann könnten sie ihrer Mutter eines Tages sagen, dass sie hier glücklich waren, glücklicher als daheim. Vielleicht würde sie dann versuchen, es ihnen zu Hause auch so schön zu machen.«
»Das glaubst du doch selber nicht«, trumpfte er auf. »Ich habe sie gleich nicht gemocht.«
»Deine Menschenkenntnis in Ehren, aber du bist schon mit Vorurteilen an sie herangegangen.«
»Du nicht, aber du hast auch gesagt, dass sie unbelehrbar ist.«
Man musste sich höllisch vor ihm in Acht nehmen. Seine Ohren hatte er überall und einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn besaß er auch.
»Ich dulde jedenfalls nicht, dass du hier Unruhe stiftest, mein Sohn«, meinte sie unnachsichtig.
»Dann komme ich eben nicht mehr nach Sophienlust, solange sie hier sind«, erwiderte er aufsässig. »Dann bleibe ich in Schoeneich.«
»Wie du willst. Du kannst gleich mit Papi hinüberfahren.«
Dominik starrte seine Mutter sprachlos an. Ging es nun schon so weit, dass sie fremde Kinder mehr in Schutz nahm als ihn?
»Manchmal habe ich es richtig satt«, stieß er hervor. »Wir sind vier Kinder und brauchen keine anderen. Und unser schönes Sophienlust ist mir viel zu schade dafür, dass jeder sich hier breitmachen kann. Wenn ich schon alles teilen muss, dich will ich nicht auch noch teilen. Robin hat es gut. Er hat seine Mutter ganz für sich.«
Es war durchaus nicht das erste Mal, dass Nick solchen Rappel bekam, aber Denise war doch besorgt. Denn jetzt war er nicht mehr sechs oder acht Jahre alt, jetzt ging er bereits auf das zehnte Lebensjahr zu. Sie hoffte jedoch, dass er auch diesmal von selbst zur Vernunft kommen würde.
*
Doch auch Robin lebte bereits in der Sorge, seine Mutti mit anderen Kindern teilen zu müssen.
Als sie am Strand lagen, kamen ein paar kleine Mädchen und begrüßten Janice freudig.
»Madame Janice, nun sind Sie ja wieder da«, strahlten sie. »Dürfen wir morgen wieder zur Stunde kommen?«
Ihre Gymnastikschule hatte Janice an diesem Tag vergessen. Jäh wurde sie daran erinnert, dass sie darüber eine Entscheidung treffen musste.
Robin, der etwas abseits im Sand spielte, hatte das Gespräch verwundert mit angehört. Er machte sich jedoch erst bemerkbar, als die Kinder wieder verschwunden waren.
»Was wollten sie von dir, Muttilein?«, fragte er. »Woher kennst du sie?«
»Ich gebe ihnen Gymnastikunterricht«, erwiderte sie leicht beklommen.
»Warum?«, wollte Robin wissen.
»Um Geld zu verdienen«, erwiderte sie zögernd.
»Müssen wir Geld verdienen, Thomas?«, fragte Robin. »Hat Tante Cora Vaters Geld jetzt doch weggenommen?«
»Es gehört dir«, erklärte Janice ihm.
Robin schüttelte ungläubig den Kopf. »Was mir gehört, gehört doch auch dir. Sag doch auch was, Thomas!«
»Ich denke, wir sollten anderswo unsere Zelte aufschlagen«, meinte Thomas.
Jetzt stürmte ein ganzes Rudel Kinder herbei, die Janice umringten.
»Es ist so langweilig, wenn Sie nicht da sind, Madame Janice. Wir haben Sie so vermisst«, redeten sie durcheinander.
Robin nahm eine aggressive Haltung ein. »Das ist meine Mutti«, sagte er laut und bestimmt. Besitzergreifend stellte er sich neben sie.
Die Kinder starrten ihn sprachlos an, während Janice krampfhaft nach einer Erklärung suchte.
»Ich werde euren Eltern Bescheid geben, ob und wann ich den Unterricht wieder aufnehme«, erklärte sie, sich zur Ruhe zwingend. Betrübt schlichen die Kinder davon.
»Die Stunde der Entscheidung, Janice«, raunte ihr Thomas zu.
Janice entschloss sich, den Eltern ihrer Zöglinge mitzuteilen, dass sie aus familiären Gründen die Gymnastikschule leider aufgeben müsse.
Doch am nächsten Tag sollte etwas geschehen, das ihr keine freie Entscheidung mehr gestattete.
*
Robin war in dem glücklichen Bewusstsein eingeschlafen, dass sie diesen Ort am nächsten Tag verlassen würden. Lange betrachtete Janice ihr schlafendes Kind.
»Ich hoffe doch, dass dir die Entscheidung nicht allzu schwergefallen ist«, sagte Thomas leise, als sie sich zu ihm setzte. »Wir werden uns gemeinsam eine neue Zukunft aufbauen, Janice. Eine bessere.«
Sinnend schweifte ihr Blick in die Ferne. »Du weißt so wenig von mir, Thomas«, sagte sie gepresst.
»Ich weiß, dass ich dich liebe und niemals eine andere Frau geliebt habe«, erwiderte er. »Das genügt mir.«
»Es genügt nicht.«
»Warum willst du alles schwerer machen, als es ist? Du bist jung, Janice, und das Leben wartet.«
Sie trat ans Fenster und zeigte hinaus. »Da drunten stand mal ein Haus«, flüsterte sie. »Du weißt nicht, wie ich …« Die Stimme versagte ihr.
»Der ›Goldene Käfig‹, ich weiß.«
»Es war die Hölle. Kannst du verstehen, dass ich froh war, als Malte mich aus dieser Hölle befreite? Ich wäre mit jedem Mann davongegangen, der anders war als diese schrecklichen betrunkenen Kerle, gegen die ich mich nur mühsam wehren konnte. Malte aber dachte wohl nicht daran, dass seine Familie jemals erfahren würde, wo er mich aufgelesen hatte.«
»Er hat dich geliebt. Du weißt, warum er die Scheidung wollte. Nicht wegen dieses Hauses. Nicht wegen deines Stiefvaters und deiner unglücklichen Mutter.«
»Du bist sehr taktvoll, Thomas.«
»Herrgott, Mädchen, ich liebe dich. Warum quälst du dich mit den Erinnerungen? Als ich dich kennenlernte, warst du Maltes Frau. Sonst hätte ich dich auf der Stelle geheiratet. Warum glaubst du wohl, dass ich mich in die Arbeit vergrub? Ich wollte meine Wünsche vergessen und dennoch in deiner Nähe sein. Vielleicht hat Malte das gefühlt und darum die Trennung von dir durchgesetzt, als ich einmal nicht da war.«
Sie dachte zurück. War sie nicht auch deswegen gegangen, weil sie nicht mehr so neben ihm herleben konnte? Zwischen ihm und einem Mann, für den sie nie etwas anderes als Dankbarkeit empfunden hatte?
Aber warum quälte sie sich jetzt, da er bei ihr war und bei ihr bleiben wollte, noch damit?
»Wäre mein Vater nicht so früh gestorben, wäre alles anders gekommen«, fuhr sie leise fort. »Mein Vater war Lehrer an einer Schule in Antwerpen, wusstest du das?«
»Woher sollte ich es wisssen, Janice? Du hast nie davon gesprochen.«
»Malte wusste es, und er wusste auch, dass er einen langen und leidvollen Tod vor sich hatte. Ich sollte ihm auch dafür dankbar sein, dass er mir den Anblick seines Leidensweges ersparte, aber ich kann es nicht, Thomas. Ich wäre lieber diesen schweren Weg mit ihm gegangen, damit ich einmal auch für ihn etwas hätte tun können, damit ich eine Schuld hätte abzahlen können.«
»Du hast sehr teuer dafür bezahlt«, tröstete er sie.
»Du verstehst mich noch immer nicht«, sagte sie mit schwerer Stimme. »Habe ich nicht noch eine weitere Schuld auf mich geladen, indem ich dich liebte und nicht den Mann, dem ich Dank schuldete?«
»Was heißt Schuld, Janice. Du lebst mit Komplexen. Du musst dich von ihnen befreien. Oder willst du uns bestrafen?«
Sie senkte den Kopf. »Lass mir Zeit, Thomas!«, bat sie.
*
Es hatte geläutet, und Janice hatte die Tür geöffnet. Es war früh am Morgen, aber sie war fertig angekleidet, weil Thomas sie und Robin abholen wollte.
Die Koffer waren bereits gepackt, und Janice gab sich stillen Betrachtungen hin, dass sie diesen Ort nun für immer verlassen wollte. Sie begriff nicht, was der fremde Mann zu ihr sagte. Die Worte erreichten ihr Ohr, aber nicht ihr Bewusstsein.
Er widerholte sie, als sie ihn fassungslos anstarrte. »Sie haben widerrechtlich ein Kind entführt, Madame.«
»Entführt?«, stammelte sie. »Robin ist mein Kind. Ich fuhr mit ihm hierher.«
»Ich bedauere. Wir wurden verständigt, dass Robin Rodeck sofort dorthin zurückgebracht werden muss, woher Sie ihn holten. Nach Gut Sophienlust. Ich muss Sie ersuchen, mir das Kind zu übergeben. Hier ist mein Ausweis und die Order.«
Janice schüttelte den Kopf. »Das muss ein Irrtum sein«, stieß sie gequält hervor. »Ich bin seine Mutter.« Sie konnte nichts mehr denken. Robin war im Nebenzimmer, er musste alles mit angehört haben.
Ja, Robin hatte es vernommen und dachte nur eins: sie wollen mich wieder von Mutti trennen. Doch niemals würde er mit diesem fremden Mann mitgehen. Lieber riss er noch einmal aus und versteckte sich irgendwo.
Lange überlegte Robin nicht. Das Fenster lag im Hochparterre. Er kletterte rasch hinaus und sprang auf den weichen Rasen. Erst dann dachte er nach. Wo konnte er sicher vor der Entdeckung sein? Thomas – ja, Thomas würde ihm helfen. Er hielt zu ihnen.
Aber als Robin ins Hotel kam, fand er zu seinem Entsetzen Thomas’ Zimmer leer. Er war schon fort, und bestimmt wartete er mit seinem Wagen nun schon vor Muttis Wohnung.
Robin lief blindlings davon, dem Strand entgegen. Dort waren viele Kinder, und irgendwo, hinter den Dünen, würde er sich schon verkriechen können. Ob der Mann bald wieder gehen würde? Mutti würde sich schon denken, dass er sich versteckte. Davon war er überzeugt. Aber er dachte nicht weiter. Er dachte nicht daran, dass Janice sich Sorgen um ihn machen könnte und dass ihr durch sein Verschwinden neue Schwierigkeiten erwachsen könnten.
*
»Robin«, rief Janice, aber als sie das leere Zimmer sah und das offene Fenster, wusste sie sogleich, dass sie ihn in der Wohnung nicht mehr finden würde.
»Mein Sohn ist verschwunden«, sagte sie tonlos zu dem Mann.
»Sie halten ihn versteckt«, erklärte er barsch.
»Nein!«, begehrte sie auf. »Dazu hatte ich keinen Grund. Robin war eben noch hier. Er muss gehört haben, was Sie sagten, und ist weggelaufen.«
»Janice!« Thomas stand in der Tür und maß den Fremden mit einem argwöhnischen Blick. Ihre schreckensvoll geweiteten Augen richteten sich flehend auf ihn.
»Der Herr wollte Robin holen«, flüsterte sie, »und nun ist der Junge verschwunden.«
»Sie wollten Robin holen? Warum?«, fragte Thomas unwillig.
»Laut Gerichtsbeschluss …«, begann der Fremde. Aber Thomas schnitt ihm das Wort mit einer heftigen Handbewegung ab.
»Ich bin Doktor Thomas Rodeck«, stellte er sich erregt vor.
Der Mann sah ihn verwirrt an. Diese Geschichte war nicht nur peinlich, sondern auch verzwickt.
»Es wird sich alles klären, wenn Robin gefunden ist«, stellte Thomas fest. »Das ist wohl vordringlich. Ohne das Kind können Sie ohnehin nichts anfangen.«
»Doch! Ich muss Sie ersuchen, mir zu folgen, Madame Vandermeer.«
»Das schlägt doch dem Fass den Boden aus«, rief Thomas empört.
»Erreg dich nicht!«, bat Janice. »Bitte, such’ Robin, finde ihn, Thomas! Es darf ihm nichts geschehen. Das wäre zu viel für mich.«
Thomas richtete sich kampfbereit auf. »Wer das angezettelt hat wird seines Lebens nicht mehr froh werden«, knirschte er.
*
Diejenige, die es angezettelt hatte, setzte zur gleichen Stunde bereits ein triumphierendes Lächeln auf.
Cora Berger hatte sich rasch erholt, und eben hatte Bruder Fritz ihr die Nachricht gebracht, dass Robin nach Sophienlust zurückgeholt werden sollte.
»Nun werden wir mal sehen, wer zuletzt lacht«, meinte sie, sich im Bett aufsetzend. Da trat ihr Mann ein.
Fritz Rodeck, dem seine Schwester nicht mehr ganz geheuer war, denn noch gestern hatte sie getan, als wollte sie sterben, benutzte die Gelegenheit, um sich rasch zu verabschieden. Walter Berger dagegen wäre es lieber gewesen, wenn er geblieben wäre.
»Wer hat wieder einmal recht behalten?«, fragte sie mit einem genüsslichen Lächeln. »Wenn du doch nur ein bisschen mehr Zivilcourage hättest, dann wären wir schon viel weiter.«
Doch Walter Berger war von der Entwicklung, über die sie ihn wortreich informierte, nicht entzückt.
»Warum hast du die Kinder nicht mitgebracht?«, fragte sie.
Sein Herz sank noch tiefer, denn bisher hatte er es nicht gewagt, ihr zu sagen, dass Andreas und Melanie in Sophienlust waren. Max aber war nicht zu einem Krankenbesuch zu bewegen gewesen.
»Ich habe sie in einem Heim untergebracht«, gestand er stockend. »Was sollte ich sonst tun? Ich wusste doch nicht, wie lange du krank sein würdest.«
»Du hast sie in einem Heim untergebracht? In welchem Heim?«, fragte sie aufgebracht. »Hast du denn nicht überlegt, was das kostet?«
Er machte sich Mut. Lieber Himmel, war er denn ein Hampelmann, dass er ständig vor ihr zu Kreuze kroch?
»Sie wollten nach Sophienlust.«
Ihr Gesicht verzerrte sich.
»Nach Sophienlust? Bist du wahnsinnig? Zu diesen Leuten, die uns in den Rücken fallen? Sofort holst du die Kinder zurück. Sofort, sage ich. Du Idiot!«
Das war zu viel für ihn. »Du warst krank, und ich war besorgt um dich«, sagte er eisig. »Ja, bei allem, was du mir schon angetan hast, war ich besorgt um dich. Aber jetzt habe ich genug, Cora. Ich lasse mich nicht länger von dir herunterputzen. Lass dich auffressen von deinem Hass, aber ohne mich.«
»Das wagst du mir zu sagen, mir, einer kranken Frau?«, kreischte sie.
»Eben warst du schon wieder sehr gesund«, stellte er bitter fest. »Du sonntest dich bereits in dem Triumpf, einer Mutter ihr Kind wegnehmen zu können. Nun, Cora, wenn ich mich von dir trenne, werde ich auch um meine Kinder kämpfen. Und noch eins. Hol’ sie selber, wenn es dir nicht passt, dass sie sich dort wohlfühlen. Bis dahin bleiben sie dort.«
Sie war verblüfft, dass sie sogar vergaß, die Leidende zu spielen. Sie starrte noch immer auf die Tür, als sie sich schon lange geschlossen hatte.
Er hatte es gewagt, ihr die Stirn zu bieten! Er hatte ihr sogar gedroht. Ja, gedroht hatte er ihr. Um die Kinder wollte er kämpfen. Trennen wollte er sich von ihr und ihr, der Mutter, die Kinder wegnehmen.
Endlich begann Cora Berger nachzudenken. Zwar war sie noch weit entfernt davon, ihr Unrecht einzusehen, aber ein Gefühl der Unsicherheit beschlich sie.
*
Thomas war durch den ganzen Ort gelaufen, ohne eine Spur von Robin zu finden. Dabei war ihm eingefallen, dass er den Jungen schon einmal so gesucht hatte, so verzweifelt und von Gewissensbissen geplagt.
Er hatte zu viel versäumt. Nicht nur an dem Kind, auch an Janice. Er hätte sie niemals im Stich lassen dürfen. Er hätte sie schon damals suchen müssen, um sich schützend vor sie zu stellen – allen gegenüber, die es gewagt hatten, sie zu demütigen. Warum nur hatte er geschwiegen? Weil auch Malte geschwiegen hatte und sie selbst?
»Robin!« Immer wieder rief Thomas nach dem Jungen. Er musste ihn finden. Er musste ihm alles erklären.
Jetzt war er am Strand angekommen. Überall waren Kinder, nur Robin nicht.
»Robin!« Der Ruf war nur noch ein Keuchen.
»Hier bin ich, Thomas«, klang eine verängstigte Stimme plötzlich an sein Ohr. »Ist der Mann weg? Können wir nun fahren?«
Thomas hielt den Jungen erst einmal fest, froh, ihn wiedergefunden zu haben. »Nein, wir können nicht fahren, Robin«, sagte er dann ernst. »Sie haben deine Mutti mitgenommen.«
»Mitgenommen? Sie können doch Mutti nicht mitnehmen«, flüsterte Robin erschrocken.
»Sie glauben nicht, dass du weggelaufen bist. Sie denken, dass sie dich versteckt hat. Es hat keinen Zweck, dir etwas weismachen zu wollen. Du bist ein vernünftiger Junge. Wir müssen jetzt beide an Janice denken. Und wir müssen ihr helfen.«
»Aber sie dürfen uns nicht trennen«, schluchzte Robin auf.
»Ich werde dafür sorgen, dass man euch nicht trennt«, versprach Thomas. »Und wenn ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen muss.«
Bange Stunden vergingen, bis Robin seine Mutti wieder umarmen konnte. »Das habe ich nicht gewollt, Muttilein«, schluchzte er. »Ich wollte dir keinen Ärger machen.«
»Das besorgen andere«, dachte sie und küsste ihn wortlos. Verzweifelt begehrte er auf, als sie ihm erklärte, dass sie sich noch einmal trennen müssten. Auch Thomas war es nicht gelungen, dies zu verhindern.
»Du kommst ja wieder nach Sophienlust zu Stine«, sagte Janice tapfer. »Und ich werde bald nachkommen und in deiner Nähe bleiben.«
Mit todtraurigen Augen, in denen ungeweinte Tränen brannten, fuhr Robin noch in der gleichen Nacht, begleitet von Dr. Thomas Rodeck und jenem Fremden, den er fast so hasste wie Tante Cora und den er keines Blickes würdigte, nach Sophienlust zurück.
»Ich tue doch nur meine Pflicht«, sagte der Fremde schließlich entschuldigend.
»Eine traurige Pflicht«, stellte Thomas kalt fest.
*
»Ist Sophienlust ein Kinderheim oder ein Gefängnis«, begehrte Alexander von Schoenecker auf. »Es ist doch ungeheuerlich, dass man den Jungen sozusagen unter Polizeischutz zurückbringt.«
Das war für Dominik höchst interessant. »Sprecht ihr von Robin?«, fragte er.
»Misch dich bitte nicht ein, Nick!«, warnte Alexander.
Das fiel Nick unsagbar schwer, aber seinem Papi wagte er nicht zu widersprechen. Er verzog sich, um mit Sascha und Andrea zu beratschlagen, was man für Robin tun könnte.
Alle Beteiligten wussten, dass man nur warten konnte. Bei allem, so fand Lutz Brachmann, war es noch ein Glück, dass man Robin wenigstens nach Sophienlust zurückgebracht hatte.
Als Jurist betrachtete er die Sachlage objektiv, aber er war empört. Für die kindliche Seele konnten solche Maßnahmen schlimme Folgen haben. Und wie es schien, hatten sie bei Robin schlimme Folgen.
Er begrüßte Stine, sonst niemanden. Wilder Zorn brannte in seinen Augen, als er Melanie und Andreas gewahrte, bevor man ihn hatte darauf vorbereiten können. Mit einer heftigen Bewegung stieß er Andreas, der sich ihm zutraulich näherte, vor die Brust. »Ich hasse euch, ich hasse euch alle«, stieß er hervor.
Das war alles, was er sagte. Kein einziges Wort sprach er danach mehr. Er aß und trank nicht und sah nur immer in die Ferne.
Cora Berger, die gekommen war, um ihre Kinder abzuholen, erlebte eine böse Überraschung, als Thomas ihr entgegentrat.
Tödliche Verachtung brannte in seinen Augen. »Du hast etwas getan, was du noch bitter bereuen wirst, Cora«, sagte er eisig. »Etwas, was du nie wiedergutmachen kannst. Wer Hass sät, wird Hass ernten.«
Das höhnische Lächeln erstarb ihr auf den Lippen, als man ihre Kinder brachte.
»Wir wollen nicht nach Hause«, sagte Andreas aufsässig. »Wir wollen hierbleiben!«
»Was hast du Robin getan?«, fragte Melanie mit bitterem Vorwurf. »Wenn Robin krank wird, bist du schuld daran, nur du!«
»Das hat man euch eingeredet«, wehrte sie sich.
»Niemand hat uns etwas eingeredet«, erwiderte Melanie voller Ernst. »Hier sagt man keine bösen Worte.« Und dann begann sie bitterlich zu weinen, als ihre Mutter sie in den Wagen schieben wollte.
Es war der traurigste Abschied, den es jemals in Sophienlust gegeben hatte.
Wer Hass sät, wird Hass ernten. Diese Worte dröhnten in Cora Bergers Ohren, als sie mit den beiden in Schmerz und Abwehr erstarrten Kindern nach Hause fuhr.
»Ich habe doch nichts getan«, versuchte sie, sich zu rechtfertigen. »Ich wollte nicht, dass ihr in ein Heim kommt. Das hat Papa ohne meine Zustimmung getan.«
»Du wolltest für uns nie etwas, das schön ist«, entgegnete Andreas trotzig. »Du hast an allem etwas auszusetzen.«
*
»Sie haben so geweint«, musste Dominik von seinen Spielgefährten erfahren. »Sie wollten viel lieber in Sophienlust bleiben als mit ihrer Mutter heimfahren.«
Nick fühlte sich nun doch ein wenig schuldbewusst, weil er so abweisend zu ihnen gewesen war. Um sein Gewissen ein wenig zu erleichtern, wollte er sich Robin widmen, von dem er sich das größte Verständnis erhoffte. Doch Robin tat, als höre er ihn nicht. Er kehrte ihm den Rücken zu und starrte unverwandt zum Fenster hinaus.
»Sie sind doch weg«, sagte Dominik beschwörend. »Ihre Mutter hat sie abgeholt. Du brauchst sie nicht mehr zu sehen.«
Doch er erhielt keine Antwort. Es war ihm richtig unheimlich.
Nur ein einziges Mal verließ Robin sein Zimmer, als Thomas sich verabschiedete.
»Du wirst Mutti holen, Thomas«, flüsterte er ihm zu. »Diesmal brauchst du sie nicht zu suchen. Ich werde nicht so lange warten müssen, nicht wahr?«
Thomas war die Kehle wie zugeschnürt. Alles Leid der Welt lag in diesen Kinderaugen. Würden sie jemals wieder glücklich leuchten?
*
Mit tiefstem Bedauern, liebe Cora, musste ich davon Kenntnis nehmen, dass Walter entschlossen ist, die Scheidung einzureichen. Es ist mir unbegreiflich, wie Du es so weit kommen lassen konntest. Ich kann nicht umhin, Dir diesen Vorwurf zu machen, da ich Walter als einen sehr gemäßigten Charakter kenne. Was die Streitigkeiten um Maltes Erbe anbetrifft, bin ich mit meiner Frau übereingekommen, meine Klage zurückzuziehen. Ich bitte Dich, dies zur Kenntnis zu nehmen, und ich möchte Dir raten, Dir alles noch einmal reiflich zu überlegen und den Schritt zu tun, um eine Versöhnung mit Walter herbeizuführen.
Cora Berger knüllte zornig den Brief zusammen, aber dann packte sie das heulende Elend. Alle ließen sie im Stich. Andreas und Melanie sprachen kein Wort mit ihr, und Max zeigte sich jetzt doppelt aufsässig.
»Das hast du nun davon, weil du Papa immer so schikaniert hast«, hatte er sie gestern angeschrien. »Nun sucht er sich ’ne andere Frau.«
Das musste sie sich von diesem dreizehnjährigen Lausebengel sagen lassen! Mit sich und der ganzen Welt uneins, versank sie ins Grübeln.
Melanie und Andreas wagten sich nicht aus ihrem Zimmer.
»Wenn Papa wirklich eine andere Frau heiratet«, meinte Melanie nachdenklich, »was wird dann aus uns?«
»Vielleicht ist sie netter als Mama«, erwiderte er gelassen.
»Aber es ist eine Stiefmutter! Maxi hat gesagt, dass es noch gar nicht raus ist, ob wir dann auch beisammen bleiben.«
»Stiefmütter können manchmal auch sehr nett sein«, überlegte Andreas.
»In den Märchen sind sie nie nett«, wandte Melanie ein. »Ich wäre lieber in Sophienlust.«
»Denkst du, ich nicht?«, meinte er. »Aber jetzt ist Robin dort, und der mag uns nicht.«
»Vielleicht ist er schon wieder bei seiner Mutti«, überlegte Melanie. »Wir wissen doch gar nichts. Darüber redet Mama nicht.«
»Wir könnten sie ja mal fragen.«
»Aber sie wird böse, wenn wir von Sophienlust anfangen. Wenn wir wüssten, wo Papa jetzt ist, könnten wir den mal fragen.«
»Er ist zur Kur. Das hat Mama neulich zur Nachbarin gesagt. Ich glaube, jetzt ist sie weggegangen. Melanie, wie viel Geld hast du in deinem Sparschwein?«
»Fünf Euro und dreißig Cent«, kam die prompte Antwort.
»Ich muss etwa drei Euro drin haben. Ob wir damit bis nach Sophienlust kommen?«
»Einfach weglaufen?«, meinte Melanie unsicher.
»Vielleicht ist es Mama dann doch nicht so egal, wenn sie merkt, dass es uns ernst ist«, überlegte er.
Gedacht, getan. Sie steckten ihr Geld ein und wollten sich aus der Wohnung schleichen. Aber sie kamen nicht weit, denn ihre Mutter war im Garten.
»Wohin wollt ihr?«, fragte sie.
Melanie begann zu zittern, aber Andreas nahm seinen ganzen Mut zusammen.
»Nach Sophienlust«, erklärte er ohne Umschweife.
Schon auf einen Zornausbruch gefasst, wunderte er sich sehr, dass sie nur die Lippen zusammenpresste.
»Wenn ihr nach Sophienlust wollt, werde ich es eurem Vater mitteilen«, erklärte sie mit einer ganz fremden Stimme.
»Du hast nichts dagegen?«, fragte Andreas staunend.
»Das hat Papa zu bestimmen«, erwiderte sie. »Ihr werdet euch gedulden müssen.«
Sie trotteten in die Wohnung zurück. »Verstehst du das?«, fragte Andreas seine Schwester. »Früher hat sie doch immer gesagt, dass sie alles bestimmt.«
»Nun hat sie es sich vielleicht doch anders überlegt. Bei anderen ist es doch auch so, dass der Vater bestimmt.«
»Jedenfalls hat sie nicht geschimpft«, triumphierte er.
Und darüber konnte Melanie nur staunen.
*
»Meiner Ausreise steht nichts mehr im Wege, haben sie gesagt«, kam es voller Bitterkeit über Janices Lippen.
Thomas fröstelte es. Seiner Umarmung war Janice ausgewichen, und nun glitt sie noch weiter von ihm weg, als er ihre Hände ergreifen wollte.
»Das ist doch gut«, lächelte er. »Wir fahren gleich los, Janice. Kopf hoch! Es wird alles gut!«
»Es ist ganz gleich, wo ich bin, man wird mich immer wie eine Aussätzige behandeln. Es wäre für Robin viel besser gewesen, wenn Malte andere Bestimmungen getroffen hätte. Nun wird auch seine Kinderseele vergiftet.«
»Er hat nur einen Wunsch, Janice: bei dir zu sein.«
Ein trockenes Schluchzen schüttelte sie. »Ich habe keine Hoffnung mehr, Thomas. Für diese Behörden ist Robin ein Objekt. Sie urteilen nicht mit dem Herzen, sondern nur nach Paragraphen. Es muss gewährleistet sein, dass das Kind in geordneten Verhältnissen aufwächst. Eine Mutter, die in einer Kaschemme aufgewachsen ist, bringt solche Voraussetzungen nicht mit. Warum gibst du nicht auf, Thomas? Willst du auch dein Leben zerstören?«
»Ich werde niemals aufgeben, und wenn du nicht endlich zur Vernunft kommst, Janice, wirst du es sein, die mein Leben zerstört. Verzeih, mein Liebes«, fuhr er heiser fort, als sie in Tränen ausbrach, »es muss dir doch endlich klar sein, dass wir zusammengehören. Wir werden heiraten. Schau nicht mehr zurück. Schau nur noch vorwärts, Liebste. Robin wartet auf dich.«
Ganz fest umschloss seine Hand ihren Arm. Apathisch folgte sie ihm. Und in diesem Augenblick fragte sich Thomas Rodeck, ob all seine Liebe ausreichen würde, ihr neuen Lebensmut einzuflößen.
Ein kalter Wind peitschte den Sand gegen den Wagen und trieb Regenwolken vor sich her, als sie den Ort verließen, den sie niemals, das schwor er sich, wieder betreten würden.
*
Robin fieberte. Denise hatte es befürchtet, nachdem er jede Nahrungsaufnahme verweigert hatte. Ein wilder Zorn brannte in ihr gegen alle, die das mitverschuldet hatten.
»Mutti …, Muttilein«, war alles, was er sagte. Sie konnte es nicht mehr mit anhören.
Dr. Wolfram schüttelte bedenklich den Kopf. »Es tut mir leid, Denise«, sagte er niedergeschlagen, »aber wenn seine Mutter nicht bald kommt, befürchte ich das Schlimmste.«
Was Stine bei allem dachte, wusste niemand. Jedenfalls war sie plötzlich verschwunden, und niemand wusste, wohin sie gegangen war.
Stine war zu allem entschlossen. Sie war alt. Ihr Leben war nutzlos geworden, wenn sie Robin nicht helfen konnte. Und Stine sah nur einen Weg, ihm den Weg zu seiner Mutter frei zu machen.
Diesmal nahm sie nicht den Pferdewagen. Den weiten Weg bis zur Stadt legte sie zu Fuß zurück. In ihrem alten Beutel trug sie alle Ersparnisse mit sich, nichts anderes. Sie wusste genau, dass sie sonst nichts brauchen würde.
Es war schon fast Nacht, als sie dem Zug entstieg, der sie in die Stadt gebracht hatte, in der sie Cora Berger finden würde. In ihrer Einfalt hatte Stine gedacht, dass die Fahrkarte ihr ganzes Geld verschlingen würde, aber es war nicht viel gewesen, was sie hatte bezahlen müssen. Danach bestieg sie zum ersten Mal in ihrem langen Leben ein Taxi.
Sie war müde, unendlich müde, als ihre Hand endlich auf die Klingel drückte. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihre Brust, als die Tür aufging und sie in Cora Bergers Gesicht blickte.
Diese wich zurück, als Stine auf sie zukam. Abwehrend hob sie die Hände, als sie in die rotumränderten Augen blicke, in denen tödlicher Hass brannte.
»Ich kenne dich ein ganzes Leben lang, Cora«, begann Stine, »ich kenne dich, Fritz und Malte. Er war der Beste, deshalb blieb ich bei ihm. Weißt du, wie alt ich bin? Siebenundsiebzig Jahre, Cora. Mein Leben ist nichts mehr wert, gar nichts. Und dein Leben ist auch nichts mehr wert. Du hast Janice mit deinem Hass verfolgt, weil sie jung und schön war, so jung und schön, wie du niemals warst. Du hast ihr Leben zerstört und nun auch das Leben des Kindes. Das ist zu viel. Weißt du, warum ich gekommen bin? Ich werde dich …« Wieder durchfuhr Stine der furchtbare Schmerz, den sie schon vorhin gespürt hatte. Sie hielt sich am Türpfosten fest.
»Stine«, stieß Cora tonlos hervor, »komm, ruh dich aus! Du bist krank.«
»Ich bin nicht krank. Ich werde sterben«, sagte Stine mit letzter Kraft.
Entsetzliche Angst erfasste Cora. Angst, wie sie sie noch niemals empfunden hatte.
»So darfst du nicht sterben«, stöhnte sie. »Ich werde einen Arzt rufen.«
»Ich brauche keinen Arzt. Ich weiß, dass meine Stunde geschlagen hat«, flüsterte Stine. »Knie nieder, Cora! Ich wollte dich umbringen, aber ich habe keine Kraft mehr. Knie nieder, wenn ich dich nicht verfluchen soll. Flehe zu Gott, dass er dir deine Schuld vergibt!«
Und Cora Berger kniete neben Stine nieder, als diese zu Boden sank. »Herr, vergib mir meine Schuld«, stammelte sie, während Stine ihre letzten Atemzüge tat.
»Vergib uns unsere Schuld«, sagte eine andere Stimme von der Tür her.
Cora starrte ihren Mann an. »Walter«, murmelte sie, »du kommst gerade jetzt?«
»Ich war in Sophienlust«, sagte er heiser. »Da hörte ich, dass Stine verschwunden ist. Ich ahnte, dass sie hierherfahren würde.«
Er beugte sich hinab und drückte der Toten die Augen zu. »Sie ist tot, Cora«, sagte er mit versagender Stimme.
»Sie wollte mich umbringen. Hast du es gehört, Walter?«
Er sah sie lange an. »Nein, ich habe es nicht gehört, Cora. Ich hörte, wie sie sagte, du solltest niederknien und zu Gott flehen, damit er dir deine Schuld vergebe. Es ist auch meine Schuld«, fügte er leise hinzu. »Wollen wir versuchen, gemeinsam gutzumachen, damit Stine diesen schweren Gang nicht umsonst gegangen ist?«
»Hier musste sie sterben, hier zu meinen Füßen«, schluchzte Cora auf.
»Ja, hier und nicht anderswo«, erwiderte er.
*
Verängstigt hockten die Kinder in ihren Betten. Sie hatten Stines Stimme gehört, aber sie hatten nicht verstehen können, was sie gesagt hatte.
»Papa ist auch gekommen«, raunte Andreas seiner Schwester zu. »Sollen wir mal rausgehen?«
»Ich traue mich nicht. Warum kommt Stine mitten in der Nacht?«, fragte Melanie bebend. »Sie war noch nie hier.«
Andreas wusste darauf keine Antwort. Er überlegte: »Ob Papa nun immer hierbleibt? Ob sie sich wieder vertragen?«
»Vielleicht ist er bloß gekommen, um uns wieder nach Sophienlust zu bringen«, meinte Melanie. »Aber warum ist Stine auch gekommen?«
»Jetzt hört man gar nichts mehr.«
»Doch«, sagte Melanie. »Mama weint.«
»Sie weint«, wunderte sich Andreas. »Ja, sie weint«, wiederholte er nach einem kurzen Lauschen.
Dann tat sich die Tür auf, Walter Berger trat ins Zimmer.
»Papa, du bist wieder da?«, flüsterte Andreas. »Wir haben Stine gehört. Hast du sie mitgebracht?«
»Stine ist gestorben«, sagte Walter Berger mit belegter Stimme.
Die Kinder blickten sich an. »Warum ist sie bei uns gestorben?«, fragte Melanie.
»Sie wollte eure Mutter noch einmal sehen«, quälte es sich über Walter Bergers Lippen.
»Und jetzt weint Mama«, flüsterte Andreas.
»Mögen die Tränen zu einem Strom werden, der alles fortspült«, dachte der Mann, »damit uns vergeben wird.«
*
»Warum ist Herr Berger gleich fortgestürzt, als er gehört hat, dass Stine nicht mehr da ist?«, fragte Dominik seine Mutter.
»Ich weiß es nicht, Nick.«
»Er war sehr erschrocken, dass Robin krank ist, nicht wahr, Mutti?«
Denise nickte. »Aber er wollte auch fragen, ob Melanie und Andreas wieder herkommen dürfen«, erzählte sie schließlich.
»Sie wollen wieder herkommen?«, staunte Dominik. »Was sagt man dazu, Mutti?«
Diese Redewendung hatte er von Alexander übernommen. Trotz ihres Kummers musste Denise lächeln.
»Du siehst, wie sehr es ihnen gefallen hat, obgleich du so unfreundlich zu ihnen warst«, erwiderte sie.
»Es tut mir leid«, versicherte er, »aber findest du es nicht auch schlimm, dass man Robin nicht zu seiner Mutti lassen will?«
»Doch, das finde ich sehr schlimm«, pflichtete sie ihm bei. »Es wird gewissen Paragraphen genüge getan werden müssen, damit haben wir uns abzufinden, Nick. Dann darf Robin wieder zu seiner Mutti.
»Diese Paragraphen, oder wie das Zeug heißt, sind aber sehr ungerecht. Warum gibt es so was?«
»Paragraphen heißt es, Nick. Denk daran, dass du dieses Jahr in die Oberschule kommst.«
»Ich will aber nicht daran denken«, murrte er. »Ich brauche so’n Zeug auch nicht zu lernen. Wozu hat Onkel Bert so lange studiert, wenn er nicht mal richtig weiß, was Robin fehlt?«
»Robin fehlt nur seine Mutter«, dachte Denise. Aber wenn sie das zu ihrem Sohn gesagt hätte, wäre er noch aggressiver geworden.
Dominik fiel etwas anderes ein. »Haben sie bei uns eigentlich auch so ein Theater gemacht, Mutti?«, fragte er. »Ich meine damals, als wir noch nicht in Sophienlust waren?«
Von Zeit zu Zeit erinnerte er sich daran. Denise spürte dann jedes Mal ein Erschrecken.
»Ich glaube, es kommt jemand«, lenkte sie rasch ab und war froh, wirklich ein Motorengeräusch zu vernehmen.
Auch Dominik hatte es gehört. »Hoffentlich kommt Robins Mutti«, murmelte er.
Nick wurde nicht enttäuscht. Thomas Rodeck und Janice waren gekommen. Denise atmete auf. Sie schöpfte neue Hoffnung.
*
Robin war krank! Er war vor Sehnsucht nach ihr krank geworden! Sofort erwachte Janice aus ihrer Lethargie.
Nun saß sie an seinem Bett und hielt seine fieberheißen Hände. »Robin«, flüsterte sie. »Mein Junge, deine Mutti ist bei dir.«
Die durchscheinenden Augenlider in dem eingefallenen Gesichtchen flatterten. »Mutti, mein Muttilein!« Ein tiefer Seufzer hob Robins schmale Brust.
Thomas fragte sich, woher Janice die Kraft nahm, so lange am Bett des Kindes auszuharren, da sie selbst seit vielen Stunden kein Auge zugetan hatte. Und es dauerte sehr lange, bis Robin endlich sagte: »Ich habe Durst.«
»Er hat nichts gegessen, seit er hier ist«, sagte Denise niedergeschlagen zu Thomas Rodeck. »Wir haben uns alle um ihn bemüht, aber er hat mit niemandem gesprochen.«
»Auch nicht mit Stine?«, fragte er gepresst. »Sie ist doch noch hier?«
»Seit heute Nachmittag nicht mehr«, erwiderte Denise von Schoenecker recht bekümmert. »Sie ist verschwunden. Sie konnte es wohl nicht mehr mit ansehen, wie Robin litt.«
Thomas’ Augenbrauen schoben sich zusammen. »Es muss etwas anderes sein, was in ihrem Kopf herumspukt«, vermutete er.
»Vielleicht hat Herr Berger etwas Ähnliches gedacht«, meinte Denise.
»Walter? War er hier? Hat er mit Stine gesprochen?«, fragte Thomas erregt.
»Herr Berger war hier, aber da war Stine schon fort. Ich mache mir Sorgen, Herr Doktor Rodeck.«
Thomas machte sich ebenfalls um Stine Sorgen, aber seine größte Sorge galt nach wie vor Janice. Stine war eine skurrile alte Frau. Auch früher war sie schon manchmal davongelaufen, wenn ihr etwas nicht behagt hatte. Meist war sie erst nach Stunden wiedergekommen, nachdem sie Zwiesprache mit den Tieren, den Vögeln und den Bäumen gehalten hatte.
Doch die Nacht verging, ohne dass Stine wiederkam. Nur die Kinder schliefen in Sophienlust. Die Erwachsenen warteten. Und drüben in Schoeneich fanden auch Denise und Alexander von Schoenecker keinen Schlaf.
Erst der Morgen brachte die Gewissheit: Stine war tot. Walter Berger teilte es ihnen mit versagender Stimme mit.
»Nur ein einziger Gedanke kann sie bewegt haben«, meinte Thomas tonlos. »Sie wollte Cora in die Knie zwingen.«
*
Wie recht er mit dieser Vermutung hatte, erwies sich im Laufe der folgenden Tage.
Cora Berger zog ihre Klage zurück. Dieser Bescheid traf an dem Tag in Sophienlust ein, an dem man Stine dort zur letzten Ruhe bettete. Unter dichten Tannen wurde der Sarg mit ihrer sterblichen Hülle in die Erde gesenkt.
Zur gleichen Zeit wich Janice zum ersten Mal von Robins Bett. Thomas stand neben ihr und hielt ihre Hand, die unter seinem festen Druck ganz ruhig wurde. Janice wusste nicht, was diese alte Frau für sie und ihren Sohn zu tun bereit gewesen war. Walter Bergers Lippen waren versiegelt. Niemals erfuhr Cora, dass er alles mit angehört hatte, was Stine in den letzten Minuten ihres Lebens gesagt hatte. Er sprach sich von eigener Schuld nicht frei und war bereit, mit Cora noch einmal zu beginnen, mochten sie auch den dornenvollen Weg eines tiefen Schuldbewusstseins gehen.
Drüben in Sophienlust gab Dominik Melanie und Andreas die Hand. »Wir werden uns schon vertragen«, begrüßte er sie ein bisschen verlegen. »Wie lange werdet ihr denn bleiben?«
»Hoffentlich recht lange«, meinte Andreas zuversichtlich. »Vielleicht darf Max auch noch kommen. Lange wird er es bei Onkel Fritz wohl nicht aushalten.«
Robin aber blieb nicht mehr lange. Schon vierzehn Tage später fuhr er mit seiner geliebten Mutti in den sonnigen Süden, um dort ganz zu gesunden. Dass Thomas sie nicht begleitete, betrübte ihn, aber ganz fest hatte der ihm versprochen, inzwischen ein Haus für sie zu suchen, mit einem Garten und einem Stück Wald und vielleicht auch mit einem See.
Davon träumte Robin, wenn er mit seiner Mutti die sonnendurchglühten Berge des Tessins durchstreifte, während sich weiter droben in Deutschland die Blätter schon gelb färbten und die ersten Herbststürme über das Land brausten.
Robin war sich noch nicht klar darüber, wie ihr künftiges Leben sein sollte, und er wagte es nicht, seine Mutti danach zu fragen, die manchmal in ihren Gedanken ganz weit entfernt schien. Er war vorerst einfach glücklich, dass sie sich nie mehr zu trennen brauchten. Das hatte sie ihm versichert, und sie wiederholte es immer wieder, wenn er sie danach fragte.
Dass Stine gestorben war, hatte Janice ihm schonend beigebracht. Robin konnte sich zwar nicht vorstellen, dass er sie nie mehr sehen würde, aber Stine war alt gewesen, und wenn die Menschen alt wurden, mussten sie von dieser Welt gehen. Robin wusste das. Manchmal mussten sie auch gehen, wenn sie noch jung waren, weil Gott es so wollte. Diese Weisheit hatte Stine ihm mitgegeben. Aber welches glückliche Kind dachte schon daran? Und Robin war ein glückliches Kind, wenn er auch noch nicht jenen überschäumenden Übermut zeigte, den andere Kinder seines Alters besaßen.
Stine hatte also die weite Reise angetreten, von der es keine Wiederkehr mehr gab. Aber wie weit würden sie noch reisen müssen, um endlich ein richtiges Zuhause zu finden?
Daran dachte Robin oft, doch nur manchmal sprach er auch darüber, weil er immer hoffte, dass seine Mutti von selbst davon anfangen würde.
Wenn sie am Wiesenhang saßen oder am See, liebte es Robin, seinen Kopf in den Schoß seiner Mutti zu legen und vor sich hinzuträumen. Janice hatte dabei jedes Mal das wunderliche Gefühl, ihn noch in sich zu tragen. Die Zeit wurde ihr wieder gegenwärtig, als sie voller Verwunderung erkannt hatte, dass sie ein Kind erwartete.
Es war seltsam gewesen, denn sie war immer überzeugt gewesen, dass sie niemals Mutter werden würde. Vielleicht lag das in ihrer früheren Kindheit begründet, als ihre Mutter nur für sie da gewesen war und manchmal lange gute Gespräche mit ihr geführt hatte. Dabei hatte sie ihr erklärt, dass ein Kind dann entstünde, wenn zwei Menschen sich liebten. Ein Mann und eine Frau.
Aber Janice hatte nie einen Mann geliebt. Immer war sie auf der Flucht gewesen vor diesen rauen, brutalen Kerlen. Sie war schon voller Abwehr gewesen, wenn einer auch nur die Hand nach ihr ausgestreckt hatte.
Aber auch ihren Mann hatte Janice nicht geliebt. Jedenfalls nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Und dennoch hatte sie ein Kind von ihm empfangen.
Neugierde hatte sie zuerst bewegt. Viel später erst war ein Gefühl des Glücks hinzugekommen, als sich das Kind zu regen begonnen hatte. Von da an hatte Janice gewusst, dass sie nun nicht mehr allein war.
Eigentlich hatte sie sich ein Mädchen gewünscht, weil sie geglaubt hatte, dass es anschmiegsamer, zärtlicher sein würde, und in ihr brannte doch so viel Zärtlichkeit, die sie nicht loswerden konnte.
Aber dann hatte sie einen Sohn bekommen, an einem eisigen Wintertag. Ein heftiger Sturm hatte hohe Schneewehen bis zum Haus getrieben und sie wie in einer Festung eingeschlossen. Niemand konnte aus dem Haus, das Telefon war unterbrochen.
Stine hatte bei ihr gesessen und ihre Hand gehalten. Sie hatte sich immer wieder gewundert, dass Janice nicht schrie. Janice aber hatte sich gewundert, warum es wehtun sollte. Nein, es hatte nicht wehgetan. Sie war so voller Erwartung gewesen, wie das Kind aussehen würde, dass sie nicht den leisesten Schmerz verspürt hatte. Nur ganz zum Schluss hatte sie leise aufgeschrien, aber dieser Schrei war schon voller Jubel gewesen.
Für Malte dagegen mussten es entsetzliche Stunden gewesen sein, denn er hatte ganz grau und eingefallen ausgesehen, als er zu ihr gekommen war. Sie hatten einen Sohn. Janice war glücklich gewesen und hatte nicht geahnt, dass mit diesem Ereignis erneut ein Leidensweg für sie beginnen sollte.
Hatte Cora bis dahin nur mit Spott kritisiert, dass ihr eigenbrötlerischer Bruder eine so junge Frau geheiratet hatte, begann sie nun über Janice herzufallen. Nur mit dem Kind hätte sich Janice den Mann geködert, und wer wüsste denn, ob Malte der Vater sei.
So hatte es begonnen, und viel schlimmer war es weitergegangen, als Cora in Janices Vergangenheit geforscht hatte.
Ein schwerer Seufzer entrang sich jetzt Janices Brust. Sofort rückte Robin noch enger an sie heran.
»Woran denkst du, Muttilein?«, erkundigte er sich leise. »An Thomas? Ob er schon ein Haus für uns gefunden hat?«
An Thomas wollte sie im Moment nicht denken. Endlich hatte sie ihren Sohn, und es kam ihr schändlich vor, dass sie sich so nach dem Mann sehnte.
»Willst du denn, dass Thomas immer bei uns bleibt?«, fragte sie mit verhaltener Stimme.
»Willst du es denn nicht?«, fragte er verwundert zurück.
»Er hat seinen Beruf. Er muss wieder arbeiten, und wir würden ihn dabei vielleicht stören«, erwiderte sie ausweichend.
»Wir haben ihn früher doch auch nicht gestört«, meinte Robin.
Nein, so wie früher sollte es nicht wieder werden, denn sie hatten sich fast nur bei den Mahlzeiten gesehen. Jetzt müsste es ein Miteinander sein, ein Ineinanderaufgehen, dachte sie.
Aber darunter würde vielleicht Robin leiden.
Er musste an erster Stelle stehen, denn er brauchte sie. Er wäre vor Sehnsucht nach ihr fast gestorben. Das hatte sie zutiefst erschüttert.
»Wir sind jetzt schon ziemlich lange hier«, stellte Robin fest.
»Vier Wochen«, bestätigte Janice.
»Es ist schön hier. Würdest du immer hier leben wollen, Muttilein?«
Wollte sie es? Manchmal wünschte sie es sich, wenn der tiefe Friede sie umgab und sie von hoch droben auf die Seen hinabschaute. Aber dann wieder wurde ihr bewusst, dass es nicht darauf ankam, wo sie lebte, sondern darauf, dass Thomas dieses Leben mit ihr teilte. Nur dann konnte sie vollends glücklich sein.
Fast erschrocken zuckte sie bei diesem Gedanken zusammen. Glaubte sie wirklich daran, dass sie einmal vollends glücklich sein würde?
Und Robin? Wollte er Thomas in ihr Leben einbeziehen, weil er an ihm hing, oder nur, weil er fürchtete, dass ein anderer Mann kommen würde? Es war Janice nicht entgangen, dass er sich jedes Mal fest an sie klammerte, wenn ein Mann sie anschaute oder gar ansprach.
»Wie stellst du es dir eigentlich vor, wenn wir mit Thomas in einem Haus leben würden«, fragte sie forschend.
»Wie früher«, erwiderte er. »Wie denn sonst?«
»Es geht aber nicht so, Robin.«
»Warum nicht?«
»Jetzt sind wir allein«, erklärte sie. »Auch Stine ist nicht mehr da.«
»Aber das macht doch nichts!«
Wie sollte sie ihm nur klarmachen, dass es doch etwas ausmachte, und vor allem, dass Thomas mit dem Zustand, wie er früher gewesen war, auch nicht zufrieden sein würde?
»Weißt du, Mutti, Thomas muss ja zu uns ziehen, damit ein Mann im Hause ist«, fuhr Robin fort. »Sonst kommt womöglich ein anderer, der dich heiraten will, und damit bin ich nicht einverstanden.«
Sie brachte es nicht fertig zu sagen, dass auch Thomas sie heiraten wollte. Das sollte er ihm selbst sagen, wenn er es noch immer wollte. Manchmal kamen ihr daran Zweifel. Vier Wochen waren sie getrennt, aber er hatte ihr nur zweimal kurz geschrieben.
*
Viele Häuser wurden Thomas angeboten, aber keines war darunter, dass ihm zusagte. Manchmal war er schon ganz verzweifelt. Die Trennung von Janice zerrte an seinen Nerven. Ein Brief und ein paar Ansichtskarten war alles, was er in diesen Wochen von ihr hatte.
Auf seine Arbeit konnte er sich nicht konzentrieren, und manchmal kam sie ihm jetzt völlig sinnlos vor. Malte hatte ihn früher immer angetrieben und ihn mit seiner Besessenheit angesteckt. Doch jetzt war er der Ansicht, dass es ein Unterfangen gewesen war, das von zwei Menschen allein nicht bewältigt werden konnte. Ein Team, das aufeinander abgestimmt war und dazu auch moderne technische Möglichkeiten hatte, wäre wohl schon weiter gewesen. Aber konnte man überhaupt mit einem Erfolg rechnen?
Jedenfalls konnte er so nicht mehr weiterarbeiten. Er musste sich eine Stellung suchen, wenn er heiraten und eine Familie gründen wollte. Dann trug er ja nicht mehr für sich allein die Verantwortung.
Eine Stellung fand er schneller als ein Haus. Eines Tages brachte ihm die Post ein fantastisches Angebot.
Als er wenige Tage später die große pharmazeutische Fabrik besichtigte, brauchte er nicht lange zu überlegen. Alles entsprach seinen Vorstellungen. Diese Chance konnte er sich nicht entgehen lassen.
Doch nun schien ihm das Schicksal besonders geneigt zu sein, denn gleich darauf fand er in der Nähe seines neuen Arbeitsplatzes ein Haus, das ihm vorschwebte. Das Haus für Janice, ihn und Robin.
Es war ein zauberhaftes Haus. Er sah Janice schon in der Tür stehen, ihn erwartend, wenn er eilig heimkam. Ja, immer würde er es eilig haben, zu ihr zu kommen. Und eilig machte er auch den Kauf perfekt.
*
»Jetzt wird es auch hier langsam Herbst«, sagte Robin zu seiner Mutter. Seine Augen schweiften dabei sehnsüchtig in die Ferne. »Wann fahren wir heim, Mutti?«
Heim? Wo war ihr Zuhause? Wo war es für Robin?
»Wir könnten ja zuerst in unserem alten Haus wohnen, wenn Thomas noch kein neues gefunden hat«, schlug Robin vor.
»Nein«, erwiderte sie so bestimmt, dass er erschrocken zusammenzuckte.
»Was wollen wir dann damit machen?«, erkundigte er sich scheu.
»Ich denke, Cora wird es übernehmen.«
»Cora?«, fragte Robin aggressiv. »Du willst es ihr geben? Wo sie so hässlich zu dir war?«
»Ich will Frieden, Robin.«
»Mir ist ja alles recht, was du tust, wenn wir nur nicht mehr mit ihnen zusammenkommen müssen. Die Kinder werden es aber weit zur Schule haben, wenn sie dort wohnen«, überlegte er. »Ob sie noch in Sophienlust sind?«
»Ich denke, dass sie noch einige Zeit dort bleiben werden«, vermutete Janice.
»Ich wusste gar nicht, dass Melanie und Andreas so nett sind«, sinnierte Robin. »Man muss sie nur näher kennenlernen.«
»Man sollte sich immer bemühen, die Menschen erst kennenzulernen, bevor man über sie urteilt.«
»Ich werde mich bemühen, Mutti«, erwiderte Robin zugänglich. »Du, guck mal, wenn mich nicht alles täuscht, ist das Thomas’ Auto.«
Janices Herz begann stürmisch zu klopfen. Ja, es war sein Auto, und nun kam er auch schon den Weg herauf. Robin lief ihm entgegen, wurde von ihm aufgefangen und durch die Luft geschwenkt. Aber seine Augen waren auf Janice gerichtet, die in der Haustür stehen geblieben war.
Dann legten seine Arme sich um sie, sein Mund war dicht an ihrem Ohr.
»Ich habe ein Haus gefunden und will euch jetzt holen«, murmelte er. »Und eine Stellung habe ich auch.«
»Eine Stellung?«, staunte Robin. »Wozu brauchst du eine Stellung. Kannst du denn nicht zu Hause arbeiten?«
»Ein Mann, der eine Familie ernähren muss, braucht auch eine Stellung«, belehrte ihn Thomas lächelnd.
»Willst du denn eine Familie haben? Du hast doch uns«, meinte Robin.
»Seid ihr etwa keine Familie«, lachte Thomas.
Robin sah ihn gedankenvoll an. »Eine Familie, das sind Vater, Mutter und Kinder. Du brauchst eine Frau.«
»Aber die habe ich doch schon gefunden! Wir brauchen nur noch zu heiraten. Oder willst du etwa nicht, dass ich deine Mutti heirate?«
Robin drehte sich um. »Nein, das will ich nicht«, erwiderte er trotzig. »Ich will sie mit niemandem teilen.«
Thomas war blass geworden, Janice begann zu zittern.
»Aber du hattest doch nichts dagegen, dass wir miteinander leben«, sagte Thomas fassungslos.
»Das ist etwas anderes«, stellte Robin fest. »Du wohnst in dem Anbau, und wir sehen uns beim Essen und gehen manchmal miteinander spazieren. Aber die übrige Zeit gehört Mutti mir.«
»Das neue Haus hat aber keinen Anbau«, meinte Thomas. Vergeblich bemühte er sich, mit Janice allein zu sprechen. Robin wich nicht von ihrer Seite. Eifersüchtig bewachte er sie, und nur manchmal tauschten sie über seinen Kopf hinweg einen Blick.
»So habe ich es mir allerdings nicht vorgestellt«, seufzte Thomas.
*
Dass sie das neue Haus doch bezogen, nahm Robin hin, weil es ihm gefiel. Es entsprach ganz seinen Vorstellungen, nur der Anbau fehlte, aber dafür hatte Thomas ja die Mansardenwohnung ganz für sich.
»Kommt Zeit, kommt Rat«, dachte Thomas noch immer optimistisch.
Aber im Grunde genommen war es nun doch genau wie früher. Er konnte nicht mit Janice leben, er musste neben ihr leben. Sie wagten es nicht, auch nur die kleinsten Zärtlichkeiten auszutauschen, da Robin immer und zu jeder Zeit auftauchen konnte.
Doch dann kam Robin zur Schule, und damit veränderte sich vieles für ihn.
Es beruhigte ihn, dass Thomas zur gleichen Zeit mit ihm das Haus verließ und viel später als er heimkam. Unbefangen beteuerte er seiner Mutter, dass es doch sehr gut ginge. War es nur Trotz und kindlicher Egoismus, oder war es die Folge der Trennung von seiner Mutter, die ihn diese als seinen ureigensten Besitz betrachten ließ? Janice konnte sich darüber nicht klarwerden, sie wusste nur, dass sie selbst auf die Dauer dabei unglücklich werden würde und Thomas ebenso.
Eines Morgens, kaum dass er Robin zur Schule gebracht hatte, stand Thomas wieder vor ihr.
»Jetzt kommt es schon so weit, dass ich meine Arbeitszeit verlegen muss, wenn ich dich mal in die Arme nehmen will«, sagte er heiser. »Wie lange soll das noch so weitergehen, Janice?«
»Robin wird sich eines Tages damit abfinden. Er wird größer und vernünftiger. Er bekommt Abstand. Man muss ihm Zeit lassen.«
»Zeit lassen«, wiederholte er. »Wie viel Zeit? Ich sehne mich nach dir, Janice. Wir haben doch ein Anrecht auf unsere Liebe, auf eine erfüllte Liebe.«
Hatte sie ein Anrecht darauf? Musste sie sich nicht doch entscheiden? Aber das hätte dann nur eine Entscheidung gegen Thomas sein können. Doch das konnte sie nicht. Sie warf sich in seine Arme und klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende.
»Ich liebe dich, ich liebe dich«, sie sagten es beide wie aus einem Mund, und ihre Lippen fanden sich in sehnsüchtigem Verlangen.
Thomas bedeckte ihr tränenüberströmtes Gesicht mit zärtlichen Küssen, bevor er sie verließ.
»Wir werden heiraten, Janice«, versicherte er. »Nichts kann uns trennen, auch Robin nicht.«
*
Robin hatte einen Freund. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er einen richtigen Freund, wollte man von Dominik absehen, der ja älter gewesen war als er. Aber jetzt hatte er einen Freund, der genauso alt war wie er, der auf der Schulbank neben ihm saß und der sogar in seiner Nähe wohnte. Manchmal äußerte Robin jetzt auch den Wunsch, mit ihm zu spielen. Janice aber hatte nicht das Geringste dagegen einzuwenden, dass Daniel ihn besuchte. Er war ein netter, kleiner Kerl, und sie spielten sehr friedlich miteinander.
»Ich mag Dan gern, bist du deshalb böse, Mutti?«, fragte Robin eines Tages.
»Warum sollte ich böse sein?«, wunderte sie sich.
»Weil ich so viel mit ihm beisammen bin.«
»Ich freue mich, dass du einen Spielgefährten hast«, erwiderte sie und hegte dabei nicht nur selbstlose Gedanken.
»Ich soll ihn auch mal besuchen. Seine Mutti ist sehr nett. Du musst sie kennenlernen. Nur …« Er geriet ins Stocken.
»Warum sprichst du nicht weiter?«, fragte sie.
»Sie denken, dass Thomas mein Vater ist, dass ihr verheiratet seid«, platzte er heraus.
»Aber du hast Dan doch inzwischen sicher gesagt, dass es nicht so ist.«
»Nein, das mag ich eben nicht. Ich weiß auch gar nicht, wie ich ihm das erklären soll. Wir heißen doch alle Rodeck, und da müssen die Leute ja denken, dass wir eine Familie sind. Wenn du Daniels Mutti kennenlernst, sagst du ihr dann, wie es wirklich ist?«
»Tu es doch selbst! Du bist doch schon ein großer Junge«, erwiderte Janice.
»Ich mag es aber nicht sagen«, beharrte er, »und ich möchte auch gar nicht so gern, dass du sagst, dass Thomas oben wohnt. Wir haben noch einen Jungen in der Klasse, dessen Mutter mit einem Mann lebt, mit dem sie nicht verheiratet ist. Und da sagen viele, dass sich das nicht gehört.«
»Aber du wolltest doch nicht, dass Thomas mich heiratet.«
»Wenn ich es mir nun anders überlegt habe?«, fragte er leise.
»Nur, weil die Leute reden könnten?« Janice wollte diesmal nicht lockerlassen, bis er sich ganz ausgesprochen hatte.
»Nicht nur wegen der Leute. Ich habe doch jetzt einen Freund, und das ist eigentlich ungerecht, weil ich immer gesagt habe, dass wir beide ganz für uns sein wollen. Immer wenn ich zu Dan gehe und du allein bist, habe ich ein schlechtes Gewissen.«
Es war zwar eine etwas undurchsichtige Logik, aber Janice wusste, was er ihr damit zu verstehen geben wollte. Sie hoffte, dass nun alle Konflikte eine Lösung finden würden.
»Es mag ja sein, dass Thomas mich jetzt gar nicht mehr heiraten will«, sagte sie dann doch, um ihn auf die Probe zu stellen.
»Du meinst, weil in der Fabrik so hübsche junge Damen sind?«
»Sind auch hübsche junge Damen da?«, fragte Janice mit leiser Eifersucht. Es fiel ihr plötzlich ein, dass Thomas manchmal ziemlich spät heimkam. Ob es auch Robin aufgefallen war?
»Ich werde Thomas fragen«, entschloss sich Robin. »Aber wenn er dich noch immer heiraten will, dann wirst du ihn doch auch heiraten? Es wäre sehr peinlich, wenn er plötzlich eine andere Frau ins Haus bringen würde. Was soll ich dann zu Dan sagen?«
»Das ist ein bisschen schwierig«, stellte Janice belustigt fest, »aber ich glaube nicht, dass Thomas eine andere Frau ins Haus bringt.«
»Man kann seine Meinung doch ändern, Mutti?«, fragte Robin kleinlaut.
»Gewiss. Man soll niemals aus Trotz auf einem Standpunkt beharren, das habe ich dir ja schon oft gesagt.«
An diesem Abend fand Robin zu seinem großen Bedauern keine Gelegenheit, mit Thomas zu sprechen, da dieser infolge einer Konferenz erst sehr spät heimkam. Und am nächsten Tag sollte ihn eine Begegnung in große seelische Bedrängnis bringen.
Wie immer ging er nach der Schule zusammen mit Daniel nach Hause. Da kam ihnen eine sehr hübsche junge Dame entgegen. Freundlich lächelte sie den Kindern zu.
»Guten Tag, Dan! Na, da lerne ich deinen neuen kleinen Freund ja auch mal kennen. Du bist Robin Rodecke?«
Robin nickte verblüfft. Die Dame war wirklich ungewöhnlich hübsch und reizend. Doch noch bevor Dan etwas sagen konnte, lief sie schon weiter.
»Das ist Marianne, Muttis Schwester«, erläuterte Dan. »Sie ist Sekretärin bei deinem Vati.«
Robin wurde es ganz heiß. »Bei meinem Vati?«, stotterte er und hätte sich in der Erregung fast verraten.
»Hat er noch nichts von ihr erzählt?«, erkundigte sich Daniel. »Sie ist hübsch, nicht wahr? Sie hat neulich gesagt, dass dein Vati ihr gut gefällt. Aber leider wären alle netten Männer schon vergeben, meinte sie.«
Robin hielt es für ungeheuer wichtig, jetzt etwas zu unternehmen. Für so wichtig, dass er auf die nachmittäglichen Verabredungen mit seinem Freund Dan verzichten wollte.
»Kommt Thomas heute wieder später?«, fragte er seine Mutter.
»Ich denke nicht«, erwiderte Janice verwundert, da Robin sich noch nie danach erkundigt hatte.
»Warum geht ihr eigentlich nicht mal aus?«, erkundigte sich Robin.
»Warum sollten wir ausgehen? Wir haben es doch zu Hause sehr gemütlich.«
»Aber Thomas arbeitet abends oft noch.«
»Er behält seine alten Gewohnheiten bei. Weißt du, er hat am Anfang natürlich sehr viel zu tun, und er hat ja auch viel Verantwortung.«
»Und eine sehr hübsche Sekretärin«, entfuhr es Robin.
Janice verbiss sich ein Lächeln. Sie wusste, dass Thomas eine sehr hübsche Sekretärin hatte, aber sie wusste ebenso gut, dass sie nicht das Geringste zu befürchten hatte. Doch Robin sollte ein wenig zappeln. Das tat ihm ganz gut, nachdem er ihnen eine so lange Geduldsprobe auferlegt hatte.
»Darf ich heute etwas später zu Dan gehen?«, fragte Robin, und weil das eine glatte Lüge war, errötete er. Er wollte nämlich gar nicht zu Dan, er wollte zur Fabrik, um festzustellen, ob Thomas mit der hübschen Marianne schon ausging.
»Wenn du nicht zu spät heimkommst«, stimmte sie zu. »Nächste Woche werde ich Daniels Mutter einmal einladen.«
Er warf ihr einen schrägen Blick zu. Es eilte wirklich, dass er die Angelegenheit in Ordnung brachte, überlegte er.
Zur Fabrik war es nicht sehr weit, aber mit dem Auto kam einem alles viel kürzer vor. Robin begann zu laufen, um Thomas nur ja nicht zu verpassen.
Schon kamen Gruppen von Angestellten die Straße entlang, doch zu seiner Erleichterung entdeckte Robin den Wagen von Thomas noch auf dem Fabrikhof. Dann sah er ihn auch selbst. Tatsächlich kam er an der Seite der hübschen Marianne aus dem Gebäude.
Zorn und Empörung erfassten Robin, aber auch eine Spur Verzweiflung, weil er sich schuldig fühlte. Entschlossen drängte er sich an Thomas heran, der ihn erstaunt betrachtete.
»Robin, ja, wo kommst du denn her?«, fragte er verblüfft.
»Ich muss dir was sagen. Deshalb habe ich dich abgeholt«, flüsterte Robin.
»Wir kennen uns ja schon«, sagte die hübsche Marianne, und Thomas verabschiedete sich: »Na, dann bis morgen, Fräulein Eichner.«
Er sagte wenigstens noch Fräulein und Sie zu ihr und nannte sie nicht bei ihrem Vornamen. Das beruhigte Robin ein wenig.
»Das ist aber eine Überraschung, Robin«, schmunzelte Thomas. »Hast du was ausgefressen. Traust du dich nicht, es Mutti zu sagen?«
»Ich habe nichts ausgefressen. Ich mache Mutti keinen Kummer«, erwiderte er und betonte das Ich.
»Dann ist es ja gut. Da werden wir mal schnell heimfahren.«
»Nicht so schnell«, wehrte Robin ab. »Ich habe eine ganze Menge mit dir zu reden.«
»Dann schieß los«, sagte Thomas erwartungsvoll.
»Du hast eine sehr hübsche Sekretärin«, begann Robin, um das, was ihn am meisten bedrückte, vorwegzunehmen.
»Findest du?« Es klang belustigt.
»Du hast auch eine Bombenstellung, nicht wahr? Das hat Dan gesagt.«
»Ich bin zufrieden. Besser konnte ich es nicht treffen«, erwiderte Thomas und wurde nun doch ein wenig argwöhnisch. Was bezweckte Robin mit diesen Fragen?
»Damals, bevor wir herkamen, wolltest du Mutti doch heiraten. Willst du das jetzt auch noch?«
Was mochte der Junge wohl hören wollen? Ein Ja oder ein Nein? Thomas wollte nichts falsch machen. Ob mit oder ohne Robins Einverständnis wurde nächste Woche geheiratet. Das stand fest.
»Worüber machst du dir Gedanken?«, fragte er vorsichtig.
»Alle denken, du bist mein Vati«, begann Robin erneut. »Mir wär’s ja viel lieber, Mutti hätte mit dir gesprochen, aber sie hat gesagt, dass ich das selbst tun muss. Es ist gar nicht so einfach.«
»Mir kannst du alles sagen, Robin. Ich bin dein Freund!«
»Mir wäre es aber lieber, wenn du mein Vater wärst, weil sie es sowieso alle denken. Mutti hat auch gesagt, dass man seine Meinung ändern kann.«
Thomas strich ihm mit der Hand über die Wange.
»Ich freue mich sehr, dass du deine Meinung geändert hast, Robin«, sagte er leise. »Ich möchte Janice nämlich sehr bald heiraten.«
»Warum hast du das denn nicht schon längst gesagt?«, seufzte Robin. »Dann hätte ich mir doch nicht so viel Sorgen zu machen brauchen.«
»Ich wusste ja gar nicht, dass du dir Sorgen gemacht hast. Ich wollte es nicht ganz mit dir verderben. Ist nun alles gut?«
»Ja, alles ist gut.«
Das dachte auch Janice, die schon unruhig nach Robin Ausschau hielt und glücklich lächelte, als die beiden dem Auto entstiegen.
»Ich habe dich beschwindelt, Mutti«, rief Robin rasch, »ich war nicht bei Dan. Ich habe Thomas abgeholt, weil ich noch etwas Wichtiges mit ihm zu besprechen hatte. Nun heiratet ihr.«
Verlegen stahl er sich davon, als Thomas und Janice sich in die Arme sanken.
Seine Welt war nun ganz in Ordnung. Er war zufrieden.
*
»Thomas hat Janice geheiratet«, sagte Cora Berger zu ihrem Mann. Ihre Stimme war klanglos, und ihr Gesicht blieb ausdruckslos. So war sie seit jener Nacht, in der Stine zu ihren Füßen gestorben war.
»Ich dachte mir, dass es einmal dazu kommen würde«, erwiderte er ruhig. »Ist sonst noch Post gekommen?«, fragte er.
»Ein amtliches Schreiben«, antwortete sie. Ein ängstlicher Ausdruck war dabei in ihren Augen.
Er öffnete es, und seine Augen weiteten sich erstaunt. »Es ist die Mitteilung, dass Maltes Haus auf deinen Namen überschrieben wurde, Cora.«
Noch immer zeigte ihr Gesicht keine Regung. »Was sollen wir jetzt mit einem Haus«, sagte sie, und plötzlich strömten Tränen über ihre Wangen. »Die Kinder wollen ja doch lieber in Sophienlust bleiben.«
»Es ist nun eine ganze Zeit vergangen, Cora«, sagte er mahnend.
»Wechsle nicht von einem Extrem ins andere. Wir sind übereingekommen, unsere Ehe fortzuführen und das Bestmögliche daraus zu machen. Wir werden nun auch wieder daran denken, die Kinder zu uns zu nehmen.«
»Warum hat Janice mir das Haus nun doch überschreiben lassen?«, fragte sie mehr zu sich selbst.
»Was soll sie damit? Es ist vollgestopft mit Erinnerungen, die sie nur belasten.«
»Sie hätte es verkaufen können.«
»Was sie auch immer dazu bewegt hat, warum sollen wir es nicht annehmen? Du wolltest es doch haben. Davor brauchst du die Augen nicht zu verschließen, Cora. Wir müssen auf unsere Weise damit fertig werden.«
»Du hast mich nicht im Stich gelassen«, murmelte sie.
»Mein Gott, verlieren wir darüber doch nicht so viele Worte!«, wehrte er ab. »Jeder Mensch hat seine Fehler. Ich werde die Kinder bald nach Hause holen.«
*
Auch in Sophienlust war die Heiratsanzeige von Thomas und Janice eingetroffen und hatte große Freude ausgelöst. Eine andere Nachricht bereitete Denise jedoch Sorgen. Walter Berger hatte ihr mitgeteilt, dass es nun an der Zeit sei, die Kinder wieder ins Elternhaus zurückzuholen.
Max nahm es gleichmütig hin. »Es musste ja mal so kommen«, sagte er nur.
Melanie und Andreas aber begehrten auf. Was erwartete sie daheim?
»Wir haben nun mal Eltern und können nicht ewig hierbleiben«, redete Max seinen Geschwistern zu. »Wir können doch froh sein, dass sie sich nicht scheiden lassen«, fuhr er fort. »Mama ist auch ganz anders geworden als früher.«
»Ihr könnt ja jederzeit wiederkommen«, räumte Dominik großmütig ein. »Max hat schon recht. Kinder gehören nun mal zu ihren Eltern.«
»Man müsste sich seine Eltern aussuchen können«, dachte er weiter. So, wie es bei ihnen gewesen war: Sascha und Andrea hatten sich seine Mutti gewünscht, und er sich ihren Vater.
Robin hätte er schon arg gern einmal wiedergesehen, aber der schien keine Sehnsucht nach Sophienlust zu haben. Das gab es also auch, wenn Dominik es auch nicht recht begreifen konnte.
Als Walter Berger dann kam und die Kinder bemerkten, dass er nur mit Mühe die Fassung bewahren konnte, als er sie in seine Arme schloss, verstummte jeder Widerspruch.
»Es war sehr schön. Danke für alles!«, flüsterte Andreas und umarmte Frau Rennert scheu, während Melanie stumm die aufsteigenden Tränen hinunterschluckte.
»Sie haben nette Kinder, Herr Berger«, versicherte Dominik. »Wir haben uns wirklich gut verstanden.«
»Wir werden es Mama leicht machen, nicht wahr?«, meinte Herr Berger befangen, als sie davonfuhren. »Wenn jeder guten Willen zeigt, geht alles.«
»Das haben wir in Sophienlust auch immer gesagt«, nickte Melanie, die jetzt die Sprache wiedergefunden hatte.
»Es war schon ganz prima«, äußerte sich Max. »Ich hätte nie gedacht, dass ein Kinderheim so schön sein kann.«
»Wenn wir nur auch einen Garten für uns allein hätten«, seufzte Andreas.
»Wir könnten jetzt das Haus von Onkel Malte beziehen«, erwiderte Walter Berger verlegen.
»Warum können wir es haben?«, fragte Max.
»Janice hat es Mama überschreiben lassen.«
»Das finde ich aber sehr anständig«, bemerkte Max. »Was sagt Mama denn dazu?«
»Ihr werdet sie sehr verändert finden. Es ist nicht gut, wenn es immer so still in der Wohnung ist.«
»Da hatte sie gar nichts zu schimpfen«, meinte Andreas naiv. »Hat sie vergessen, wie man schimpft?«
»So ungefähr.«
Max rutschte unbehaglich hin und her. »Das wird einem aber komisch vorkommen. Mir ist es lieber, wenn sie mal schimpft, als wenn man sie gar nicht mehr erkennt.«
Nein, so kannten sie ihre Mutter noch nicht, so still und geistesabwesend. Ganz scheu betrachteten sie sie immer wieder. Und dann sahen sie, dass sie sich verstohlen ein paar Tränen aus den Augen wischte.
»Papa hat gesagt, dass du froh bist, wenn wir wieder zu Hause sind«, wagte Melanie endlich eine Bemerkung.
»Ich bin auch wirklich froh.«
»Warum lachst du dann nicht?«, wunderte sich Andreas.
»Habt ihr mich denn noch ein bisschen gern?«, fragte sie stockend.
»Na klar, du bist doch unsere Mutter«, erwiderte Max verlegen. Dann fuhr er energisch fort: »Wenn wir in Onkel Maltes Haus ziehen, muss aber viel verändert werden. Ich hab’ schon zu Papa gesagt, dass ich es sehr anständig von Janice finde. Sie ist gar nicht so, wie du dachtest, nicht wahr, Mama?«
Cora Berger senkte den Kopf. »Hütet euch davor, anderen Menschen wehzutun«, antwortete sie ernst.
Andreas nickte eifrig. »Das haben wir schon in Sophienlust gelernt.«
*
Robin fand das neue Leben herrlich. Allzu viel hatte sich eigentlich nicht geändert, nur schöner war das Leben geworden, weil er nun abends manchmal noch zu seinen Eltern ins Bett kriechen konnte.
Oft schlief er dabei ein, und Thomas musste ihn dann in sein Bett tragen. Robin hatte das sehr gern, denn einen so jungen und starken Vati zu haben, erfüllte ihn mit großer Zufriedenheit.
Nur dass Stine das nicht mehr erleben konnte, schmerzte ihn manchmal sehr.
Sie hatten ein herrliches Weihnachtsfest gefeiert, und danach war sein siebenter Geburtstag ein überwältigendes Erlebnis, denn seine Eltern besuchten mit ihm und seinem Freund eine Zirkusvorstellung.
Alles war herrlich, nur die Ponys genügten nicht ganz seinen Ansprüchen. Die von Sophienlust wären schöner, stellte er fest. Und einen Papagei, der so sprechen konnte wie Habakuk, besaßen sie nicht mal in diesem großen Zirkus.
Diese Äußerungen stimmten Janice nachdenklich, denn immer öfter sprach Robin nun von Sophienlust, während alles andere aus seinem Gedächtnis zu verschwinden schien.
»Wenn Vati Zeit hat, könnten wir doch einmal nach Sophienlust fahren«, meinte er eines Tages. »Wir sollten doch Stines Grab besuchen, meinst du nicht, Muttilein?«
»Wenn du willst«, erwiderte Janice. »Wir könnten in den Osterferien hinfahren.«
Das taten sie dann auch, denn Thomas war sofort einverstanden gewesen.
Diesmal kam kein stiller, verschlossener Robin nach Sophienlust, sondern ein übermütiger Junge, der alle früheren Gefährten freudig begrüßte.
Denise von Schoenecker war nun restlos überzeugt, dass ein sehr trauriges Kapitel in der Geschichte von Sophienlust einen glücklichen Abschluss gefunden hatte.
Auf Stines Grab blühten Tulpen und Narzissen in lichter Fülle. »Ihr hat es gleich so gut hier gefallen«, überlegte Robin. »Sie wird froh sein, dass sie hierbleiben konnte.«
Dass sie einmal gegangen und dann als Tote zurückgekehrt war, hatte man ihm verschwiegen.
»Darf ich einmal zu euch kommen, wenn Mutti und Vati allein verreisen wollen?«, bat er Dominik.
»Du kannst immer kommen, das weißt du ja«, versicherte ihm dieser ernsthaft. »Wer weiß, wie viel Kinder bis dahin noch kommen und gehen werden. Man lernt so viele kennen, aber manche hat man einfach lieber als andere.«
Robin verstand ihn. Er betrachtete jetzt alles mit anderen Augen, weil er wusste, dass er sich nie mehr von seiner Mutti zu trennen brauchte.
Janice Rodecks Leidensweg war zu Ende. Nichts war davon geblieben als der gleiche Name, den sie nun heiteren Gemütes tragen konnte. Ob Malte Rodeck das vorausgesehen hatte? Ob er ihr den Weg dafür ebnen wollte?
Er hatte sie geliebt auf seine Weise. Sie wusste es jetzt und bewahrte ihm eine dankbare Erinnerung.
Als sie weiterfahren wollten, war Robin wieder einmal verschwunden. Diesmal brauchten sie ihn allerdings nicht lange zu suchen. Mit Nick stand er vor Habakuks Bauer, und der sang krächzend: »Kommt ein Vogel geflogen.«
Wer konnte es Janice verdenken, dass ihr nun doch die Tränen in die Augen stiegen? Für Sekunden war ihr ein anderer Tag gegenwärtig, an dem sie dieses Lied aus Kinderkehlen gehört hatte.
»Es warrr sehrrr schön, auf Wiedersehn«, schnarrte Habakuk ihnen nach. »Komm zurück … Nick …, komm zurück!«
»Ich bleibe ja da«, sagte Dominik.
Und Thomas, Janice und Robin winkten, bis Sophienlust ihren Augen entschwand.