Читать книгу Sophienlust Paket 1 – Familienroman - Diverse Autoren - Страница 31

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Der letzte Schein der untergehenden Sonne tauchte die hellen Möbel des Kinderzimmers in ein rosiges Licht. In der Ecke zwischen Ofen und Wand kauerte Malu. Sie drückte ihr Gesicht gegen das schwarzgraue Fell des Wolfsspitzes, den sie mit den Armen fest umschlungen hielt.

»Ach, Benny, ich fürchte mich so. Gut, dass du wenigstens bei mir bist. Warum muss Mutter immer mit Vati streiten? Er ist doch so lieb und so gut.«

Malu zuckte zusammen, als jetzt eine Tür mit lautem Knall ins Schloss fiel. Die Stille, die der vorangegangenen lauten Auseinandersetzung folgte, war fast noch bedrohlicher als der Streit.

Benny versuchte aus Malus Umklammerung herauszukommen. Er fiepte leise vor sich hin.

»Ob sie jetzt weggegangen ist, Benny?«, flüsterte Malu. »Gehst du mit mir nachsehen?«

Sie ließ den Hund frei und erhob sich. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür und öffnete sie einen Spalt.

Kein Laut war zu hören. Malu lief, gefolgt von Benny, zum Wohnzimmer. Leise drückte sie die Klinke nieder. Sie atmete auf, als sie sah, dass ihr Vater allein war.

Daniel Kollberg stand am Fenster. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck tiefen Kummers. Er drehte sich um, als er nun Malus Stimme hinter sich hörte und versuchte den Ernst mit einem Lächeln wegzuscheuchen.

»Vati, ist sie weg?«, fragte Malu. »Wir haben uns sehr gefürchtet, Benny und ich.«

Daniel Kollberg trat rasch auf seine Tochter zu. Er legte den Arm um die Schulter des Mädchens.

»Ja, wir sind allein, Malu. Es wird sich alles ändern.«

»Mutter ist für immer gegangen?« Malus Stimme zitterte leicht. Wenn sie auch von ihrer Mutter wenig Liebe erfahren hatte, so traf es sie doch, dass diese weggegangen war, ohne ihr Lebewohl zu sagen.

»Ja, Malu. Ich glaube, dass es so am besten ist. Sie hat sich doch immer von uns fortgesehnt. Ich will jetzt versuchen, dir Vater und Mutter zugleich zu sein.«

Malu schluckte. Dann lächelte sie tapfer. »Mit dir ist es am schönsten, Vati. Und vielleicht finden wir eine neue Mutti. Weißt du, so eine, die dich und mich richtig lieb hat, und Benny auch. Eine Mutti, die will, dass man sie lieb hat, und die nie, nie weggehen würde.«

Daniel Kollbergs Griff um Malus Schulter wurde fester. Das Kind war alles, was ihm geblieben war von der großen Liebe, von dem heißen Wunsch, dass seine Ehe gut und unzerbrechlich sein möge. Doch das Schicksal hatte es anders gewollt. Seine Frau war einfach gegangen. Zu dem anderen Mann, der ihr mehr bieten konnte, und mit dem sie schon bald ins Ausland reisen würde. Bis zuletzt hatte er um Malus willen versucht, seine Ehe aufrechtzuhalten. Doch dann hatte er schließlich einsehen müssen, dass der ständige Streit für das Kind schlimmer war, als wenn es künftig keine Mutter mehr hatte.

»Ich glaube, mein Schätzchen, das ist gar nicht so einfach. Ich denke, es wird besser sein, wenn wir beide für uns bleiben. Ich komme abends immer ganz bald vom Büro nach Hause, und dann haben wir Zeit füreinander.«

»Ja, Väterchen, und ich kann immer alles aufräumen. Und Spiegeleier und Bratkartoffeln kann ich ja auch machen. Vielleicht lerne ich noch was dazu.«

Daniel musste trotz seines Kummers lächeln, als er Malus ernsthaftes Gesicht sah.

»Du glaubst nicht, dass ich es lernen kann?«, fragte Malu. Sie war ein bisschen beleidigt, weil sie ihren guten Willen so verkannt sah. »Ich bin ja nicht mehr so klein. Schließlich bin ich schon zwölf Jahre alt.«

»Ich bin davon überzeugt, dass du es lernen würdest, Schätzchen. Du bist aber trotz deiner zwölf Jahre noch ein kleines Mädchen. Du sollst spielen, und fröhlich sein, wenn du deine Schulaufgaben gemacht hast. Ernsthafte Pflichten kommen noch früh genug auf dich zu. Wir werden genau überlegen, wie wir alles einteilen. Hast du mit Benny schon den Abendspaziergang gemacht?«

Malu schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Ich habe mich ja nicht aus meinem Zimmer herausgetraut. Kommst du mit uns? Das wäre fein.«

Benny raste bellend zur Tür, als er sah, dass sein kleines Frauchen den Wintermantel anzog.

»Pst, Benny. Mach doch nicht so’n Krach«, belehrte ihn Malu ernsthaft. »Du weißt doch, Vati bekommt so leicht Kopfweh. Und dein Gebell ist ja wirklich nicht das allerschönste.«

Benny verstummte sofort. Doch er legte den Kopf schief und warf Malu einen anklagenden Blick zu. Seine buschige Rute wedelte aufgeregt.

»Siehst du, du glaubst es mir ja nie. Aber Benny versteht wirklich alles, was ich zu ihm sage. Da hast du jetzt den besten Beweis.«

»Ich habe nie daran gezweifelt, dass Benny der allerklügste Hund ist, den es gibt. Komm jetzt, wir wollen ihn nicht länger warten lassen.«

Sie verließen die Wohnung und stiegen die vielen ausgetretenen Stufen hinab. Draußen war es nasskalt. Ein unfreundlicher Wind wehte.

Es schnitt Daniel Kollberg ins Herz, dass er auch in diesem Winter nicht genügend Geld gehabt hatte, um Malu den längst benötigten neuen Wintermantel zu kaufen. Er wünschte sich sehnlichst, dass er wenigstens einmal Glück im Lotto haben möge. Es müsste ja nicht gleich eine halbe Million sein. Nur gerade so viel, dass er Malu mal ein bisschen verwöhnen könnte. Ein paar tausend Euro vielleicht. Seine Frau hatte ihm so oft vorgehalten, dass er ein Versager sei, dass er allmählich selbst daran glaubte. Er würde ewig der kleine Buchhalter bleiben. Der wirtschaftliche Aufschwung war an ihm vorbeigegangen, es war für ihn nur ein Wort.

Der stechende Schmerz im Rücken, den Daniel Kollberg in der letzten Zeit schon öfter gespürt hatte, zwang ihn jetzt dazu stehen zu bleiben. Malu, die mit Benny ein Stück voraus war, wandte sich um.

»Was hast du, Vati? Ist dir nicht gut?«

Sie kam zurück und fasste nach der Hand des Vaters. Angst stand in ihren schönen grünen Augen, die so durchsichtig und klar schimmerten wie ein Bergwasser.

Daniel zwang sich zu einem Lächeln. »Es ist nichts weiter, Schätzchen. Mein Rücken tut mir mal wieder weh.«

»Komm, wir gehen nach Hause. Benny hat seine Geschäfte erledigt. Du legst dich ins Bett, und ich mache dir eine Wärmflasche. Vielleicht wäre auch Kamillentee gut.«

Daniel spürte den Schmerz so stark, dass er am liebsten aufgeschrien hätte. Doch er wollte Malu nicht noch mehr beunruhigen.

*

»Aber das ist doch auf die Dauer kein Zustand, Daniel?«

Malu wollte nicht lauschen. Doch Tante Helmas schrille, laute Stimme drang bis in den letzten Winkel der kleinen Wohnung.

»Möchtest du mir sagen, was ich daran ändern soll, Helma?«

Daniel Kollberg sah seine Schwester fragend an. Er hatte sich noch nie sonderlich gut mit ihr verstanden. Seit sie damals eine sogenannte gute Partie gemacht hatte, fühlte sie sich über ihre beiden Geschwister erhaben. Ihr Mann, der ein hoher Beamter gewesen war, war vor wenigen Jahren verstorben und hatte seiner Witwe und seinem Sohn eine stattliche Pension hinterlassen. Dazu kam noch ein beträchtliches Vermögen von der Familie ihres Mannes. Doch sie hatte ein kaltes Herz und dachte nur an sich.

»Du siehst aus, als seist du schwer krank«, stellte Helma herzlos fest. »Wenn du auch noch Hausmann spielst, wirst du eines Tages zusammenklappen. Du musst Marie-Luise fortgeben.«

»Fortgeben?« Daniel sah seine Schwester ungläubig an.

»Ja! Mach doch nicht gleich so ein Gesicht, als würde deshalb die Welt untergehen. Eines Tages musst du dich sowieso von ihr trennen. Sie wird heiraten oder so was. Da kommt es doch nicht darauf an, ob sie schon jetzt in einem Heim oder so lebt.«

»In einem Heim oder so«, wiederholte Daniel. »Du kannst doch gleich sagen, was du meinst: Waisenhaus! Denn woher sollte ich wohl das Geld nehmen für ein Internat oder so was. Es ist ja reizend von dir, dass du dir den Kopf über unser Wohlergehen zerbrichst. Doch was ich tue, das musst du schon mir überlassen.«

»Jetzt bist du schon wieder beleidigt. Dabei habe ich es doch nur gut gemeint.«

»Ich weiß. Du meinst immer alles nur gut. Du hast doch auch ein Kind. Würdest du dich von ihm trennen?«

»Ich bitte dich. Bei uns ist das doch etwas anderes. Hans ist sehr sensibel, und schließlich war sein Vater ein ordentlicher, charaktervoller Mensch. Wer weiß, ob Marie-Luise nicht genauso wird wie ihre …«

»Jetzt ist es genug, Helma«, unterbrach Daniel seine Schwester barsch. »Du musst mich jetzt entschuldigen. Ich habe Malu versprochen, einen Spaziergang mit ihr zu machen.«

»Bitte, wenn du meine Sorge nicht anerkennst«, meinte Helma spitz. »Das hat man davon, wenn man sich um andere Leute Gedanken macht.« Sie pflückte mit spitzen Fingern ein Hundehaar von ihrem Kleid. »Und dieser grässliche Köter! Dass du das erlaubst, dass er überall herumspringt? Hunde sind Krankheitsträger, und es ist bodenlos leichtfertig, einem Kind zu erlauben, so ein Tier herumzutragen und womöglich noch mit ins Bett zu nehmen.«

Daniel war zur Tür gegangen und öffnete sie.

»Wiedersehen, Helma.«

»Ich gehe schon«, rief sie empört. »Du brauchst mich nicht erst hinauszuwerfen.«

Daniel atmete erleichtert auf, als die Korridortür hinter ihr zufiel. Was sich Helma so dachte.

Als ob er sich von Malu trennen würde. Sie allein gab seinem Leben Inhalt und Freude.

»Malu«, rief er. »Malu, komm doch. Wir wollen gehen.«

Von Malu kam keine Antwort, und Daniel ging in ihr Zimmer hinüber.

Malu lag auf dem Bett. Ihre schmalen Schultern bebten vor Schluchzen, und Benny saß neben ihr und stieß sie immer wieder mit der Schnauze an.

»Warum weinst du, Schätzchen?« Daniel hob ihr tränenüberströmtes Gesicht zu sich empor.

Malu schluckte. »Ich hasse sie! Sie ist böse. Wie kann sie nur deine Schwester sein, Vati? Wirst du tun, was sie gesagt hat? Muss ich von dir weggehn? Und Benny …«

Wieder begann sie zu schluchzen.

»Glaubst du wirklich, dass ich mich von dir trennen würde, Malu? Und was Benny für dich ist, das weiß ich doch auch. Tante Helma hat doch nicht über uns zu bestimmen. Sie bildet sich nur ein, dass sie sich in alle Dinge einmischen könnte. Komm, putz dir die Nase, und weine nicht mehr.«

Er hatte ein Taschentuch genommen und wollte es Malu reichen. Doch dann besann er sich eines andern. Er tupfte ihr behutsam die Tränen von Augen und Wangen und hielt ihr das Tuch dann vor die Nase, so, wie er es früher gemacht hatte, als sie noch ein kleines Kind war.

»Na also. Jetzt hast du wieder blanke Augen, Schätzchen. Und nun wirst du ganz schnell das dumme Gerede von Tante Helma vergessen.«

»Ich wollte, ich hätt’s nicht gehört. Aber sie schreit so laut, dass man alles mitkriegt, auch wenn man nicht lauschen will.«

Daniel nickte. »Ich weiß, Malu. Doch sobald wird sie sicher nicht wiederkommen. Hast du noch Lust auf unsern Spaziergang?«

Malu sah zum Fenster. Es schneite in dichten Flocken.

»Vielleicht wär’s auch ganz schön, wenn wir Halma spielten oder Dame. Dein Rücken tut dir doch immer weh, wenn du spazieren gehst. Und ich möchte nicht, dass du Schmerzen hast.«

»Also gut, dann bleiben wir hier. Ich stelle uns Äpfel in die Bratröhre, die lassen wir brutzeln und bestreuen sie nachher mit Zucker und Zimt. Das magst du doch.«

Einträchtig saßen sie danach beisammen.

Daniel bereitete es sichtlich Vergnügen zu sehen, mit welchem Feuereifer Malu bei der Sache war.

*

Der nächste Tag war ein Samstag. Daniel hatte keinen Dienst, und Malu musste nicht in die Schule.

Das Kind war schon zeitig aufgestanden. Leise wie ein Mäuschen schlich sich Malu in die Küche und bereitete das Frühstück zu. Heute wollte sie Vatilein einmal verwöhnen. Wenn sie in die Schule ging, dann stand er immer als Erster auf.

Sie deckte den Tisch im Wohnzimmer und stellte den Kaffee unter die Haube. Dann weckte sie den Vater.

»Du hast das wirklich gut gemacht«, lobte Daniel sie, als sie sich das Frühstück schmecken ließen. »Einen so guten Kaffee koche ich nicht einmal.«

Dabei dachte er bekümmert daran, dass Malu die doppelte Portion Kaffeepulver verbraucht hatte. Bis zum Gehaltsempfang waren noch einige Tage, und er besaß doch nur noch ein paar Euro.

Später räumten sie gemeinsam die kleine Wohnung auf. Es war kurz vor dem Mittagessen, als es klingelte.

Malu machte die Tür auf und flog mit einem Jubelruf Tante Irene um den Hals. Dann begrüßte sie ihre Kusine Hilde, die schon eine hübsche junge Dame war.

»Das ist fein, dass ihr kommt. Vatilein, Tante Irene und Hilde sind da!«

Irene Walters war Daniels älteste Schwester. Sie war das genaue Gegenteil von Helma. Doch leider durfte sie das nur zeigen, wenn ihr Mann nicht dabei war. Kurt Walters war ein Tyrann, vor dem Irene und Hilde zitterten. Seiner Wesensart nach hätte er viel besser zu Helma gepasst. Aber Irene liebte ihn, und so ordnete sie sich willig unter.

»Hilde, pack doch bitte die Tasche aus. Vielleicht kann Malu dir dabei helfen. Da ist ja auch Benny.«

Sie beugte sich hinab und tätschelte den Hund, der dann Hilde begrüßte.

»Ich habe euch ein paar Konserven und noch einiges mitgebracht«, sagte Irene zu Daniel, als sie mit ihm im Wohnzimmer war.

»Danke, Irene. Was sagt denn Kurt dazu?«

»Der braucht ja nicht alles zu wissen«, tat Irene seine Frage ab. »Ich weiß doch, dass du es gebrauchen kannst. Hast du denn die Scheidung nun bald hinter dir?«

Daniel nickte. »Ich denke, dass sie in der nächsten Woche ausgesprochen wird. Du weißt ja, dass sie es sehr eilig hatte. Ich hätte mich nicht so lange dagegen sträuben sollen.«

Irene sah den Bruder mitleidig an. Sein Gesicht war eingefallen, und unter seinen Augen lagen tiefe Schatten.

»Das sagst du jetzt. Aber man hofft doch immer, dass sich wie durch ein Wunder alles ändert. Wie findet sich Malu in alles? Weiß sie eigentlich, dass die Trennung endgültig ist?«

»Ich spreche nicht mit ihr darüber. Doch sie ist ja nicht mehr so klein. Und außerdem hat ihre Mutter alles getan, um Malus kindliche Liebe in Abwehr zu verwandeln. Wenn du so willst, dann sind wir beide jetzt glücklich und zufrieden.«

Irene zweifelte daran, dass Daniel glücklich war. Doch er würde sich damit abfinden, dass man nichts erzwingen konnte. So wie sie sich damit abgefunden hatte, dass sie Kurt nicht ändern konnte.

»Hm, das sind leckere Sachen«, meinte Malu, als sie die Aufschriften auf den einzelnen Dosen sah. »Lieb von Tante Irene, dass sie uns so was schenkt. Du riechst fein, Hilde.«

»Das ist Kölnisch Wasser, Malu. Ich würde ja lieber mal ein richtiges Parfüm benutzen, doch das erlaubt Vater nicht.«

»Aber du bist doch schon erwachsen! Du gehst doch nicht mehr in die Schule, sondern arbeitest«, meinte Malu verwundert. »Ich wollte, ich wäre auch schon groß. Dann könnte ich Vati viel mehr helfen und auch Geld verdienen, damit wir ein bisschen mehr hätten. Dass man überhaupt so viel Geld braucht. Es wäre doch viel besser, wenn alle Leute gleich viel hätten.«

»Besser wär’s schon, Malu. Aber leider ist es nun mal nicht so.«

Tante Irene und Hilde blieben zum Mittagessen. Daniel hatte einen großen Topf Erbsensuppe gekocht, der eigentlich für den nächsten Tag hatte reichen sollen. Doch dank Irenes Güte hatte er ja jetzt wieder einen kleinen Vorrat.

*

Malu war gerade aus der Schule gekommen. Benny begrüßte sie mit freudigem Gebell und rannte dann zu seiner Futterschüssel. Er fraß immer erst, wenn Malu zu Hause war.

Malu erschrak, als es läutete. Bevor sie die Tür öffnete, legte sie erst die Sicherheitskette vor. Ihr Vater hatte ihr das eingeschärft.

»Mach auf, Kind. Deinem Vater ist schlecht geworden. Ich habe ihn nach Hause gebracht.«

Malus Knie schlotterten, als sie hinter dem großen Mann ihren Vater sah. Er war ganz bleich und sah so aus, als würde er jeden Augenblick umfallen. Malu beeilte sich, die Kette wegzunehmen, und öffnete die Tür weit. Dann lief sie zum Schlafzimmer und riss auch hier die Tür auf. Sie schlug die Bettdecke zurück.

Daniel Kollberg atmete schwer, doch er bemühte sich, Malu beruhigend zuzulächeln.

»Nur ein kleiner Schwächeanfall, Schätzchen. Der wird bald vorübergehen.«

»Vergiss nicht, den Arzt zu bestellen, Kollberg«, sagte sein Kollege. »Wenn du mir die Adresse gibst, dann fahre ich eben vorbei.«

»Ich gebe Ihnen die Adresse«, sagte Malu. Sie dachte an den netten Doktor, der gleich um die Ecke wohnte und der ihr mal den Hals ausgepinselt hatte, als sie so schlimm erkältet gewesen war. »Soll ich Ihnen eine Tasse Kaffee machen?«, fragte sie, weil sie auch schon gehört hatte, wenn jemand zu Besuch gewesen war.

»Nein, lass nur, kleines Fräulein. Ich muss gleich wieder weg. Schreib mir die Adresse bitte auf.«

Malu tat das und brachte den Kollegen des Vaters zur Tür.

»Vielen Dank auch, dass Sie sich so lieb um Vati gekümmert haben«, sagte sie wohlerzogen.

Als sie die Tür hinter ihm geschlossen hatte, lief sie gleich zu ihm.

»Bleib noch einen Augenblick draußen, Malu. Ich will mich ausziehen. Ich rufe dich dann.«

Malu ging niedergeschlagen in die Küche.

»Was mag Vatilein denn nur fehlen, Benny? Sicher hat er zu viel gearbeitet. Meinst du, dass er bald wieder gesund wird?«

Benny wedelte mit dem Schwanz.

»Ich bete für Väterchen. Und wenn ich morgen in die Schule gehe, dann bringe ich dem heiligen Antonius eine Kerze. Er wird sicher helfen.«

»Wau«, machte Benny, und Malu war überzeugt, dass er derselben Ansicht war wie sie.

»Ich komme, Vati«, rief sie, als sie des Vaters Stimme hörte.

Daniel Kollberg hatte sich einen frischen Schlafanzug genommen. Obwohl er bis zum Hals zugedeckt war, fror er.

»Ich mache dir einen heißen Tee, Väterchen. Dann wird dir auch wärmer. Und ich lasse die Türen auf, dann kommt Wärme aus der Küche. Wie geht es dir denn jetzt?«

»Schon wieder viel besser, Schätzchen. Ich glaube, das ist eine Grippe. Du solltest besser nicht so nahe an mich herankommen, sonst stecke ich dich auch an.«

»Nein, nein, ich werde nicht krank. Was sollte wohl aus Benny werden, wenn wir beide im Bett liegen müssten? Der Doktor kommt sicher ganz bald und macht dich wieder gesund.«

»Bestimmt, Schätzchen.«

Malu setzte Wasser für Tee auf. Dann kam der Arzt.

Dr. Kramer tätschelte ihre Wangen, rief Benny ein freundliches Wort zu und verschwand dann im Schlafzimmer, dessen Tür er fest hinter sich zuzog.

»Welche Beschwerden haben Sie, Herr Kollberg?«

»Es muss so eine Art Schwächeanfall gewesen sein, Herr Doktor. Ich hatte in der letzten Zeit privat sehr viel Aufregung. Möglich, dass sich das so niedergeschlagen hat.«

»Hm. Kann sein. Muss aber nicht. Schmerzen haben Sie keine?«

»Hin und wieder Stiche im Rücken. Doch die gehen dann wieder vorüber.«

Dr. Kramer hatte seine Tasche geöffnet und nahm das Stethoskop heraus. Er horchte Daniel ab und untersuchte ihn gründlich.

»Sie müssen ein paar Tage liegen bleiben, Herr Kollberg. Und dann kommen Sie zu mir in die Praxis. Ich kann Sie hier nicht so untersuchen, wie es erforderlich ist.«

»Was fehlt mir denn? Ist es etwas Ernstes? Ich war doch immer gesund! Ich kann es mir einfach nicht erlauben, krank zu sein. Wer sollte sich um Malu kümmern?«

»Jetzt sind Sie krank und brauchen vor allem Ruhe, Herr Kollberg. Ihre Malu ist ja ein vernünftiges kleines Mädchen. Für ein paar Tage kommt sie ohne Ihre Hilfe aus. Ich schreibe Ihnen etwas auf. Das nehmen Sie bitte nach Vorschrift. Übermorgen komme ich wieder. Und bitte, bleiben Sie wirklich liegen. Wenn Sie meine Anordnung nicht befolgen, dann wird der nächste Zusammenbruch ärger sein. Falls Sie mich brauchen, schicken Sie bitte Malu zu mir.«

»Hängt mein Zustand mit diesen Rückenschmerzen zusammen, Herr Doktor?« Daniel sah den Arzt forschend an.

»Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Die weitere Untersuchung wird uns Klarheit bringen. Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Kollberg.«

Er drückte Daniel die Hand und ging. Malu und Benny begleiteten ihn. Das Kind wollte die Medikamente für den Vater aus der Apotheke holen.

Daniel lag da und starrte die Decke an. Was würde nun werden? Und vor allem, wer würde sich um Malu kümmern, wenn er wirklich ernsthaft krank werden sollte? Wenn er vielleicht sogar ins Krankenhaus musste?

Daniel Kollberg stöhnte leise auf. Er war sich seiner Ohnmacht dem grausamen Schicksal gegenüber klar bewusst.

Arme kleine Malu. Ihr junges Leben hatte bisher weiß Gott unter keinem guten Stern gestanden. An sich selbst wollte Daniel gar nicht denken. Seine unglückliche Ehe hatte irgendetwas in ihm zerbrochen. Und er wünschte so sehr, dass Malu es einmal besser habe, dass sie auch Sorglosigkeit und Freude kennenlerne.

Er schloss die Augen. Schwäche und Müdigkeit überwältigten ihn. Bald schlief er ein und hörte nicht, dass Malu zurückkehrte.

Malu hatte ein winziges Sträußchen Schneeglöckchen bei der Blumenfrau an der Ecke erstanden. Als sie sah, dass ihr Vati die Augen geschlossen hatte, zog sie sich behutsam zurück.

Sie spürte, dass sie hungrig war. In der Aufregung hatte sie das Essen völlig vergessen. Sie nahm den Topf mit dem Rest Suppe vom Vortag aus dem Kühlschrank und erhitzte sie. Doch als sie heißhungrig die Suppe löffelte, fiel ihr ein, dass der Vater ja auch noch nichts gegessen hatte. Sie musste ihm etwas von der Suppe aufheben. Sie wusch das Geschirr ab und setzte sich dann an ihre Schularbeiten. Sie war sehr stolz darauf, dass sie aufs Gymnasium gehen und fremde Sprachen lernen durfte. Und es war ihr Ehrgeiz, fleißig zu sein und so ihre Dankbarkeit zu beweisen.

»Malu, Schätzchen, bist du da?«

»Ich bin hier, Vati. Ich komme.«

Malu nahm das Glas, in das sie die Schneeglöckchen gestellt hatte, und lief ins Schlafzimmer hinüber.

»Die hab ich dir mitgebracht,Väterchen. Hoffentlich freust du dich.«

»Sie sind wunderschön, Malu.« Daniel hatte so ein dummes Würgen im Hals.

»Du bist ein liebes Kind. Ich danke dir auch.«

»Geht es dir schon etwas besser, Väterchen? Ich habe dir Suppe aufgehoben und mache dir ein Butterbrot dazu. Möchtest du auch Tee?«

»Ein Schluck Suppe und ein Butterbrot würden mir guttun. Anschließend kann ich auch meine Medikamente nehmen. Jetzt hast du auch noch so viel Arbeit mit mir.«

Malu winkte ab. »Das darfst du nicht sagen, Vatilein. Ich tue doch alles gern für dich. Wie viel hast du schon für mich getan, und ich hab es überhaupt nicht gemerkt. Wenn du willst, dann lese ich dir nachher was vor. Ich habe meine Schularbeiten schon fertig.«

»Das wird wohl zu anstrengend für mich sein. Ich bin sehr müde, Schätzchen. Und ich will doch schnell wieder gesund werden, damit …« Er verstummte. Er wollte Malu keine Angst machen. Es war ihm klar, dass er sie fortgeben musste, wenn er länger bettlägerig sein sollte.

Malu wachte wie eine Krankenschwester darüber, dass der Vater alles aufaß und auch den Tee trank, den sie doch noch gekocht hatte. Da es inzwischen dunkel geworden war, zog Malu die Vorhänge zu und strich die Kissen glatt.

»Wirst du gleich schlafen, Väterchen?«

»Ich denke schon. Am besten gehst du auch bald ins Bett. Ich erlaube dir, noch eine Stunde zu lesen.«

»Danke, Vati. Schlaf gut. Und wenn du mich brauchst, dann rufe bitte ganz laut. Ich werde Benny sagen, dass er mich wecken soll, wenn ich es nicht höre.«

Sie schmiegte ihre Wange an die des Vaters und küsste ihn.

»Und recht gute Besserung wünsche ich dir. Gute Nacht, Vatilein.«

*

»Siehst du, Benny. Der heilige Antonius hat geholfen. Und der liebe Gott hat auch meine Gebete erhört. Sonst wäre Vatilein bestimmt nicht so schnell wieder gesund geworden.«

»Blaff«, machte Benny und legte den Kopf schief.

»Jetzt leg dich aber brav in dein Körbchen. Ich habe hier eine sehr kniff­lige Mathematikaufgabe zu lösen. Und Vati kommt bald nach Hause, da möchte ich doch fertig sein.«

Zur gleichen Zeit sah Daniel Kollberg immer wieder auf die hohe Summe, die auf dem Scheck stand. Noch begriff er nicht ganz, dass endlich das eingetreten war, wovon er so lange geträumt hatte. Er hatte im Lotto gewonnen.

Seine Hände waren kalt vor lauter Aufregung.

»Bitte, ich möchte nicht, dass das mit meinem Gewinn bekannt wird, Herr Direktor«, sagte er zu dem Chef des Lotterieunternehmens.

»Ich habe nicht die Absicht, mein Leben zu ändern. Das Geld soll einmal meiner kleinen Tochter gehören. Und sie soll es erst bei ihrer Volljährigkeit erhalten.«

»Das liegt ganz bei Ihnen, Herr Koll­berg. Wir geben keinerlei Auskünfte über die Hauptgewinner. Am besten richten Sie sich zunächst bei einer neuen Bank ein extra Konto ein, worauf Sie Ihren Scheck einzahlen. Dann ist jedes Gerede von seiten Ihrer Hausbank ausgeschlossen. Ich wünschte, dass auch andere so vernünftig wären wie Sie. Aber leider, Geld ist eine verführerische Angelegenheit. Viele Leute glauben, dass man sich mit ein paar tausend Euro die ganze Welt kaufen und außerdem bis in alle Ewigkeit davon sorglos leben kann.«

»Ich weiß zu genau, wie es ist, wenn das Geld nie reicht. Ich werde bestimmt nicht leichtsinnig mit dem Gewinn umgehen. Natürlich werde ich für Malu ein paar hübsche Dinge kaufen, das eine oder andere, was sie schon längst nötig hatte. Und Benny soll endlich ein hübsches Lederhalsband und eine dazu passende Leine haben. Aber ich will Sie nun nicht länger aufhalten, Herr Direktor. Vielen Dank noch mal.«

Daniel barg den kostbaren Scheck in seiner abgewetzten Brieftasche, nahm seinen Hut und verließ das Büro.

Er beschloss, das Konto in der Bank an der Ecke zu eröffnen, an der er jeden Tag vorüberkam.

Man behandelte ihn sehr aufmerksam und zuvorkommend, als er die Höhe der Summe nannte, die er einzahlen wollte. Er überlegte lange, wie viel er abheben sollte, und entschied sich dann für tausend Euro, die er sich in kleineren Scheinen auszahlen ließ.

Auf dem Heimweg kaufte er zuerst einmal den hübschen roten Pullover und die dazu passende Mütze, Dinge, die er schon lange im Schaufenster bewundert hatte. Er wusste, dass Malu sich sehr darüber freuen würde. Dann kaufte er noch ein paar delikate Lebensmittel ein und beeilte sich danach, nach Hause zu kommen.

Er war nur noch ein paar Schritte von seinem Wohnhaus entfernt, als er wieder den Stich im Rücken verspürte. Er lehnte sich kurze Zeit gegen die Mauer eines Hauses und wartete, bis der Schmerz abgeklungen war. Zu Dr. Kramer war er noch nicht gegangen. Doch jetzt würde er es schnell nachholen. Jetzt, wo er das viele Geld besaß, konnte er etwas für seine Gesundheit tun. Und wenn er in die Klinik musste, war er jetzt dazu in der Lage, Malu in einem guten Kinderheim unterzubringen, in dem man vielleicht auch gegen Benny nichts einzuwenden hatte.

Malu erspähte den Vater vom Fenster aus. Sie war schon unruhig, weil er später kam als sonst. Noch immer hatte sie den Schock nicht überwunden, den ihr die plötzliche Krankheit des Vaters verursacht hatte.

Sie öffnete die Tür, lief ihm ein paar Treppen entgegen und streckte die Hände aus, um ihm die Päckchen abzunehmen.

»Lass nur, Schätzchen. Das muss ich selbst tragen. Da sind nämlich Überraschungen drin. Guten Abend, übrigens.«

»Guten Abend, Vati.«

Malu spitzte ihre Lippen und gab dem Vater einen Kuss.

»Was hast du für Überraschungen? Ist es etwas Schönes?«

»Nicht neugierig sein, du kleiner Naseweis. Sonst ist es doch keine Überraschung mehr.«

Sein Atem ging schnell. Das Reden und das Treppensteigen hatten ihn angestrengt.

In der Wohnung setzte er sich zuerst mal auf einem Küchenstuhl und ruhte sich aus.

Nein, er musste morgen wirklich zu Dr. Kramer gehen. Irgendetwas würde der Arzt bestimmt tun können.

Malu nahm ihm den Mantel und den Hut ab und hing beides an die Garderobe. Dann kam sie wieder zurück und sah mit großen erwartungsvollen Augen auf die Pakete auf dem Küchentisch. Benny saß auf den Hinterbacken und starrte ebenfalls die Pakete an. Seine rosige Zunge glitt immer wieder blitzschnell über die schwarze Schnauze. Man sah ihm an, dass ihm das Wasser im Maul zusammenlief.

»Da werde ich euch wohl nicht mehr länger auf die Folter spannen können«, lächelte Daniel.

»Das ist ja wie Weihnachten. Genauso aufregend. Ganz so, als ob das Christkind jeden Augenblick mit dem Glöckchen läuten würde.«

»Noch ein paar Minuten, dann ist es so weit«, versprach Daniel. Er nahm die Pakete an sich und ging ins Wohnzimmer.

»Du musst hierbleiben, Benny«, sagte Malu. »Für dich soll es ja auch eine Überraschung sein.«

Der Hund ließ die Ohren hängen, als Malu ihn festhielt.

Schließlich hatte er die köstlichen Düfte geschnuppert, die aus einem der Pakete kamen.

Malu schrie auf, als sie den Pullover und die Mütze sah, dann fiel sie dem Vater um den Hals. Daniel schluckte die Rührung hinunter. Er ließ sich von Malu umarmen.

»Ich muss ihn gleich anziehen! Hier, Benny, schau doch nur, so ein schöner Pullover, und dazu die passende Mütze!«

Doch diesmal fesselte Benny die große Wurst, die ihm Daniel in kleine Stücke geschnitten in seinem Napf auf den Boden gestellt hatte, entschieden mehr als der Ruf seiner kleinen Freundin.

»Wie schön«, sagte Malu andächtig, als sie sich im Spiegel betrachtete. »Nun bin ich genauso fein wie die Marlies aus unserer Klasse. Du weißt schon, der Vater von ihr hat ein großes Lederwarengeschäft. Wieso haben wir denn plötzlich so viel Geld?«

»Darüber sollst du dir nicht den Kopf zerbrechen. Ich habe Überstunden gemacht, und die bekomme ich ausbezahlt. Das ist das ganze Geheimnis. Zufrieden, Fräulein Neugier?«

Malu hatte einen roten Kopf bekommen.

»Ich wollte nicht neugierig sein. Entschuldige.«

»Schon gut, Schätzchen. Wenn du dich im Spiegel genug angeschaut hast, dann könnten wir vielleicht essen. Ich habe auch Krabbensalat mitgebracht.«

Krabbensalat aß Malu für ihr Leben gern.

Doch es gab ihn höchst selten. Mal zu Weihnachten oder zu Ostern, oder wenn sie Geburtstag hatte. Die Überstunden mussten wirklich gut bezahlt worden sein.

Malu deckte den Tisch und schrie noch ein paarmal vergnügt auf, als sie entdeckte, welche Köstlichkeiten ihr Vater mitgebracht hatte.

Und dass er für Benny das schöne Halsband und die Leine gekauft hatte, die sie in der Auslage immer so bewundert hatte, freute sie genauso wie ihr hübscher Pullover.

Sie betete an diesem Abend sehr lange und innig zum lieben Gott und flehte ihn an, dass er ihren Vati beschützen möge.

Wie gut, dass sie nicht ahnte, wie drohend der dunkle Schatten schon über ihrem Leben schwebte.

*

Daniel Kollberg saß mit sehr gemischten Gefühlen im Wartezimmer Dr. Kramers. Er war in der vergangenen Zeit mehrmals hier gewesen, da eine Unmenge von Einzeluntersuchungen notwendig gewesen waren. Und heute sollte er das Ergebnis erfahren.

Er blätterte in einer Illustrierten, legte sie aber gleich wieder zur Seite, weil er die vielen freizügigen Aufnahmen schon nicht mehr ansehen konnte.

»Guten Abend, Herr Kollberg. Bitte, nehmen Sie doch schon Platz.«

Dr. Kramer stand beim Waschbecken und wusch sich die Hände. Es dauerte eine Weile, bis er zum Schreibtisch kam und Platz nahm.

»So, jetzt habe ich jede Menge Zeit für Sie, Herr Kollberg. Rauchen Sie eine Zigarette mit mir?«

»Danke, gern.«

Daniel gab Dr. Kramer Feuer und zündete dann seine eigene Zigarette an. Gespannt wartete er darauf, dass der Arzt zu sprechen begänne.

»Sie machen mir Kummer, Herr Kollberg.«

Dr. Kramer versuchte vergeblich, einen scherzhaften Ton in seine Stimme zu legen. Schließlich musste er in seiner Praxis immer wieder die Patienten über ihren wahren Zustand hinwegtäuschen. Doch bei Daniel Kollberg war das etwas anderes. Er hatte eine Tochter. Und diese Tochter besaß niemanden auf der Welt als ihren Vater. Er durfte ihm die Wahrheit einfach nicht verschweigen. Nur, es war schwierig vorauszusagen, wie der Patient darauf reagieren würde.

Dr. Kramer blickte auf und begegnete Daniel Kollbergs Blick.

»Ich hatte schon eine so unbestimmte Angst in mir, Herr Doktor«, sagte Daniel schwer. »Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit. Was muss ich tun, um wieder gesund zu werden?«

Erich Kramer liebte seinen Beruf. Doch es gab immer wieder Stunden, in denen er es verwünschte, Arzt geworden zu sein. In denen es ihm unendlich schwerfiel, dem ahnungslosen Patienten zu sagen, was er wusste. So viel er in solchen Momenten auch nach möglichst schonenden Worten suchte, im Endeffekt waren sie alle gleich. Sie sagten alle dasselbe aus: hoffnungslos, zu weit vorgeschritten.

»Ich fürchte, Herr Kollberg«, begann Dr. Kramer jetzt, »dass dieser Zeitpunkt schon überschritten ist. Wenn Sie eher gekommen wären, viel eher, dann hätte ich Ihnen vielleicht noch helfen können. Aber jetzt …«

Daniel Kollberg fühlte sich wie in Eis getaucht. Blitzschnell huschten allerlei Gedanken durch seinen Kopf. Vorstellungen, wie sich seine letzten Tage abspielen würden. Und über allem stand beherrschend die Angst um Malu.

»Ich kann es Ihnen nicht verschweigen, Herr Kollberg, weil ich glaube, dass Sie die Wahrheit vertragen können, und weil Sie so noch alles für Ihr Kind vorbereiten können.«

»Es war gut, dass Sie so offen zu mir gesprochen haben, Herr Doktor. Ich … habe letzthin einen Lotteriegewinn gemacht. Könnte eine Operation oder eine Kur mein Leben verlängern? Ich wollte dieses Geld unangetastet lassen, für Malu. Doch unter diesen Umständen …«

»Es fällt mir schwer, Ihnen sagen zu müssen, dass jede Hilfe zu spät kommt. Natürlich können Sie sich noch von einem Kollegen untersuchen lassen.«

»Ich habe Vertrauen zu Ihnen, Herr Doktor. Wozu soll ich mir mein Todesurteil zweimal bestätigen lassen? Trotzdem bin ich Ihnen dankbar dafür, dass Sie offen zu mir sind. Wie lange …, ich meine, wann wird es so weit sein?«

»Das ist schwer zu sagen. Es kann noch ein halbes Jahr dauern, vielleicht auch länger, oder vielleicht nicht so lange. Die Krankheit verläuft individuell völlig verschieden.«

Daniels Gesicht war so grau wie Lehm. Sekundenlang überkam ihn eine wilde Panik, eine verzweifelte Angst vor dem Tod, vor dem dunklen Nichts, aus dem es keine Rückkehr gab. Dann ebbte diese Erregung ab. Das Leben hatte ihn schon oft vor Tatsachen gestellt, die unabänderlich gewesen waren und in die er sich hatte fügen müssen. Dies würde die letzte sein.

»Mir bleibt wenigstens noch genügend Zeit, alles zu ordnen. Doch der Gedanke an Malu zerreißt mir fast das Herz. Sie ist ein so liebes und vernünftiges Kind, aber das Leben ist bisher nicht besonders liebevoll mit ihr verfahren. Mutterliebe hat sie nie kennengelernt. Und nun wird sie auch auf die ihres Vaters verzichten müssen.«

Dr. Kramer sah mitleidig auf den Mann, der vor ihm saß.

»Haben Sie keine Verwandten mehr, Herr Kollberg? Menschen, bei denen Malu ein neues Zuhause finden könnte?«

»Verwandte?« Daniel sah den Arzt an, als wache er aus einem schweren Traum auf. »Ja, doch, ich habe zwei Schwestern. Die eine ist kaltherzig und egoistisch, die andere, die sich bestimmt gern um Malu kümmern würde, hat einen hartherzigen Tyrannen zum Mann. Ich möchte Malu weder in der einen noch in der anderen Umgebung sehen. Aber das Waisenhaus …, ein schrecklicher Gedanke.«

Er senkte den Kopf und sah auf seine Hände, die wie im Krampf ineinander verschlungen waren.

Wie eine Vision erschien vor Dr. Kramer Gut Sophienlust. Das weiträumige schlossähnliche Haus, der große Park mit dem zauberhaften Teich, auf dem Seerosen schwammen und über dem Libellen im Sonnenlicht schillerten. Der große Gartenpavillon, aus dem das heitere Lachen der Kinder klang, wenn sie dort spielten. Das wäre ein Platz, an dem auch Malu geborgen und geliebt aufwachsen könnte, dachte er. Ein Platz, an den sie auch ihren geliebten Benny mitnehmen könnte.

Dr. Kramer überlegte weiter, dass es das Beste war, sich mit Werner in Verbindung zu setzen. Dr. Werner Baumgarten war ein Studienfreund von ihm. All die Jahre hatten sie in Verbindung miteinander gestanden, und erst vor Kurzem hatte er ein paar Tage im Haus des Freundes und im Kreise seiner reizenden Familie zugebracht. Bei der Gelegenheit hatte er auch Sophienlust kennengelernt, die wunderschöne und herzenswarme Denise von Schoenecker, die trotz ihrer bitteren Jugenderfahrung nicht die Liebe zu den Menschen verloren hatte, sowie Nick, ihren goldigen kleinen Sohn, und die vielen anderen Kinder, die auf Gut Sophienlust wieder aufgeblüht waren,wie Blumen, die zu lange im Schatten gestanden hatten.

»Vielleicht kann ich Ihnen helfen, Herr Kollberg. Doch es hängt nicht allein von mir ab, ob es möglich ist. Ich werde mich sofort erkundigen und Ihnen dann Bescheid zukommen lassen. Allerdings könnte ich mir denken, dass Ihr tragisches Schicksal den Sinn Ihrer Verwandten wandelt, und es ist für ein Kind immer gut, bei Blutsverwandten zu leben.«

»Das mag manchmal zutreffen, Herr Doktor. Andererseits sind Fremde oft liebevoller und herzlicher als die eigene Verwandtschaft. Ich danke Ihnen. Jetzt will ich Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Malu wird schon auf mich warten. Gott steh mir bei, dass es mir gelingt, ihr gegenüber so unbefangen zu sein wie immer.«

»Ich hätte gern mehr für Sie getan, Herr Kollberg. Und bitte, denken Sie daran, dass ich immer für Sie zu sprechen bin. Sobald ich etwas Genaues weiß, wegen des Platzes für Malu, werde ich Sie verständigen.«

Er drückte Daniels Hand mit beiden Händen und brachte ihn dann zur Tür.

*

Über Nacht war der Frühling gekommen. Der Kastanienbaum, der von Malus Fenster aus zu sehen war, hatte seine grünen Blätter auseinandergefaltet. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis er im Schmuck seiner rosa Kerzen zu bewundern war.

Malu liebte diesen Baum im Hof. Er war für sie so eine Art Gruß aus dem Park oder dem Wald. Früher, als sie noch sehr klein gewesen war, hatte sie sich immer brennend gewünscht, dass sie in einem hübschen Haus mit einem großen Garten leben dürfe. Sie hatte sich vorgestellt, dass sie ein Beet mit Blumen habe, das ihr ganz allein gehöre. Inzwischen wusste sie, dass auch die heißesten Wünsche manchmal nicht erfüllt wurden. Und so hatte sie sich mit »Ihrem« Kastanienbaum zufriedengegeben.

Benny hinter ihr fiepste leise.

»Möchtest du spazieren gehen? Ich würde auch gern zum Park laufen. Dort duftet es jetzt schon so wunderschön. Aber wir müssen auf Vati warten. Er hat versprochen, heute früher nach Hause zu kommen. Weißt du, Benny, ich bin sehr froh, dass er nächste Woche seinen Urlaub nimmt. Ich habe ja bald Osterferien, und dann haben wir den ganzen Tag füreinander. Vielleicht fährt er dann auch einmal mit uns zur Stadt hinaus. Dann kannst du laufen. Und es gibt da auch allerhand Interessantes für dich zu riechen: Mäuse und Hasen und noch viel mehr. Aber du darfst nur schnuppern, nicht hinter den Tieren hinterherlaufen und die erschrecken. Denn draußen in der Natur, da haben sie alle genügend Platz nebeneinander.«

Benny wedelte mit dem Schwanz und hob seine rechte Vorderpfote, die er Malu hinstreckte.

»Du willst mir versprechen, dass du den anderen Tieren nichts tust«, lachte Malu. »Das ist lieb von dir, Benny. Du bist mein allerschönster Hund.«

Sie tätschelte ihn, hob ihn dann hoch und trug ihn zum Straßenfenster. »Hier kannst du mit mir nach Vati Ausschau halten. Wenn wir ihn sehen, dann laufen wir ihm entgegen. So, bleib schön sitzen, und pass gut auf.«

Sie schob Benny das flache Kissen zurecht, und der Hund machte es sich auf der breiten Fensterbank gemütlich.

Malu ging in das kleine Badezimmer und bürstete ihr Haar. Sie war stolz auf die seidigglänzende blonde Pracht. Sie bürstete sie und band sie zu einem dicken Pferdeschwanz zusammen.

»So, Benny, ich bin fertig. Jetzt werden wir ganz genau aufpassen.«

Doch so sehr sie sich auch beide bemühten. Daniel Kollberg war noch nicht zu entdecken. Er saß zu dieser Zeit im Büro des Notars Dr. Lohmeier und legte dem Notar eben seine Kontoauszüge vor.

»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Kollberg, dann wollen Sie also Ihr Vermögen fest für Ihre Tochter anlegen.«

»Ja, das ist richtig, Herr Doktor. Nur, ich möchte nach Möglichkeit vorher bestimmen, wo Malu bis zu ihrer Volljährigkeit leben soll. Ich habe zwei Schwestern. Doch leider bin ich fast sicher, dass weder die eine noch die andere mein Kind zu sich nehmen will oder kann. Ich würde dafür etwas bezahlen. Eine ausreichende Summe, die Sie monatlich überweisen müssten. Nur möchte ich nicht, dass irgendjemand vorläufig etwas Genaues über meinen Reichtum erfährt. Der Rest des Geldes soll ausschließlich für Malu bleiben.«

»Ja, ich verstehe, was Sie meinen, Herr Kollberg. Das lässt sich einrichten. Eine Frage bitte. Sind Sie Witwer?«

»Nein. Ich bin geschieden. Meine ehemalige Frau hat bei der Scheidung ausdrücklich auf alle Rechte an Malu verzichtet. Sie war froh, dass das Gesetz ihr eine solche Möglichkeit ließ. Es besteht doch keine Gefahr, dass sie einen Anspruch auf mein Geld geltend machen kann?«

Sekundenlang dachte er erbittert daran, dass »sie« gewiss bei ihm geblieben wäre, hätte sie nur gewusst, dass er so viel Geld gewinnen und dass er sobald sterben würde. Doch es war gut, dass alles so gekommen war. Nun gehörte alles Malu.

»Nein, diese Gefahr besteht nicht. Wir werden ein Testament machen, und wenn Sie damit einverstanden sind, werde ich Ihnen Vorschläge unterbreiten, wie man den größten Teil des Geldes in mündelsicheren Papieren bis zur Volljährigkeit Ihrer Tochter anlegen kann. Einen gewissen Betrag lassen wir frei verfügbar für Kleidung, Ausbildung und so weiter. Anwälte und Notare haben genau wie Ärzte strenge Schweigepflicht. Niemand wird etwas davon erfahren, wie vermögend Ihre Tochter einmal sein wird.«

»Dann bin ich zufrieden, Geld ist etwas Gefährliches. Es verwandelt die meisten Menschen in Hyänen. Bisher konnte ich so wenig für mein Kind tun. Nun erlaubt mir das Schicksal wenigstens für Malus Zukunft zu sorgen.«

»Sie können sich ganz auf mich verlassen, Herr Kollberg. Ich werde das Testament vorbereiten, und Sie können auch noch einen persönlichen Brief für Ihre Tochter hinterlassen. Wenn ich alles entsprechend geregelt habe, werde ich Sie verständigen. Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen.«

Daniel beeilte sich auf dem Heimweg, als er den Glockenschlag von der nahen Kirche gezählt hatte. Malu würde sicher schon sehnsüchtig auf ihn warten. Heute war ein so schöner Tag – die Sonne schien golden und warm von einem wolkenlos blauen Himmel – dass Malu bestimmt damit gerechnet hatte, dass sie noch einen Spaziergang durch den Park machen würden. Diesen Wunsch wollte er ihr erfüllen.

Er fühlte sich in der letzten Zeit gar nicht mehr so schlapp und elend wie früher. Auch die heftigen Rückenschmerzen traten nur noch ab und zu auf. Manchmal glimmte in seinem Herzen ein winziger Hoffnungsfunke, dass sich Dr. Kramer in seiner Diagnose vielleicht doch geirrt habe. Aber er wollte diesen Regungen nicht nachgeben. Jetzt wollte er die Zeit nutzen, die ihm noch mit Malu verblieb.

»Er kommt, Benny, er kommt!«, schrie Malu, als sie den Vater entdeckte. »Rasch, komm runter von der Fensterbank. Warte, wir müssen doch deine Leine noch mitnehmen. Im Park darfst du doch nicht ohne Leine laufen.«

Daniel Kollberg lächelte, als er die beiden wie die wilde Jagd auf sich zukommen sah. Seit »sie« weg war, war Malu direkt aufgeblüht. Erst jetzt erkannte er, wie stark die seelische Belastung des Kindes in der Zeit seiner unglücklichen Ehe infolge der vielen Streitigkeiten gewesen war. Nicht immer war es richtig, eine Ehe um der Kinder willen aufrechtzuerhalten. Manche Kinder wurden erst wieder frei und fröhlich, wenn sie ganz genau wussten, zu wem sie gehörten.

»Vatilein, wo warst du nur so lange? Wir warten schon eine Ewigkeit auf dich, Benny und ich.«

Daniel begrüßte zuerst Malu und dann Benny, der immer eifersüchtig und unausstehlich war, wenn man sich nicht auch um ihn kümmerte.

»Ich hatte noch Verschiedenes zu erledigen. Doch ich habe mich dabei sehr beeilt. Ich weiß doch, wie sehr du dir einen Spaziergang wünschst. Was hältst du davon, wenn wir in den Park gehen und dort eine dicke Portion Sahneeis essen?«

Malus Augen leuchteten auf. Wie ein Kätzchen rieb sie ihre Wange an der Hand des Vaters.

»Wirklich, Väterchen! Ist das dein Ernst? Und Sahneeis? Können wir uns das denn leisten? Ich meine, es ist doch sehr teuer. Ich wäre schon mit dem Spaziergang zufrieden.«

Wieder einmal rührte Daniel die Bescheidenheit seiner Tochter. Er strich ihr über das schimmernde Haar.

»Wir können, Schätzchen. Ich habe nachgerechnet. Durch meine vielen Überstunden haben wir einen ganz hübschen Zuschuss. Außerdem mag ich es nicht, wenn du dir dein kleines Köpfchen zerbrichst. Verstanden?«

»Ja, Vati«, nickte Malu. »Ich tu’s ja auch nur, weil du so oft rechnen musst. Ich freu mich sehr. Nicht nur, weil es Eis gibt, sondern weil du mal viel Zeit für mich hast.«

»Warte nur, bis ich Urlaub habe. Dann bin ich immer für dich da.«

Malu reckte sich ein bisschen, damit sie sich beim Vater einhaken konnte. Benny trottete brav an der Leine nebenher.

Das hübsche Café lag inmitten des Parks auf einer kleinen künstlichen Anhöhe. Auf der Terrasse standen schon Tische und Stühle. Daniel und Malu fanden einen Tisch an der Balu­strade und hatten von dort einen freien Blick auf den Teich, auf dessen Wasser sich eine Schwanenfamilie und zahlreiche hübsche bunte Enten tummelten.

Der Hund hatte sich unter Malus Stuhl gelegt und die Vorderpfoten anmutig gekreuzt. Das Eis, das der Ober bald in großen Bechern brachte, war mit Früchten, Sahne und Waffeln verziert. Malu fragte: »Erlaubst du, dass ich Benny eine Waffel gebe, Väterchen?«

Obwohl Malu Waffeln selbst gern aß, brachte sie es doch nicht übers Herz, ihrem geliebten Benny diesen Leckerbissen vorzuenthalten.

Daniel nickte. »Ich weiß doch, dass es dir das Herz brechen würde, wenn dein Benny nicht wenigstens probieren dürfte.«

Eine Weile war Stille. Malu aß andächtig Löffel um Löffel der seltenen Köstlichkeit, und Daniel freute sich, dass es ihr schmeckte. Jeden Gedanken an das, was irgendwann in der nächsten Zeit unweigerlich eintreten würde, schob er weit von sich. Er war zufrieden, dass der unerwartet über ihn hereingebrochene Geldsegen es ihm erlaubte, seine Arbeit ganz aufzugeben und sich wirklich jede Stunde, die ihm noch verblieb, um Malu zu kümmern. Und er stellte zu seinem Erstaunen fest, dass es gar nicht so schwer war, mit Wissen um den Tod zu leben. Nur Malu … Die Ungewissheit über ihr Schicksal, das war etwas, was ihn noch quälte.

»Es scheint dir ja ausgezeichnet zu gehen, Daniel.«

Helmas schrille Stimme riss Daniel und Malu gleichermaßen aus ihrer zufriedenen Behaglichkeit. Benny stand auf und knurrte böse.

»Halt den grässlichen Köter fest. Der ist imstande und zerfleischt mich noch«, rief Helma und sprang hastig einen Schritt zurück. Dabei trat sie ihrem Sohn, der dicht hinter ihr stand, auf den Fuß.

»Pass doch auf, Mutter. Ich konnte ja nicht wissen, dass du dich vor der halben Portion Hund so fürchtest.«

Hans Röder war ein hochaufgeschossener, schlaksiger Junge von neunzehn Jahren. Sein Gesicht wäre auch hübsch gewesen, hätten seine Augen nicht einen so kalten Ausdruck gehabt.

Malu zitterte. Sie fürchtete nicht nur Tante Helma, sondern auch den Vetter, der immer irgendwelche Teufeleien im Sinn hatte. Dass ihre Angst berechtigt war, zeigte sich sogleich. Denn Hans trat an seiner Mutter vorbei auf den Stuhl zu, auf dem Malu saß. Sein Fuß zuckte nach vorn, um Benny einen kräftigen Tritt zu versetzen. Doch Malu ahnte seine Absicht. Sie fasste blitzschnell zu, hielt den Fuß fest – und Hans fiel der Länge nach zwischen die Tische.

Vom Nebentisch riss er eine Kanne Kaffee mit herab, deren Inhalt sich über ihn ergoss, und seinen hellen Anzug mit hässlichen Kaffeeflecken färbte.

»Das ist infam«, schrie Helma wütend, als sie ihren Sohn in dieser unrühmlichen Lage sah. »Und an allem ist nur dieser Köter schuld. Man sollte ihn vergiften.«

»Entschuldigen Sie«, sagte da eine ältere Dame, die am Tisch neben Daniel und Malu saß. Sie hatte zuvor mit Vergnügen Vater und Tochter beobachtet und sich gefreut, dass keiner von beiden den manierlichen kleinen Hund vergessen hatte.

»Entschuldigen Sie, es geht mich zwar nichts an, doch bevor Sie hierherkamen, war der Hund mucksmäus­chenstill. Und ich habe genau gesehen, dass der junge Mann dem Hund einen bösen Tritt geben wollte. Dass er dabei gestolpert ist, ist nur die gerechte Strafe für seine beabsichtigte Rohheit.«

»Die Dame hat ganz recht«, mischte sich nun noch jemand ein. »Es wäre besser, Sie würden Ihren ungezogenen Sohn zur Ordnung rufen, und nicht dem kleinen Hund den Gifttod androhen.«

Helma wurde puterrot. Sie sah sich um. Doch alle, die in der Nähe saßen, schienen eindeutig Partei für Daniel und den Köter zu nehmen. Deshalb richtete sich ihr Zorn nun gegen Hans, der noch immer auf dem Boden lag.

»Steh auf«, herrschte sie ihn an. »Und komm jetzt. Wir werden unseren Kaffee woanders trinken, wo man nicht von Hunden und ungebildeten Menschen belästigt wird.«

»Einen Augenblick, meine Dame«, hielt die Stimme des Kellners sie zurück. »Sie müssen das zerbrochene Geschirr bezahlen. Schließlich hat Ihr Sohn es zerschlagen.«

Helma folgte dem Ober, und Hans schlich wie ein begossener Pudel hinterher.

»Warum sind nur manche Menschen so? Immer macht Tante Helma einem alle Freude kaputt.«

»Es tut mir leid, Schätzchen. Am Besten ist, wir vergessen das. Solche Menschen wie Tante Helma, die begegnen uns immer wieder. Man muss sie in Kauf nehmen.«

»Wie gut, dass du so ganz anders bist, Vati.«

Ein tiefer Seufzer folgte Malus Worten, dann beugte sie sich wieder über ihren Eisbecher.

So sah sie nicht den Schatten von Trauer, der für kurze Zeit Daniels Gesicht verdüsterte. Eines wusste er nach diesem Zwischenfall ganz gewiss, dass Helma niemals geeignet war, seiner kleinen Malu ein wirkliches Zuhause zu geben. Ganz abgesehen davon, dass sie dies wohl auch niemals anbieten würde.

Gottlob hatte Malu den hässlichen Zwischenfall schon wieder vergessen, als sie später durch den Park spazierten. Immer wieder blieb sie entzückt vor einem blühenden Strauch oder den duftenden Frühlingsblumen stehen.

*

Barbara Baumgarten übersah noch einmal den gedeckten Tisch auf der Terrasse. Sie freute sich auf Denises Besuch. Zwar wollte diese einiges mit ihrem Mann besprechen, doch etwas Zeit für einen kleinen Klatsch zwischen zwei Frauen würde gewiss bleiben.

»Gibt’s bald Kaffee, Barbara?«

Dr. Werner Baumgarten war auf die Terrasse getreten, ohne dass ihn Barbara hatte kommen hören. Sie ließ es gern zu, dass er sie umschlang und ihr einen raschen, liebevollen Kuss auf den Nacken drückte.

»Sobald Denise da ist, Werner. Ich zittere davor, dass dich gerade jetzt jemand braucht und du weg musst.«

»Vorläufig ist es noch nicht so weit. Wie ruhig es hier ist, wenn unsere Rangen nicht da sind. Es fehlt einem direkt was, findest du nicht auch?«

Barbare nickte lächelnd. »Ja, sie fehlen mir. Trotzdem bin ich ganz froh, dass ich mal ein paar Tage lang eine angefangene Arbeit auch zu Ende führen kann. Und Mama ist überglücklich, dass sie ihre Enkel nach Herzenslust verwöhnen kann. Doch da kommt ein Auto. Das wird Denise sein. Komm, wir gehen ihr entgegen.«

Arm in Arm gingen sie um das Haus herum zum Gartentor. Barbara freute sich, dass in ihrem Garten schon die ersten Tulpen blühten, obwohl es noch sehr früh im Jahr war.

Sie streckte Denise von Schoenecker beide Hände entgegen. Dann küsste sie sie auf die Wangen.

»Ein seltener, aber sehr lieber Besuch, liebe Denise. Du siehst schön und blühend aus wie immer. Kein Wunder, dass Alexander noch so verliebt in dich ist wie am ersten Tag.«

»Und ich in ihn«, erwiderte Denise fröhlich. »Wie machst du das nur, Barbara, dass bei dir schon jetzt die Tulpen blühen? Ein kleines Paradies ist euer Garten!«

»Sie hat da so geheime Zauberkräfte«, rief Werner vergnügt. »Du siehst es ja auch an mir, Denise. Mich hat sie fest am Gängelband. Es ist eben ihre Art, alles energisch zu betreiben.«

Denise ließ sich im Gartensessel nieder. Sie freute sich auf das kurze Zusammensein mit den beiden Menschen, die ihr lieb waren. Barbara goss den Kaffee ein und reichte die Platte mit dem selbst gebackenen Kuchen herum. Sie verhielt sich zunächst still, als Denise mit Werner einiges besprach, was die ärztliche Betreuung von Sophienlust betraf, und horchte erst auf, als Werner von dem Brief Dr. Kramers erzählte.

»Ein tragisches Schicksal, Denise. Erst diese unglückliche Ehe, die nun endlich gelöst ist, und nun steht das Kind dicht davor, Waise zu werden. Und den armen, todkranken Vater belastet neben dem Wissen um sein baldiges Ende auch noch die übergroße Sorge, was aus Malu werden soll.«

»Warum sagst du Denise nicht gleich, dass du ihr das in einer ganz bestimmten Absicht erzählst«, schaltete sich Barbara nun temperamentvoll ein. »Es gibt ja nun mal nur ein Sophienlust auf der Welt, und wo wäre die kleine Malu samt ihrem Hund wohl besser aufgehoben als dort, wo nicht nur ein Paradies für Kinder, sondern auch ein Tierparadies entstanden ist? Und das ist Denises Liebe zu den Menschen zu verdanken, besonders aber ihrer Liebe zu den Kindern und der Ernsthaftigkeit, mit der sie das Vermächtnis der Urgroßmutter Sophie von Wellentin erfüllt. Manchmal hab ich wirklich das Gefühl, dass sie einen verborgenen Heiligenschein um ihren hübschen Kopf trägt.«

Barbara sagte das ganz ernst. Man hörte aus ihren Worten den tiefen Respekt und die Bewunderung heraus, die sie für Denise empfand.

Werner Baumgarten hatte zuerst etwas unwillig auf Barbara gesehen. Doch je länger sie sprach, desto mehr erkannte er, dass sie sich sehr eingehend mit Dr. Kramers Brief beschäftigt hatte.

»Erich hat Daniel Kollberg noch nichts davon gesagt, dass in Sophienlust vielleicht ein Platz für Malu wäre. Er wollte, dass ich erst einmal mit dir darüber spreche, bevor er dem Vater irgendwelche Hoffnungen macht.«

Denise hatte nachdenklich zugehört. Viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Sicher, sie hatten schon viele Kinder auf Sophienlust, doch ein Plätzchen, an dem ein kleines Mädchen und sein Hund geborgen waren, würde sich schaffen lassen.

»Ich wäre schon bereit, die kleine Malu aufzunehmen, wenn es erst einmal so weit ist. Grässlich, es so aussprechen zu müssen. Und entsetzlich für den Vater, mit der Sorge belastet zu sein, was aus seinem Kind wird. Ich weiß, wie groß der Kummer ist, den man sich dann macht. Es geht einem ja weniger um sich selbst.«

»Du bist wirklich wunderbar, Denise!«

Werner Baumgarten nahm impulsiv Denises Hand und küsste sie.

»Ach was, Werner, so wunderbar bin ich auch nicht. Ich hab nun mal die Menschen lieb. Und Alexanders Liebe gibt mir so viel Kraft. Ohne alle meine Kinder wäre das Leben nur halb so schön. Schreibe Dr. Kramer, dass er Herrn Kollberg sagen kann, dass seine Malu, welch ein hübscher Name, bei mir willkommen ist. Wenn er will, dann kann er ja ruhig einmal einen Besuch bei uns machen und sich Sophienlust ansehen.«

»Ich schreibe noch heute Abend, Denise. Ich weiß allerdings nicht, ob Herr Kollberg vermögend ist.«

»Du weißt, dass das nur eine untergeordnete Rolle spielt, Werner. Gottlob haben wir die Möglichkeit, auch ohne Bezahlung etwas Gutes tun zu können. Was die reichen Eltern mehr geben, kommt eben den bedürftigen Kindern zugute. Aber nun muss ich weg. Alexander ist daran gewöhnt, dass ich da bin, wenn er heimkommt. Es war schön wie immer bei euch. Danke für den reizenden Nachmittag.«

Barbara und Werner winkten Denise nach, solange sie den Wagen sehen konnten. Dann gingen sie zum Haus zurück.

»Weißt du, dass ich schon überlegt habe, ob wir die kleine Malu nicht zu uns nehmen sollten, wenn Denise keinen Platz gehabt hätte«, vertraute Barbara ihrem Mann an.

»Dann haben wir beide mit dem gleichen Gedanken gespielt, Babs. Und vielleicht können wir es später noch tun.«

Barbara blieb stehen, sah Werner an.

»Ein entsetzlicher Gedanke, dass es unserer Rasselbande einmal so ergehen könnte wie der armen kleinen Malu. Manchmal lässt die Gerechtigkeit dieser Welt schon sehr zu wünschen übrig. Anstelle des Vaters, der sein Kind liebt, hätte ja auch diese kaltherzige Mutter sterben können.«

Werner wollte etwas sagen, aber Barbara wehrte seinen Einwand ab, bevor er ausgesprochen war.

»Ich weiß schon, dass du so etwas nicht gern hörst. Aber manchmal muss ich meinem Herzen Luft machen.«

Als sie auf der Terrasse waren, klingelte das Telefon.

»Ich wusste doch, dass du noch mal weg musst, Werner. Morgen hole ich die Kinder. Dann bin ich wenigstens nicht mehr so allein und verlassen.«

Sie hörte Werner telefonieren und lief ins Sprechzimmer, um zu überprüfen, ob seine Arzttasche vollständig gepackt war. Dann eilte sie in die Garage und fuhr seinen Wagen hinaus.

»Danke, mein liebes Weib. Wenn man dich so reden hört, könnte man meinen, du hättest nicht das geringste Verständnis für meinen Beruf. Dabei ist es genau umgekehrt.«

»Pass auf dich auf, Werner«, sagte Barbara und gab ihrem Mann einen Kuss. »Ich liebe dich nun mal. Da muss ich mich eben mit allem, was zu dir gehört, abfinden. Und wenn du nicht Arzt sein könntest, dann wärst du doch nur ein halber Mensch. Das weiß ich ganz genau.«

»Dem Himmel sei Dank dafür, Barbara. Ich werde sehen, dass ich bald wieder hier sein kann. Auf Wiedersehen.«

*

Daniel Kollberg hatte schon immer eine Scheu davor gehabt, mit seinem Schwager Kurt zusammenzutreffen. Doch wenn er versuchen wollte, Malu im Hause seiner Schwester Irene einen Platz zu schaffen, dann musste er auch mit Kurt sprechen.

Er blieb vor dem kleinen Einfamilienhaus stehen. Sein Blick streifte gedankenvoll das weiße Emailschild.

– Kurt Walters, Steuerberater – stand in dicken schwarzen Buchstaben darauf.

Daniel drückte auf den Klingelknopf. Kurz darauf summte der elektrische Türöffner, das Gartentor sprang auf und in der geöffneten Haustür wurde Irene sichtbar.

»Daniel du«, rief sie erfreut. »Nett, dass du mal zu uns kommst. Bitte, komm doch herein. Kommst gerade recht zum Kaffee. Ich hab den Tisch schon gedeckt.«

Die Geschwister begrüßten sich mit einem Kuss, und Irene schloss hinter ihrem Bruder die Tür.

»Wie geht es Malu und dir? Ich wollte immer mal vorbeikommen, doch gerade jetzt habe ich einiges für Kurt zu schreiben gehabt. Du weißt schon, so Sachen, die die Mädchen vom Büro nicht unbedingt sehen müssen. Und daneben der Haushalt. Manchmal weiß ich wirklich nicht, wie ich das alles überhaupt schaffe, Kurt«, rief sie dann laut. »Der Kaffee ist fertig.«

Sie saßen schon am Tisch, als Kurt Walters eintrat. Immer wieder, wenn Daniel seinen Schwager sah, stellte er fest, dass er eigentlich auf den ersten Blick sehr nett und sympathisch, sogar gutmütig wirkte. Doch dass dieser Eindruck täuschte, hatte er leider schon zu oft erfahren.

»Tag, Daniel. Dir geht’s gut! Du lässt den lieben Gott einen guten Mann sein, während andere Leute arbeiten. Kein Wunder, dass du dabei auf keinen grünen Zweig kommst.«

Er nahm sich ein großes Stück Kuchen und bot die Kuchenplatte erst dann Daniel an.

»Danke, Kurt, ich habe keinen Appetit. Ich trinke nur eine Tasse Kaffee.«

Irene saß wie auf glühenden Kohlen. Es tat ihr weh, dass Kurt ihrem Bruder bei jeder Gelegenheit zu verstehen gab, dass er nicht viel von seinen beruflichen Qualitäten hielt.

»Wie geht es Malu, Daniel?«, fragte sie.

»Gut, Irene. Sie hat zu Ostern ein glänzendes Zeugnis nach Hause gebracht. Ich bin sehr stolz darauf, dass sie so gut lernt. Überhaupt macht sie mir nur Freude.«

»Ein Kind muss parieren«, rief Kurt Walters. »Wär ja noch schöner, wenn man es nicht dazu bringen könnte, etwas zu lernen. Es ist ja schließlich für seine Zukunft. Und Dankbarkeit dafür, dass man dafür sorgt, dass sie eine gute Schulbildung mitkriegen, kann man von Kindern ja wohl erwarten.«

»So kann man es auch sehen, Kurt. Aber jeder hat deine Einstellung nicht. Ich bin gekommen, weil ich etwas mit euch besprechen wollte.«

Daniel musste sich sichtlich einen Ruck geben. Doch es gab ja außer Irene niemanden, dem er die Sorge um Malu hätte anvertrauen können.

»Besprechen«, wiederholte Kurt Walters misstrauisch. »Das heißt doch wohl, dass du etwas von uns willst. Geld können wir selbst gebrauchen, davon haben wir nicht zu viel.«

»Bitte, Kurt, lass doch Daniel erst mal reden. Du weißt ja noch gar nicht, was er möchte. Wie kannst du gleich von Geld reden! Es bedrückt dich etwas, Daniel, nicht wahr? Ich hab’s dir schon angesehen, als du zur Tür hereinkamst.«

»Ich bin schwer krank«, sagte Daniel Kollberg nun ohne Übergang leise. »Ich habe nur noch ein paar Monate zu leben. Ich weiß es. Der Arzt hat es mir auf meine Bitte hin gesagt. Und jetzt quält mich der Gedanke, was aus Malu werden soll, wenn ich nicht mehr bin. Ich wollte euch fragen, ob ihr euch nicht ihrer annehmen könntet. Für ihre Ausbildung habe ich etwas zurückgelegt, und dann bekommt sie ja auch eine Waisenrente. Sie ist nicht verwöhnt und stellt keine Ansprüche. Nur … der Gedanke, dass sie ins Heim müsste, wenn ich tot bin, der ist mir unerträglich.«

Er zog sein Taschentuch aus der Tasche und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Er kam sich vor wie ein lästiger Bittsteller.

»Aber darüber brauchen wir doch gar nicht zu reden, Daniel«, rief Irene mit schwankender Stimme. »Selbstverständlich …«

»Gar nichts ist selbstverständlich«, unterbrach Kurt Walters seine Frau. »So bedauerlich es ist, dass du …, dass Marie-Luise … Vergiss bitte nicht, dass weder Irene noch ich jung und elastisch sind. Wir würden gern etwas für dich tun, aber ein lebhaftes Kind hier bei uns, nein, das ist undenkbar. Da wird sich doch sicher ein anderer Weg finden lassen. Es gibt doch auch Kinderheime, die nicht so teuer sind.«

»Bessere Waisenhäuser«, sagte Daniel bitter.

»Tu doch nicht so, als ob ich ein Unmensch wäre«, rief Kurt Walters gereizt. »Ein fremdes Kind aufzunehmen bedeutet eine große Verantwortung. Und dann, wir sind auch nicht besonders wohlhabend. Auf dem Haus liegen noch Hypotheken. Dazu ist Hilde in einem Alter, wo sie jeden Tag heiraten und ihre Aussteuer verlangen kann.« Er sah dabei vor sich hin und spielte nervös mit seiner Kuchengabel.

Irene warf ihrem Mann einen bittenden Blick zu.

»Kurt, Malu würde wirklich keine Belastung für uns bedeuten. Du würdest durch sie nicht gestört werden, dafür sorge ich schon. Daniel hat weiß Gott schon genug Schweres vom Schicksal aufgepackt bekommen. Und nun noch dies!«

»Was kann denn ich dafür, dass er sich die falsche Frau ausgesucht hat? Soll er sie doch fragen, ob sie sich nicht endlich auf ihr Kind besinnen will! Zum Donnerwetter, wer kommt denn da schon wieder«, rief er, als es klingelte.

»Ich seh schon nach«, sagte Irene und ging rasch hinaus. Wenig später kehrte sie mit Helma zurück.

»Ich wollte Kurt wegen einer Steuerangelegenheit sprechen«, hörten die beiden Männer Helma in der Diele sagen. Als sie kurz darauf eintrat und Daniel sah, verzog sie das Gesicht.

»Hätte ich gewusst, dass du hier bist, wäre ich zu einer anderen Zeit gekommen. Warum macht ihr denn alle so ernste Gesichter, als ob jemand gestorben wäre?«

»Noch lebt er«, meinte Kurt Walters wenig taktvoll und erzählte, warum Daniel gekommen war.

»Und davon erfahre ich erst jetzt«, rief Helma anklagend. »Das ist ja grauenhaft.«

»Dann würdest du also Malu zu dir nehmen, Helma?«, erkundigte sich Kurt Walters.

Helma sah ihren Schwager entgeistert an.

»Wie kannst du überhaupt fragen? Malu ist ein ungezogenes Mädchen. Erst letzthin hat sie Hans ein Bein gestellt, sodass er hinfiel, und ich musste einen Schaden von über zwanzig Euro bezahlen. Was in ihr steckt, das lässt sich nun mal nicht austreiben. Das hat sie von ihrer Mutter.«

»Du hast die Geschichte anders erzählt, als sie sich inWirklichkeit abgespielt hat, Helma. Doch das ist jetzt unwichtig. Ich sehe schon, dass ich besser nicht hergekommen wäre.«

»Daniel, bitte! Wenn es nach mir ginge, dann wüsstest du, dass Malu hier ein Zuhause bekommt. Und dass ich gut zu ihr wäre und sie von Herzen lieb hätte, das brauche ich dir nicht erst zu versichern. Aber ich habe ja hier in diesem Haus nichts zu sagen. Ich darf nur die Arbeit tun, alles andere wird von Kurt entschieden. Er denkt zuerst an sich und seinen Willen und noch lange nicht daran, dass so ein armes unschuldiges Kind in einer kalten und lieblosen Umgebung heranwachsen soll, einzig deshalb, weil seine Bequemlichkeit gestört werden könnte.«

Auf Kurt Walters Stirn schwoll eine Zornesader. Doch gleichzeitig fühlte er ein beklemmendes Gefühl in der Herzgegend. Irene, seine sanfte Frau, hatte noch nie zuvor so mit ihm gesprochen. Doch seine Selbstherrlichkeit litt es nicht, dass er jetzt noch einen Rückzieher machte. Außerdem dachte Helma wie er.

»Irene war schon immer ein bisschen theatralisch«, sagte er abfällig. »Sie hat ebenso wenig Sinn für die harten Tatsachen des Lebens wie Daniel. Nächstenliebe ja, schön und gut, solang es sich mit Geld abtun lässt und nicht das eigene Leben total umgeändert werden muss.«

Daniel konnte das nicht mehr mit anhören. Selbst in seiner Ehe war er sich kaum so erniedrigt vorgekommen wie in diesem Augenblick. Er erhob sich und ging zur Tür. Irene stand ebenfalls auf und eilte ihm nach.

»Ich hab’s von Anfang an falsch gemacht, Daniel. Ich hätte früher gegen Kurt auftrumpfen müssen.«

»Ich kenne dein gutes Herz, Irene. Aber ich hätte trotzdem nicht herkommen dürfen. Kurt ist in seinem Wesen ähnlich wie Helma. Beide sind Egoisten. Vielleicht würden sie anders denken, wenn ein Schicksalsschlag sie einmal ganz persönlich treffen würde.«

»Es ist ein so furchtbarer Gedanke, Daniel. Auch dass du so krank bist und dass du mit diesem Wissen Malu noch ein fröhliches Gesicht zeigen musst. Oder ahnt das Kind etwas?«

»Um Gottes willen, nein.« Er sah Irene dankbar an, »zwischen dir und mir ändert sich nichts. Ich weiß ja, wie es ist, wenn einem die Hände gebunden sind.«

»Ich besuche dich bald, Daniel. Kurt wird schon noch merken, dass ich entschlossen bin, nicht mehr nach seiner Pfeife zu tanzen. Auf Wiedersehen, Daniel.«

Sie beugte sich rasch vor und küsste ihn auf den Mund. Das war lange nicht mehr vorgekommen, und Daniel erkannte daran am besten, wie Irene zumute war.

Irene kehrte nicht mehr ins Wohnzimmer zurück. Sie ging in den Garten und begann die Beete zu jäten, denn sie mochte im Augenblick weder Helma noch ihrem Mann begegnen. Sie gab auch keine Antwort, als Helma nach ihr rief.

»Sie ist wirklich genau wie Daniel«, sagte diese drinnen im Haus zu Kurt Walters. »Immer gleich beleidigt, wenn man einmal anderer Ansicht ist als sie. Also, du meinst, ich sollte einen Teil meines Geldes in diesen neuen Aktien anlegen, Kurt. Das Geld liegt dann zwar lange fest, doch dafür bringt es auch eine Menge Zinsen. Vielen Dank für die Auskunft.«

»Willst du gleich bezahlen, Helma? Dann brauche ich keine Rechnung ausschreiben lassen. Ich gebe dir eine Quittung, das genügt.«

Helma lächelte süßsauer. »Eigentlich hatte ich geglaubt, dass solche Hilfe unter Verwandten kostenlos ist.«

»Ich lebe davon, dass ich derartige Beratungen durchführe«, sagte Kurt Walters ungerührt. »Mit deiner Einstellung zum Materiellen müsstest du doch Verständnis dafür haben.«

»Bitte, ich will nicht feilschen, wenn mir auch der Preis reichlich hoch erscheint.«

Als Helma gegangen war, verließ Kurt Walters sein Zimmer. Er suchte nach Irene und fand sie schließlich im Garten.

»Du musst doch einsehen, dass es einfach nicht geht, dass wir das Kind hier aufnehmen, Irene!«

»Das hast du mir schon gesagt, Kurt. Wozu also noch einmal darüber sprechen? Ich schäme mich, dass ich mit einem Mann verheiratet bin, der anstelle eines Herzens einen Stein in der Brust hat. Und dann tust du auch noch so, als würde es dir leidtun. Du Heuchler!«

»Aber Irene, in welchem Ton redest du mit mir?«, rief Kurt Walters zornig und seine guten Vorsätze vergessend, sich mit seiner Frau versöhnen zu wollen.

»Wie ich es schon längst hätte tun sollen.« Irene war keinesfalls eingeschüchtert. »Und jetzt lass mich bitte meine Gartenarbeit zu Ende machen. Ich habe ja niemand, der sie mir abnimmt.«

Sie drehte sich um und begann zornig auf die unschuldige schwarze Erde zwischen den Salatpflänzchen einzuhacken.

*

»Was hast du, Vatilein?«

Malu sah ihren Vater besorgt an. »Du bist so traurig und lachst gar nicht mehr. Hast du wieder Schmerzen?«

»Nur ab und zu, mein Schätzchen. Manchmal ist man nachdenklich und dadurch ernster als sonst.«

»Ja, das kenne ich«, stimmte Malu eifrig zu. »Mir geht’s auch manchmal so. Selbst Benny denkt oft nach, ich habe ihn dabei jedenfalls schon beobachtet. Aber ich bin froh, dass dir nichts wehtut. Weißt du, seit du damals krank aus dem Geschäft nach Hause gekommen bist, habe ich immer Angst, dass du noch mal so einen Schwächeanfall kriegst.«

»Ich werde aufpassen, Schätzchen.« Daniel strich Malu über das weiche blonde Haar. »Schließlich möchte ich dir doch keinen Kummer bereiten.«

»Ich dir auch nicht, Vati. Ich wünsche, dass ich ganz schnell groß werde. Dann kann ich dir viel Arbeit abnehmen, und wir bleiben immer zusammen: Du und ich und Benny auch. Meinst du, dass Benny noch sehr lange leben kann?«

Ihre hellgrünen Augen forschten in Daniels Gesicht. Sie bezog es auf ihre Frage nach Benny, dass seine Augen dunkel wurden und er ihrem Blick schließlich auswich.

»Hunde werden ja leider nicht so alt wie Menschen«, sagte Malu mit merkwürdig zitternder Stimme. »Wenn ich daran denke, dass er mich mal nicht an der Tür erwarten könnte, wenn ich aus der Schule nach Hause komme, dann könnte ich jetzt schon weinen.«

»Wir müssen alle einmal Abschied voneinander nehmen, Schätzchen. Das ist nun mal so im Leben.«

»Warum werden nicht alle Menschen ganz, ganz alt? Und Hunde auch? Das könnte der liebe Gott doch machen. Er kann doch so viel. Vielleicht weiß er gar nicht, dass die Menschen gern viel länger leben möchten?«

»Ach, du Kind«, murmelte Daniel mit schwerer Stimme. »Gott weiß bestimmt, warum er dies oder jenes tut. Wir Menschen sollten uns darüber nicht den Kopf zerbrechen.«

»Wenn du meinst, Vatilein. Da fällt mir ein, ich soll dir einen schönen Gruß von Herrn Dr. Kramer sagen. Du möchtest doch nach der Sprechstunde mal zu ihm kommen. Gibt er dir wieder Medizin?«

»Vielleicht, Schätzchen. Vielleicht hat er eine ganz neue Medizin bekommen. Dann werde ich nachher mal hingehen.«

»Darf ich mitkommen?«

Daniel schüttelte den Kopf.

»Ich gehe lieber allein. Es ist langweilig für dich, auf mich zu warten. Du kannst währenddessen schon das Abendessen herrichten.«

»Mach ich doch. Spielst du später noch ›Mensch, ärgere dich nicht‹ mit mir?«

»Ja. Und öffne niemandem die Tür, Malu. Ich nehme einen Schlüssel mit.«

»Großes Ehrenwort, Vatilein.«

Malu sah aus dem Fenster, und winkte dem Vater zu, als dieser gewohnheitsmäßig hinaufsah.

*

Nur noch ein Patient saß in Dr. Kramers Wartezimmer. Der Arzt lächelte Daniel freundlich zu, als er ihn sah, und sagte: »Ich bin gleich so weit, Herr Kollberg.«

Daniel blätterte in den zerlesenen Zeitschriften, doch er sah gar nicht was auf den Bildern zu sehen war. Obwohl es nicht lange dauerte, bis der letzte Patient das Ordinationszimmer verlassen hatte, erschien ihm die Wartezeit endlos.

Staunend und ungläubig hörte Daniel dann, was Dr. Kramer ihm sagte.

»Und was ist dieses Sophienlust? Ein privates Kinderheim?«, erkundigte er sich.

»Wenn Sie so wollen, ja. In Wirklichkeit ist es jedoch etwas ganz anderes, nämlich ein Zuhause für Kinder, die ohne Elternliebe aufwachsen müssen. Der jetzige Besitzer von Sophienlust ist ein kleiner Junge. Er heißt Dominik von Wellentin. Sein Vater verliebte sich in eine blutjunge, bildhübsche Tänzerin, die er heiratete, als sie von ihm ein Kind, eben Dominik, erwartete. Ihr Mann verunglückte schon wenige Wochen nach der Hochzeit. Da Denise von Wellentin wusste, dass die Verwandten ihres Mannes sie als unebenbürtig und ›eine vom Theater‹ ablehnten, verschwieg sie ihnen die Geburt des Kindes. Sie übte ihren Beruf wieder aus und gab Dominik schweren Herzens in ein Kinderheim. Durch einen Unfall konnte sie ihre Bühnentätigkeit nicht mehr ausüben. Auf einer Reise mit Dominik begegnete sie dann dessen Urgroßmutter, eben jener Sophie von Wellentin, der Sophienlust gehörte. Die alte Dame begriff, dass man die junge Frau des verstorbenen Enkels verkannt hatte. Sie beschloss gutzumachen, was sie auch als ihre Schuld ansah. Deshalb setzte sie ihren Urenkel Dominik zum Alleinerben ihrer Hinterlassenschaft ein, mit der ausdrücklichen Bestimmung, dass Frau Denise bis zu Dominiks Großjährigkeit die Verwalterin des Erbes sein sollte. Und mit der Bitte, dass man aus einem Teil des großen Gutshauses ein Heim für elternlose Kinder machen sollte.«

»Die alte Dame muss ein großes Herz gehabt haben, und diese Denise von Wellentin scheint alle guten Eigenschaften zu besitzen, die man sich von einer Frau wünscht, da sie die Bitte der alten Dame erfüllt. Gewiss muss sie dadurch viele eigene Wünsche zurückstellen.«

»Ja, Denise von Schoenecker ist eine großartige Frau, eine wirkliche Persönlichkeit und dabei ein herzensguter Mensch, dessen großer Wunsch es ist, allen Menschen etwas Gutes zu tun. Sie hat noch einmal ein Lebensglück gefunden. Oder besser, sie hat erst jetzt das wirkliche Glück gefunden. Denn die stürmische Liebe der Jugendtage – himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt – ist mit der wirklichen, echten und tiefen Liebe einer reifen, leidgeprüften Frau nicht mehr vergleichbar. Frau von Schoenecker würde Sie gern kennenlernen, Herr Kollberg. Und Malu natürlich ebenfalls. Sie möchte auch, dass Sie Sophienlust sehen, damit Ihnen wirklich alle Sorgen um Malu genommen sind.«

»Sie muss ja ein wahrer Engel sein, diese Frau.«

Dr. Kramer lächelte fein. »Ich glaube nicht, dass sie sich selbst als Engel sehen möchte, Herr Kollberg. Sie hat viel Kummer erfahren, und trotzdem ihr Herz nicht vor dem Leid anderer Menschen verschlossen.«

»Ich danke Ihnen von Herzen, Herr Doktor, dass Sie sich so für Malu eingesetzt haben. Wie hoch sind die Kosten?«

»Sagte ich noch nicht, dass der Aufenthalt auf Sophienlust für wenig begüterte Kinder kostenlos ist? Es sind aber auch Kinder dort, deren Väter oder Mütter sehr vermögend sind und entsprechend zahlen. Das wird dann auf alle gleichmäßig verteilt.«

»Ich besitze jetzt Geld, Herr Doktor. Ich würde gern einen einmaligen Betrag zur Verfügung stellen. Nur …, ich weiß natürlich, dass man das, was Frau von Schoenecker tut, mit Geld nicht aufwiegen kann, und ich möchte sie keinesfalls mit dieser Gabe kränken.«

»Das werden Sie gewiss nicht tun. Alles wird ja nur für die Kinder verwendet. Vielleicht könnten Sie mit Malu einen Ausflug unternehmen, oder besser noch, wir machen diesen Ausflug gemeinsam. Sie wissen ja, ich bin Junggeselle, und mein Auto ist für uns drei und Benny groß genug.«

»Benny«, wiederholte Daniel. »Darf Benny auch mit nach Sophienlust?«

»Selbstverständlich. Er wird dort eine Menge Artgenossen finden. Die Attraktion für die Kinder ist augenblicklich Habakuk, ein Papagei, der alles nachplappert, was er hört.«

Ein Lächeln huschte über Daniels ernstes Gesicht.

»Malu wird dort fröhlich und wie ein unbeschwertes Kind heranwachsen. Ich nehme Ihren Vorschlag gern an, Herr Doktor. Wenn ich lange spazieren gehe, dann spüre ich diese Schwäche oft sehr stark. Aber ich möchte keinesfalls, dass Malu durch einen Schwächeanfall noch einmal beunruhigt wird. Sie soll keine Angst davor haben, eines Tages ohne mich zu sein. Es wird sowieso hart genug für sie werden, sich damit abzufinden.«

»Frau von Schoenecker hat die richtige Gabe, kleine traurige Herzen zu trösten, Herr Kollberg. Ich bewundere die Gelassenheit, mit der Sie dieses Wissen tragen.«

»Da gibt es nichts zu bewundern, Herr Doktor. Ich muss mich jeden Tag aufs Neue ermahnen, nicht in Panik auszubrechen. Und doch, manchmal denke ich, dass der Tod eine Erlösung für mich sein wird. Mein Leben ist verpfuscht, und für Malu wird es vielleicht gut sein, wenn jede Erinnerung an ihre früheste Jugend erlischt, wenn sie erfährt, dass es auch Mütter gibt, die ihre Kinder lieben und sie niemals im Stich lassen.«

Daniel Kollberg erhob sich und drückte die Hand des Arztes herzlich und dankbar.

*

»Freust du dich auch so auf diesen Ausflug, Benny?«

Malu hockte auf dem schmalen Balkon und bürstete Bennys dichtes Fell. Immer wieder zog sie den Stahlkamm durch die Bürste und legte die ausgekämmten Hundehaare in den Abfall­eimer.

»Du kriegst einen Sommerpelz und verlierst deine Haare. Schau nur, wie viel es sind! Tante Helma würde jetzt wieder auf dich schimpfen.«

Benny hechelte und gab Malu blitzschnell ein feuchtes Küsschen auf die Hand.

»Da wird ja einer ganz besondes fein frisiert.«

Daniel stand in der Balkontür und sah auf das Bild, das sich ihm bot.

»Er muss doch schön sein, wenn er in Dr. Kramers Auto mitfährt. Ich finde es sehr lieb, dass der Doktor uns zu diesem Ausflug eingeladen hat. Zum ersten Mal in meinem Leben darf ich mit einem richtig tollen Auto mitfahren.«

»Ich freue mich, dass es dir so viel Vergnügen macht, Malu. Ich habe deinen kleinen Rucksack mit Proviant gepackt. Wir können ihn abwechselnd tragen.«

»O nein, das kann ich allein. Ob das Wetter auch so schön bleibt?«

Besorgt sah Malu zum Himmel empor. Aber der war strahlend blau. Nicht eine einzige kleineWolke war zu sehen.

»So, Benny, nun bist du wirklich ein ganz wunderschöner Hund. Das schöne Halsband von Vati sieht jetzt noch mal so gut aus. Bleib brav sitzen. Ich muss mir rasch die Hände waschen.«

Sie war gerade dabei, noch einmal über die Schuhe zu putzen, als unten auf der Straße eine Hupe erklang.

»Da ist der Herr Doktor schon. Wir wollen ihn nicht warten lassen!«

Dr. Kramer begrüßte sie alle herzlich. Herr Kollberg setzte sich neben ihn, während Malu auf dem Rücksitz Platz nahm. Benny kam natürlich auf eine Decke im anderen Fußraum.

»Wohin fahren wir denn, Herr Doktor?«

»Das wird nicht verraten«, gab dieser zurück. »Irgendwohin, wo es noch Feen gibt. Dort lassen wir den Wagen stehen und machen uns zu Fuß auf die Suche nach ihnen.«

»Gibt es wirklich noch Feen, Herr Doktor?« Malu sah den Arzt zweifelnd an.

»Es gibt sie. Man muss nur daran glauben, Malu.«

So sehr sich Malu anstrengte, sie konnte kein einziges Lachfältchen im Gesicht des Arztes entdecken. Also gab sie ihre Zweifel auf.

Wenn Dr. Kramer das so bestimmt sagte, dann musste es wohl auch stimmen.

Er war schließlich sehr gescheit und sogar ein Doktor. Doch sie beschloss aufzupassen, wohin sie fuhren. Vielleicht, wenn ihnen die Fee diesmal nicht begegnen sollte, konnte sie später mit Benny noch einmal versuchen, sie zu treffen.

Mit großen Augen und einem glücklichen Herzen bestaunte sie die Wiesen zu beiden Seiten der Straße. Als sie Pferde entdeckte, stieß sie einen leisen Jubelruf aus.

»Ob man sie anfassen darf? Ich würde so gern mal ein Pferd streicheln.«

»Fremde Tiere soll man nicht anlangen, Malu. Sie müssen gar nicht böse sein. Manchmal schnappen sie einfach aus Furcht zu. Sie können ja nicht wissen, ob ein Mensch es gut mit ihnen meint oder nicht.«

»Ja, das stimmt. Aber ich habe sie doch alle lieb«, versicherte Malu.

Dann herrschte wieder für eine Weile Schweigen. Dr. Kramer fuhr jetzt eine Waldchaussee entlang und bog dann in einen schmalen Weg ein. Malu hatte sich eingeprägt, was auf dem Straßenschild am Anfang der Chaussee gestanden hatte: Engelsbach. Das klang hübsch, das konnte man nicht vergessen.

*

Irene Walters stand in der Küche und war mit der Zubereitung des Mittagessens beschäftigt.

Seit Daniels Besuch waren mehr als vierzehn Tage vergangen. Und seit dieser Zeit wurde zwischen Kurt und ihr kaum noch ein Wort gewechselt. Sie grollte ihm, weil er so herzlos war, und er grollte ihr, weil sie es wagte, sich offen gegen ihn zu stellen.

Die Arbeit für ihre Familie hatte ihr sonst immer Freude bereitet.

Doch in letzter Zeit tat sie sie ungern. Es war ganz gleich, was sie arbeitete, immer musste sie an Daniel und Malu denken.

»Kann ich dir helfen, Mutti?«

Hilde kam zur Tür herein und umfing ihre Mutter mit beiden Armen. Sie drückte ihr einen herzhaften Kuss auf die Lippen.

»Setz dich ein bisschen zu mir, Kind. Zu helfen gibt es nichts mehr. Ich hab ja gestern schon alles vorbereitet.«

»Ich wollte schon lange mal allein mit dir sprechen, Mutti.« Hilde strich sich das kurzgeschnittene braune Haar zurück, von dem immer wieder eine eigensinnige Strähne ins Gesicht fiel. »Ich bin verliebt, Mutti. Und Günter ist ein wundervoller Mensch. Ich hätte ihn schon längst einmal mitgebracht. Doch du weißt ja, wie Papa ist. Und ich würde es nicht ertragen, wenn er ihn ausfragte, was er verdient und so.«

»Hilde, mein Kind. Bist du auch sicher, dass es der richtige Mann ist?«

»Wann kann man da schon sicher sein, ich meine, so ganz sicher? Liebe ist doch etwas, was ganz von selbst kommt und dem man wehrlos gegen­übersteht. Das weißt du doch selbst am besten, Mutti.«

»Ja, ja. Doch seit Vater so herzlos zu dem armen Daniel war, weiß ich nicht, ob ich ihn noch immer lieben kann.«

»Er kann so nett und gut sein, und dann wieder ist es so, als habe er ein Brett vor dem Kopf oder Scheuklappen, die ihn nur in eine Richtung sehen lassen. Aber Günter kann er mir nicht ausreden. Lieber gehe ich weg von hier.« Sie fasste nach Irenes Hand. »Das verstehst du doch, Mutti, nicht wahr? Und du und ich, wir bleiben doch die, die wir sind. Wir wissen ja, wie wir zueinander stehen. Vielleicht kommt Vater dann mal zur Besinnung.«

»Ich hab alle Hoffnung aufgegeben, Hilde. Denn wer einem todkranken Menschen nicht mal die Sorge um sein Kind abnehmen will, der hat ja nun wohl wirklich kein Herz für andere. Auch nicht für die, die ihm nahestehen. Es wird schwer für mich sein, wenn du tatsächlich gehst. Doch ich sehe ein, dass du ein Recht darauf hast, selbst über dein Leben zu entscheiden.«

»Ich wusste es ja, Mutti, dass du mich verstehst. Und so gern würde ich auch mit Vater mal so reden wie mit dir. Aber man kann es einfach nicht. Besteht für Onkel Daniel denn wirklich keine Hoffnung mehr?«

Irene schüttelte den Kopf. »Der Arzt würde ihm doch so etwas nicht sagen, wenn es nicht stimmte.«

»Ärzte können sich doch auch irren, Mutti.«

»Ja, gewiss. Doch man braucht Daniel ja nur anzuschauen, um zu begreifen, dass er wirklich krank ist. Er hat nie was Gutes in seinem Leben erfahren, außer, dass Malu ihn heiß und innig liebt. Und gerade deswegen bekümmert es ihn umso mehr, was aus ihr wird, wenn er nicht mehr lebt.«

Hilde streichelte den Arm ihrer Mutter. »Was hältst du davon, wenn wir beide nach dem Essen einen Spaziergang machen? Wir könnten auch ins Kino gehen, wenn du Lust dazu hast.«

»Kein schlechter Gedanke. Es wird mir ganz guttun, mal rauszukommen. Vielleicht könnten wir auf dem Rückweg bei Daniel vorbeischauen.«

Das Mittagessen verlief, wie immer in der letzten Zeit, schweigend. Danach zog sich Kurt Walters in sein Büro zurück. Vom Fenster aus beobachtete er, dass Irene und Hilde weggingen. Sie hatten sich eingehakt, und Hilde erzählte eifrig etwas.

Es verdross ihn, dass sie sich allem Anschein nach ohne ihn gut amüsierten. Nicht eine Sekunde überlegte er, dass er selbst sich durch sein Verhalten so isoliert hatte.

*

Der Waldboden war so weich wie ein Teppich. Es duftete nach Tannen und Pilzen, und die Moosblüten sahen aus wie winzige Sterne, die in das dunkle Grün eingestickt waren. Ein Hase hoppelte vorüber, und in der Ferne kreuzte ein Rudel Rehe den Waldpfad.

»Pst«, ermahnte Malu den Wolfsspitz, der an der Leine zog und am liebsten vorwärtsgestürmt wäre. »Bleib stehen, dummer Benny. Du bist hier nur zu Gast und musst brav sein. Hasen und Rehe sind hier zu Hause, du darfst sie doch nicht erschrecken.«

Daniel und Dr. Kramer standen ein paar Schritte hinter Malu. Sie hörten, was sie dem Hund zuflüsterte, und sahen sich lächelnd an. Dr. Kramer dachte bei sich, dass Malu gut zu den anderen Kindern von Sophienlust passen würde.

Erst als die Rehe verschwunden waren, setzten sie ihren Weg fort.

Der Wald wurde lichter, der Weg breiter.

Jetzt hörten sie, zunächst noch aus weiter Entfernung, dann immer näher, fröhliches Lachen und Sprechen vieler Kinderstimmen. Über die dichte Buchenhecke, die den Weg nach der einen Seite abgrenzte, flog plötzlich ein bunter Ball.

Benny rannte mit lustigem Gekläff hinterher, schnappte den Ball mit spitzen Zähnen und trug ihn stolz zu Malu, um ihn ihr vor die Füße zu legen.

»Den müssen wir doch zurückgeben, Benny. Er gehört uns nicht. Doch wem gehört er wohl?«

»Er gehört mir«, erscholl die helle Stimme Dominik von Wellentin-Schoeneckers hinter Malu, die sich nun umwandte. Verblüfft sah sie auf den Jungen, der sich durch ein Loch in der Hecke zwängte. Benny hatte den Ball gleich wieder aufgenommen und war ein Stück weitergelaufen.

»Komm, sei ein guter Hund, gib mir den Ball«, versuchte Dominik den Hund zu locken. Doch Benny sah zu Malu hinüber.

»Gib schon her, Benny«, forderte Malu ihn auf. »Hast du so viele Geschwister?«, fragte sie danach den Jungen. »Ich höre schon die ganze Zeit euer Lachen.«

»Das sind nicht alles meine Geschwister«, antwortete Dominik. »Aber wir gehören trotzdem zusammen. Wie heißt du? Bist du ganz allein hier?«

Daniel und Dr. Kramer waren im Gespräch hin und wieder stehen geblieben. Sie hatten sich absichtlich ein Stück hinter Malu gehalten, damit das Kind nichts von dem hörte, was zwischen ihnen besprochen wurde.

»Ich heiße Malu, und das ist Benny. Mein Vater und der Herr Doktor kommen dahinten. Ich wohne in der Stadt. Aber ich würde lieber hier sein, wo es die vielen Bäume gibt und den schönen Wald mit seinen Tieren. In der Stadt sind nur große Häuser. Wer bist du denn?«

»Ich bin Dominik von Wellentin-Schoenecker. Und das hier alles gehört zum Gut Sophienlust. Ich habe es von meiner Urgroßmutter geerbt. Wenn ich groß bin, kann ich alles selber machen, was man tun muss. Jetzt tut Mutti das für mich und Vati. Willst du nicht mitkommen? Du könntest alle kennenlernen und dir Senta und ihre Kinder anschauen. Darf ich deinen Benny mal streicheln?«

»Sicher darfst du das, Dominik.«

»Kannst ruhig Nick zu mir sagen. Das tun alle«, erlaubte Nick und beugte sich zu Benny hinab, um ihn hinter den Ohren zu kraulen. »Was ist denn Malu für ein Name? Er ist hübsch, doch ich habe ihn noch nie gehört.«

»Eigentlich heiße ich ja auch Marie-Luise. Aber als ich klein war, konnte ich das nicht richtig aussprechen, da sagte ich immer Malu. Und deshalb heiße ich jetzt so. Da kommen Vati und der Herr Doktor. Dürfen sie sich auch alles ansehen?«

»Sicher! Aber zuerst gehen wir zu Mutti und meinem Vati, denn wenn mir auch alles hier gehört, so muss ich doch um Erlaubnis fragen.«

Dominik sah den beiden Ankommenden entgegen. Dann lächelte er freundlich.

»Sie sind doch Herr Doktor Kramer, ein Freund von Onkel Werner«, rief er. »Das finde ich nett, dass Sie Malu kennen und zufällig hier bei uns spazieren gehen.Guten Tag.«

»Das ist Herr Kollberg, Nick, der Vater von Malu. Ich sehe, ihr habt euch schon kennengelernt.«

Dominik bejahte eifrig. »Ich möchte ihr gern alles von Sophienlust zeigen. Sie hat Tiere gern und Kinder bestimmt auch.« Er fasste Malus Hand. »Komm, wir laufen schon voraus. Deinen Benny kannst du ruhig von der Leine freimachen. Hier kann er nach Herzenslust herumspringen.«

»Ein reizender Junge«, sagte Daniel Kollberg, als die Kinder außer Hörweite waren.

»Ja, man muss ihn sofort ins Herz schließen«, stimmte Dr. Kramer zu. »Frau von Schoenecker hatte wieder einmal den richtigen Gedanken, als sie vorschlug, dass Sie Sophienlust kennenlernen sollten. Sicher wird Ihnen nun schon leichter ums Herz sein.«

Daniel nickte. »Hier scheint wirklich das Paradies zu sein. Nicht nur für Kinder«, fügte er gedankenvoll hinzu.

Von Malu und Nick war nichts mehr zu sehen, als die beiden Herren jetzt den großen Hof betraten. Dr. Kramer steuerte zielsicher auf den Mittelbau des großen Hauses zu.

Lena öffnete die Tür und wünschte freundlich guten Tag. Sie kannte Dr. Kramer bereits, und als dieser Daniels Namen nannte, sagte sie: »Frau von Schoenecker erwartet Sie schon. Nick war bereits mit der kleinen Malu hier. Jetzt sind die Kinder zu den Ställen gegangen. Bitte, wenn Sie gleich mitkommen wollen.«

Sie öffnete eine der hohen Türen und meldete: »Die Herren sind jetzt da, Frau von Schoenecker.«

Denise erhob sich und ging den Besuchern entgegen. Sie trug ein schlichtes gelbes Seidenkleid, das ihre Schönheit noch mehr hervorhob.

»Ich freue mich, dass Sie gekommen sind.«

Sie reichte Daniel Kollberg mit einem lieben Lächeln die Hand und begrüßte dann Dr. Kramer.

»Ihre kleine Malu habe ich schon ins Herz geschlossen. Ein liebes, bescheidenes, gut erzogenes Kind.«

»Danke, Frau von Schoenecker«, erwiderte Daniel Kollberg. Dann ließ er sich schwerfällig nieder. Das Makabre der Situation kam ihm so deutlich zum Bewusstsein wie noch nie zuvor. Trotzdem war er dankbar, dass das Schicksal in Gestalt Dr. Kramers dafür gesorgt hatte, dass Malu künftig hier bei dieser wunderschönen und herzenswarmen Frau geborgen sein würde.

»Ich bin Ihnen von Herzen dankbar, dass Sie meiner kleinen Malu auf Sophienlust eine neue Heimat geben wollen, wenn …, wenn sie allein zurückbleibt. Hier wird sie das finden, was ich immer für sie wünschte: Unbeschwertheit und Fröhlichkeit, Spielgefährten und ein wunderschönes Heim, ganz zu schweigen davon, dass ein Kind sich wohl kaum eine selbstlosere, liebenswürdigere Vizemutti wünschen könnte.«

»Sie machen mich verlegen, Herr Kollberg. Ich liebe Kinder, und ich musste infolge widriger Umstände lange Zeit auf meinen kleinen Sohn verzichten. Ich weiß, wie schwer er unter der Trennung litt und darunter, dass das Heim, in das ich ihn gab, eben doch nur ein Kinderheim war. Ich habe mir vorgenommen, aus dieser Erfahrung heraus alles etwas besser zu machen. Und ich hatte das Glück, in meinen Mitarbeitern Menschen zu finden, die ähnlich denken wie ich. Doch jetzt sollten wir uns erst einmal stärken. Ich habe Tee und Kuchen servieren lassen. Es wäre nett, wenn Sie mir die Freude machen würden, meine Gäste zu sein. Die Kinder werden drüben im Speisesaal ihren Kakao bekommen.«

Sie erhob sich anmutig, und ihren graziösen Bewegungen merkte man noch immer die ehemalige Tänzerin an.

*

Währenddessen bestaunte Malu andächtig die Ponys, die auf Nicks Ruf hin angetrabt kamen.

»Darf man die mal anfassen, Nick?«, erkundigte sie sich.

»Sicher. Hier, nimm mal. Musst es auf die flache Hand legen, dann können sie es besser fressen.«

Nick holte aus den unergründlichen Tiefen seiner Hosentaschen ein paar Stücke Würfelzucker hervor und gab sie Malu.

Benny schob sich eifersüchtig dicht an Malus Beine heran. »Darf ich ihm auch ein Stück Zucker geben, Nick? Sonst ist er beleidigt.«

»Sicher, gib ihm nur was. Ich hab noch mehr.«

»Bist mein Bester.« Malu tätschelte den Spitz und gab ihm ein Stück Zucker. Dann erst fütterte sie die Ponys.

»Sie sind wirklich wunderhübsch und haben so schöne weiche Nasen. Reitet ihr auf ihnen?«

»Natürlich. Willst du’s mal versuchen. Sie sind lammfromm. Ich führe eines am Zügel. Komm, wir kriechen zwischen den Balken des Zaunes durch.«

»Du musst hier sitzen bleiben, Benny«, ermahnte Malu den Hund. »Vielleicht mögen es die Ponys nicht, wenn du bellend herumläufst, und dann treten sie aus und dir passiert was.«

»Machen sie nicht«, erklärte Nick. »Sie sind ja Hunde gewohnt. Wir haben doch Senta und ihre Kinder. Kommst du jetzt?«

Malu kroch ebenfalls durch den Zaun. Sie hatte zwar ein bisschen Angst, doch sie genierte sich, das zuzugeben. Dominik war schließlich jünger als sie und fürchtete sich nicht. Und das graue Pony sah wirklich sehr lieb aus.

»Wie heißen die Ponys eigentlich, Nick?«

»Das schwarze Pony heißt Nicki. Es ist meins. Und das graue heißt Bambino. Das ist italienisch und heißt Junge.«

»Komm, Bambino«, lockte Malu das Tier. Das Pony trabte zutraulich näher heran und blieb vor Malu stehen.

»Steig auf, Malu.«

Malu war ein bisschen ungeschickt, aber sie kam mit einiger Anstrengung doch auf Bambinos Rücken.

»Prima«, lobte Nick. »Für’n Mädchen aus der Stadt bist du ganz schön mutig. Jetzt schnalz mal mit der Zunge, dann trabt es an.«

Malu gehorchte. Sie war entzückt, als sich Bambino tatsächlich langsam in Bewegung setzte. Ein herrliches Gefühl, von einem Pony durch die Gegend getragen zu werden!

Benny hatte den Kopf schief gelegt. Er hechelte vor Aufregung und ließ Malu nicht aus den Augen. Als sich das komische große Tier nun mit ihr entfernte, vergaß er, dass er sitzen bleiben sollte. Er raste mit lautem Gebell hinter Bambino her.

»Bist du verrückt, Benny?«, schrie Malu.

»Halt dich lieber fest«, erinnerte Nick sie. »Bambino tut Benny ganz bestimmt nichts. Und es ist doch ganz lustig, wenn er neben dir herläuft. Gefällt dir das Reiten?«

»Es ist sehr schön, Nick. Hier ist es überhaupt wunderschön. Wie im Paradies. Oder so, wie ich mir das Paradies vorstelle. Du musst doch sehr froh sein, dass du hier immer wohnen darfst.«

»Bin ich auch, Malu. Wenn es dir so gut bei uns gefällt, dann komm doch, sooft du willst, zu Besuch. Ich zeig dir jetzt mal unsere Kinderzimmer. Da wirst du erst staunen!«

Er half Malu beim Absteigen vom Pony und drückte ihr noch ein Stück Zucker in die Hand.

Sie gab es Bambino und kraulte das Pferd zwischen den Augen. »Ich besuch dich wieder, Bambino.«

»Nick, Nick!«

Malu blieb stehen, als sie die krächzende Stimme hörte. Und dann sah sie den Papagei, der aufgeregt von einem Ende der Stange zur anderen trippelte, als er Nick sah.

»Guten Tag, Habakuk.«

»Habakuk, Habakuk«, schrie der Papagei im höchsten Diskant. »Habakuk brrav.«

»Das ist Malu. Sag mal Malu.«

»Alu, Alu«, rief der Papagei.

Benny war der Vogel nicht geheuer. Er begann leise zu knurren.

»Nicht doch, Benny. Das ist ein großer Vogel, der sprechen kann. Wenn du ein Papagei wärst, dann hätte ich dir auch schon das Reden beigebracht.«

»Blaff«, machte Benny beleidigt, wandte sich von dem komischen Vogel ab und trottete zur Tür, wo er sich wartend niederließ.

Malu war sehr beeindruckt von den schönen Zimmern mit den modernen Möbeln, die immer für zwei Kinder eingerichtet waren. Die Bäume des Parks wuchsen direkt vor den Fenstern, und man sah auf eine große Rasenfläche und viele Blumen.

Wenn sie mit Vati so wohnen könnte, dann würde er auch bestimmt wieder richtig gesund werden, dachte Malu unwillkürlich.

Es wurde später Nachmittag, bis die Besucher den Heimweg antraten.

»Auf Wiedersehen, Malu!«

Denise von Schoenecker beugte sich vor und küsste Malu auf die Stirn. Ihr liebevolles Herz empfand tiefes Mitleid für das Kind, das nicht ahnte, welches Schicksal ihm bevorstand.

Malu wurde rot vor Freude. Sie beobachtete Nicks schöne Mutter, und ganz tief in ihrem Herzen stellte sie sich die Frage, warum gerade sie eine Mutter hatte, die sich nichts aus ihrem Kind machte. Und nichts aus ihrem Vati. Wie wunderschön musste es sein, eine Mutti zu haben, mit der man über alles reden konnte, die einen mal in die Arme nahm und lieb hatte und einen küsste, wie Frau von Schoenecker eben.

»Auf Wiedersehen, Frau Schoenecker. Vielen Dank. Es war wunderschön bei Ihnen, und der Kakao und der Kuchen waren sehr lecker.«

»Schön, dass es dir gefallen hat, Malu. Besuch uns doch wieder mal. Und deinen Hund darfst du auch mitbringen.«

Malu winkte so lange zurück, solange sie Nick sehen konnte.

»Das war wunderschön«, meinte sie begeistert. »Ich bin auf dem Pony Bambino geritten und habe es mit Zucker gefüttert, und Habakuk hat sogar meinen Namen gesagt.«

Sie erzählte übersprudelnd von ihren Erlebnissen und redete sich so müde, dass ihr Kopf wenig später gegen das weiche Rückenpolster fiel und sie tief und fest einschlief. Erst, als sie vor Kollbergs Haustür anhielten, weckte Daniel seine Tochter.

*

Malu war gar nicht richtig wach geworden. Sie hatte auch keinen Hunger mehr und ging gleich zu Bett. Sie schlief schon wieder tief und fest, kaum dass sie sich niedergelegt hatte.

Daniel setzte sich im Wohnzimmer in den Sessel. Er überdachte den Tag. Sein Herz war voller Dankbarkeit, dass Denise von Schoenecker ihm die Sorge um Malus Zukunft abgenommen hatte. Sein Kind würde es guthaben bei dieser großartigen Frau, und die Gegenwart der anderen Kinder würde Malu darüber hinweghelfen, dass sie dann ganz allein auf der Welt war – ohne einen Menschen, der so zu ihr gehörte, wie er jetzt.

Die Stiche im Rücken, die ihn seit langer Zeit quälten, nahmen wieder einmal an Heftigkeit zu. Es war besser, wenn er sich gleich niederlegte.

Etwas später erwachte Malu davon, dass Benny bellte und sie immer wieder mit seiner feuchten Schnauze anstieß. Sie knipste die Nachttischlampe an.

»Was ist denn los, Benny? Warum machst du solchen Krach?«

Der Hund bellte noch einmal und lief zur Tür. Dort stellte er die Ohren auf und sah zu Malu hinüber.

Jetzt erst hörte das Kind das qualvolle Stöhnen. Mit einem Satz war Malu aus dem Bett. Sie lief zur Tür und streifte dabei ihren alten Bademantel über, der ihr viel zu kurz war. Als sie die Tür öffnete, wurde das Stöhnen lauter. Vatilein musste krank sein …

Malu lief in das Schlafzimmer ihres Vaters und machte die kleine Lampe an. Daniel Kollberg wälzte sich im Bett hin und her, dabei stöhnte er unaufhörlich. Sein Gesicht war hochrot, seine Augen waren geschlossen.

»Vatilein«, rief Malu mit tränenerstickter Stimme. »Vatilein, bitte schau mich doch an. Was soll ich tun? Wie kann ich dir nur helfen?«

Daniel Kollberg antwortete nicht. Er stöhnte weiter.

Malu ängstigte sich sehr. Fieberhaft überlegte sie, was sie tun könnte. Bis ihr Dr. Kramer einfiel. Sie musste ihn holen. Hastig lief sie in ihr Zimmer zurück und kleidete sich an.

»Komm mit, Benny. Du musst mich jetzt beschützen. Du weißt ja, dass ich mich im Dunkeln fürchte. Doch wir müssen zu Doktor Kramer. Vatilein braucht seine Hilfe.«

Bevor sie ging, sah sie noch einmal nach ihrem Vater. Er lag noch immer so da wie zuvor.

Malu lief leise die Treppe hinunter. Bevor sie die Haustür aufsperrte, holte sie noch einmal tief Luft. Als sie dann durch die nächtlichen Straßen lief, schickte sie in Gedanken ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel. Gut, dass Dr. Kramer nicht weit entfernt wohnte. Obwohl Benny sich dicht an ihrer Seite hielt, fürchtete sich Malu entsetzlich. Ein paarmal sah sie einen Schatten und glaubte, ihr käme jemand entgegen. Sie war erleichtert, als sie endlich vor Dr. Kramers Haus stand. Sie drückte auf den Klingelknopf.

Ein Fenster wurde geöffnet.

»Wer ist da?«

»Bitte, Herr Doktor, könnten Sie wohl gleich mitkommen? Meinem Vater geht es nicht gut. Er stöhnt immerzu und hat mich nicht einmal angeschaut, als ich ihn rief.«

»Sofort«, antwortete Dr. Kramer. »Ich mache dir die Tür auf, du kannst hier drinnen auf mich warten.«

Sekunden später erschien er und schob Malu ins Wartezimmer. »Ich bin gleich fertig. Dann gehen wir zusammen.«

Malu konnte sich einfach nicht hinsetzen. Sie blieb auf dem Fleck stehen. Ihr kleines Herz war wie erstarrt vor Angst. Immerzu hörte sie in Gedanken das qualvolle Stöhnen ihres Vaters und wünschte, dass sie bei ihm wäre. Vielleicht war er gerade jetzt aufgewacht und rief nach ihr.

Dr. Kramer kam. Die Arzttasche trug er schon bei sich.

»Benny hat mich geweckt«, erzählte Malu. Sie war froh, dass Dr. Kramer wie selbstverständlich nach ihrer Hand gefasst hatte. »Sonst hätte ich es gar nicht gehört. Ist es schlimm, Herr Doktor? Wird Vati wieder gesund?«

»Du bist wirklich ein tapferes Mädchen. Sicher hast du dich mitten in der Nacht allein auf der Straße sehr gefürchtet?«

»Ja. Es war grässlich. Aber ich musste doch etwas tun. Ich konnte ihm doch nicht helfen.«

Der Rückweg an Dr. Kramers Seite erschien ihr kürzer als der Hinweg. Als sie die Korridortür aufschloss, stöhnte der Kranke noch immer.

Malu wusste nicht, warum der Arzt ihr tröstend über das blonde Haar strich. Sie ahnte nicht, dass Dr. Kramer hörte, dass der letzte Kampf für Daniel Kollberg bereits begonnen hatte. Gut für Daniel Kollberg. Er hatte bestimmt keine Ahnung davon gehabt, wie rasch es gehen würde.

»Soll ich Ihnen eine Tasse Kaffee kochen, Herr Doktor? Ich darf ja jetzt doch nicht hierbleiben, wenn Sie Vati untersuchen.«

Dr. Kramer verschob rasch die Bettdecke, damit Malu die Blutflecken auf der Schlafanzugjacke des Vaters nicht sehen konnte. Der Schock war für das Kind ohnehin groß genug.

»Das wäre nett, Malu. Ich rufe dich, sobald ich mit der Untersuchung fertig bin.«

Malu ging in die Küche. Benny lief ihr nach und verkroch sich unter der alten Küchenbank.

Als Malu den Kaffee fertig hatte, rief Dr. Kramer nach ihr, und sie brachte ihm die Tasse ins Schlafzimmer.

»Ist Vati aufgewacht?«, fragte sie. Das Stöhnen war leiser geworden.

»Nein, Malu.« Dr. Kramer nahm Malu die Kaffeetasse aus der Hand und stellte sie auf den Nachttisch.

»Komm, setz dich hierher.«

Malu gehorchte. Die Angst saß ihr immer noch wie ein dicker Kloß in der Kehle. Das alles war so unheimlich wie in einem schlimmen Traum. Sie wunderte sich, dass Dr. Kramer den Arm um ihre Schulter legte.

»Du wirst nun ein tapferes Mädchen sein müssen, Malu.« Es fiel Dr. Kramer schwer, die richtigen Worte zu finden. Ganz gleich, wie er es auch ausdrückte, das, was er Malu zu sagen hatte, würde das Kind tief in seiner kleinen Seele treffen.

»Muss Vati … sterben?«, fragte Malu, erfüllt von Angst. Dicke Tränen perlten aus ihren Augen und liefen über ihre Wangen.

»Er ist sehr krank, Malu, und er hat immer starke Schmerzen gehabt. Wenn alles vorüber ist, dann wird er nichts mehr spüren.«

»Nein, nein«, weinte Malu auf. »Das kann der liebe Gott doch nicht zulassen. Dann habe ich niemanden mehr, der mich lieb hat.Warum tut Gott das? Es wäre doch besser, ich würde mit ihm sterben.«

»Weine nicht, mein Kleines«, tröstete Dr. Kramer. »Wenn du auch sterben würdest, wer sollte sich dann um Benny kümmern?«

»Ach, Benny, an ihn habe ich gar nicht mehr gedacht. Er spürt, dass irgendetwas mit Vati geschieht. Er hat sich verkrochen. Das tut er sonst nie.«

Sie verstummte. Ihr Blick war auf den Vater gerichtet. Und der Gedanke, dass sie nie mehr mit ihm würde sprechen können, dass er nie mehr Schätzchen zu ihr sagen würde, drückte ihr fast den Atem ab. Plötzlich brach das Schluchzen aus ihr heraus wie ein Sturzbach. Sie weinte so hemmungslos, dass sie darüber den allerletzten Seufzer ihres Vaters überhörte.

Draußen begann es bereits zu dämmern. Das liebliche Gezwitscher der Vögel erfüllte die Morgenfrühe.

Dr. Kramer bedauerte es, dass Malu nicht in Sophienlust geblieben war. Er überlegte, ob es nicht besser war, das Kind heute hinzubringen. Doch dann sagte er sich, dass er erst mit den Verwandten sprechen müsse.

Er stand auf und öffnete seine Arzttasche. Er würde Malu eine Beruhigungsspritze geben, nach der sie für einige Stunden fest und tief schlafen würde.

Er brachte sie selbst ins Bett und ließ Benny zu ihr ins Zimmer.

Zuerst rief er bei Irene Walters an. Sie war gleich selbst am Telefon. So schonend wie möglich teilte er ihr die Nachricht mit.

»Wo ist Malu?«

»Sie schläft. Ich habe ihr eine Spritze gegeben. Aber es wäre gut, wenn Sie mich bald aufsuchen würden. Ich habe den Wohnungsschlüssel Ihres Herrn Bruder.«

»Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen.«

*

»Daniel ist tot.«

Hilde, die eben die Küche betreten hatte, hörte die Worte nur undeutlich, weil ihre Mutter heftig weinte. Sie nahm sie behutsam in die Arme.

»Weine nicht, Mutti. Onkel Daniel ist nun von seinem Leiden erlöst. Er wäre doch nicht mehr gesund geworden. Aber was wird nun aus der armen Malu?«

»Das ist es ja, was mich noch elender macht. Ich hab dir dein Frühstück hergerichtet. Jetzt muss ich sofort zu Dr. Kramer, er hat mich vorhin angerufen.«

»Mutti, ich komme nach dem Dienst gleich zu Onkel Daniels Wohnung. Ich werde bei Malu bleiben, bis die Beerdigung vorüber ist. Bis dahin können wir uns überlegen, was werden soll. So ist Malu wenigstens in den ersten Tagen nicht allein.«

»Du bist ein liebes Kind, Hilde.«

Irene verabschiedete sich von ihrer Tochter und verließ das Haus. Unentwegt beschäftigte sie die Frage, was aus Malu werden sollte. Wenn sie ein bisschen Geld gehabt hätte, dann hätte sie Kurt dazu gezwungen, über seine Unmenschlichkeit nachzudenken, indem sie einfach zu Malu gezogen wäre. Aber sie besaß kein Geld, und es war müßig, einen solchen Plan in Erwägung zu ziehen.

Dr. Kramer wusste gleich, wen er vor sich hatte, als er ihr die Tür öffnete. Die Dame hatte eine ziemliche Ähnlichkeit mit ihrem Bruder, der ihm in den letzten Monaten seines Lebens fast ein lieber Bekannter geworden war.

»Ich danke Ihnen, dass Sie sich so um Daniel gekümmert haben, Herr Doktor. Es wäre ja meine Sache gewesen. Doch mein Mann hält nichts von Verwandten, die krank und auf Hilfe angewiesen sind.« Sie tupfte sich mit dem Tuch die Tränen von den Augen. »Leider kann ich mich nicht gegen ihn durchsetzen. Doch ich habe mir fest vorgenommen, wenigstens in diesen Tagen in Malus Nähe zu sein. Wie gern würde ich das Kind in unser Haus nehmen, doch mein Mann erlaubt es nicht.«

Dr. Kramer hielt es für verfrüht, Irene Walters etwas davon zu sagen, dass für Malu bereits eine neue Heimat gefunden war. Er wusste nicht, ob Daniel Kollberg ein Testament hinterlassen hatte und was darin festgelegt worden war.

»So etwas erlebe ich häufiger. Leider sind die Egoisten unter uns in der Überzahl. Werden Sie sich um die Formalitäten für das Begräbnis Ihres Bruders kümmern oder soll ich das übernehmen?«

»Wenn Sie mir das abnehmen könnten, Herr Doktor, ich wäre Ihnen dankbar. Mein Bruder war gewiss in einer Versicherung.«

»Ich kenne seinen Anwalt. Der wird mir Genaueres über alles sagen können.«

*

Als Irene später zu Daniels Wohnung ging, dachte sie über Dr. Kramers Worte nach. Daniel hatte einen Anwalt damit beauftragt, alles nach seinem Tode zu ordnen. Das begriff sie nicht. Daniel hatte doch nie nennenswerte Reichtümer besessen! Aber vielleicht hatte er etwas für Malus Ausbildung zurückgelegt und auch bestimmt, wie dieses Geld verwendet werden sollte.

Die Wohnung war totenstill. Zuerst ging Irene in Daniels Schlafzimmer. Sie weinte wieder, als sie den Bruder so still und bleich daliegen sah. Wie von selbst falteten sich ihre Hände zu einem Gebet. Dann sah sie nach Malu. Das Kind schlief tief und fest. Und Benny kam verschüchtert unter dem Bett hervorgekrochen, um zu sehen, wer da war. Dann verschwand er wieder. Irene zog sich lautlos zurück. Sie begann damit, die Wohnung aufzuräumen. Sie musste einfach etwas zu tun haben.

Als es läutete, erschrak sie. Draußen standen die Männer vom Bestattungsamt.

»Bitte, seien Sie so leise wie möglich«, bat Irene.

»Warum? Der Verblichene hört uns doch nicht mehr«, meinte einer der Männer.

»Meine Nichte schläft. Ich möchte nicht, dass sie gerade jetzt aufwacht und noch einmal auf diese Weise mit dem Tod ihres Vaters konfrontiert wird.«

»Wir werden sehr behutsam arbeiten«, sagte ein anderer.

Später begann Irene erneut zu weinen, als der Sarg aus der Wohnung getragen wurde. Schluchzend sank sie in der Küche auf einen Stuhl. Sie zögerte zu öffnen, als es erneut klingelte. Doch aus Angst, Malu könnte aufwachen, machte sie schließlich doch auf. Helma stand draußen.

»Warum erfahre ich es nicht sofort, wenn mein einziger Bruder stirbt?«, fragte sie theatralisch. »Und du bist nicht mal schwarz angezogen.« Der Blick, mit dem sie Irene streifte, war mehr als missbilligend. Sie selbst war von Kopf bis Fuß in tiefes Schwarz gehüllt.

»Die Trauer zeigt sich weiß Gott nicht in einem schwarzen Kleid, Helma. Ich möchte nicht mit dir streiten, beherrsche dich also bitte. Wir sind in einem Trauerhaus.«

»Das weiß ich selbst. Wo ist denn Marie-Luise? Und der Hund? Der muss natürlich sofort weg.«

»Und warum, wenn ich fragen darf? Willst du Malu vielleicht zu dir nehmen?«

»Ich?! Du weißt genau, dass ich es nicht kann. Meine Wohnung ist viel zu klein. Ich habe schließlich selbst einen Sohn. Außerdem ist meine Gesundheit angegriffen. Aber das hat mit dem Hund nichts zu tun. Er muss doch weg. Oder denkst du, dass ihn Marie-Luise mit ins Waisenhaus nehmen darf?«

»Hast du eigentlich überhaupt kein Gefühl, Helma? Daniel ist kaum ein paar Stunden tot, und dich beschäftigt nichts anderes, als dass Benny weg muss. Willst du der armen Malu wirklich das Letzte nehmen, das ihr noch geblieben ist?«

Helma zuckte die Achseln. »Hier kann sie doch nicht bleiben. Ein Kind allein, das geht nicht. Und Geld ist ja auch keins da. Wovon soll sie leben? Was bleibt da anderes als das Waisenhaus?«

»Ich bin nicht so sicher, dass überhaupt kein Geld da ist. Dr. Kramer sprach davon, dass Daniel bei einem Anwalt ein Testament hinterlegt und darin auch bestimmt hat, was mit Malu geschehen soll.«

»Da muss ich ja lachen. Daniel war zeitlebens ein armer Schlucker. Er hat es ja zu nichts gebracht! Ein kleiner Buchhalter! Was verdient der schon. Und wenn wirklich Geld da wäre, dann sind ja wir noch da, seine Schwestern.«

Irene presste sich die Fäuste gegen die Ohren. Sie wollte nicht auf das hören, was Helma daherredete. Wäre sie Witwe gewesen wie Helma, sie hätte sich nicht eine Sekunde besinnen müssen, sondern Malu sofort zu sich genommen. Aber so …

Malu hatte tief und traumlos geschlafen. Sie erwachte von Tante Helmas schriller Stimme. Und wie schon einmal hörte sie, wie diese über ihr weiteres Schicksal entschied. Gleichzeitig überkam sie das Wissen um den Tod des Vaters erneut.

Benny hatte sie beobachtet. Nun sprang er zu ihr auf das Bett. Malu vergrub ihr Gesicht in dem weichen Fell und weinte bitterlich.

»Ach, Benny, er hätte uns doch mitnehmen sollen. Wenn sie mir dich wegnehmen, dann hab ich niemanden mehr, der mich lieb hat. Warum hat Gott zugelassen, dass Vatilein starb? Ich kann es einfach nicht glauben, dass er niemals mehr wiederkommt. Er war doch gestern noch so fröhlich und hat mit uns gelacht. Wir waren so vergnügt. Weißt du, ich hab mal eine Geschichte gelesen von einem kleinen Jungen, der seine Mutter gesucht hat. Die Leute haben gesagt, sie wäre tot. Aber er ist fortgegangen, um sie zu suchen. Und dort, wo der Himmel an die Erde stößt, hat er seine Mutter gefunden. Ob wir Vati dort auch finden würden?«

Benny fiepte leise vor sich hin. Die lauten Stimmen waren verstummt. Und die Wirkung der Beruhigungsspritze stellte sich erneut ein. Malus Kopf fiel zur Seite, sie schlief sofort wieder ein. Und sie träumte davon, dass sie ihren Vati wiederfand. Es war dort draußen, wo sie am vergangenen Tag zusammen gewesen waren. Auf der großen Lichtung, wo es so gut nach Pilzen und Moos gerochen hatte und wo in der Nähe das Schild gewesen war mit der Aufschrift: Engelsbach.

»Ich würde ja über Nacht hierbleiben«, sagte Helma, nachdem eine Weile Schweigen zwischen den ungleichen Schwestern geherrscht hatte. »Doch ich muss mich um Hans kümmern. Für dich ist das ja leichter. Du hast eine erwachsene Tochter.«

»Hilde bleibt bei Malu, bis Daniel beigesetzt worden ist.« Irenes Stimme klang müde. »Und vielleicht wird sie sich auch weiterhin noch um Malu kümmern.«

»Und wer soll den Unterhalt für Malu bezahlen? Ich habe keinen Cent übrig. Das Leben ist teuer, und wir kommen gerade so durch, Hans und ich.«

»Niemand erwartet, dass du etwas für Malu tust, Helma. Es wird dich auch niemand darum bitten. Ich muss jetzt einmal kurz weggehen und etwas einkaufen. Du kannst mich begleiten. Denn Malu wird noch eine Weile schlafen.«

*

»Es tut mir wirklich sehr leid, Günter. Du weißt doch, wie gern ich mit dir zusammen bin. Doch jetzt geht Malu vor. Sie ist ein so entzückendes Mädchen. Und ihr Vater war alles, was sie hatte.«

Günter Burkert drückte Hildes Arm fest an sich.

»Du weißt doch, dass ich das verstehe. Und dass du auch ein Herz für andere Menschen hast, das gefällt mir ja gerade so an dir. Heute denkt doch fast jeder nur an sich selbst. Wir haben noch so viel Zeit, die wir miteinander verbringen können. Natürlich werde ich dich vermissen, aber deine kleine Kusine geht wirklich vor. Ich werde dich hinbringen. Du hast doch gesagt, dass deine Mutter da ist. Dann könnte sie mich geich kennenlernen.«

»Ob das der richtige Augenblick ist?«, zweifelte Hilde. Doch dann sah sie die Sache anders. »Warum nicht. Schließlich wirst du bald zur Familie gehören.«

»Ich kann es kaum erwarten, Hilde. Ich bin sicher, dass ich die neue Stellung bekomme. Dann verdiene ich viel mehr als jetzt, und wir könnten mit gutem Gewissen heiraten.«

Zuerst blickte Frau Irene Walters erstaunt, doch dann ahnte sie, wer der Begleiter ihrer Tochter war. Der junge Mann mit dem offenen, sympathischen Gesicht gewann sofort ihr Herz.

»Günter hat mich hergebracht, Mutti. Er meinte, dass die Gelegenheit günstig sei, ihn endlich kennenzulernen.«

»Ich freue mich, Herr Burkert.« Irene hatte für kurze Zeit ihren Kummer vergessen. Sie erkannte, dass Hilde glücklich war. Außerdem sah Günter Burkert zuverlässig aus. Wie ein Mann, der hielt, was er versprach.

»Mein armes Herzchen!« Hilde hatte Malu innig in die Arme geschlossen und strich zärtlich über das leuchtende Haar. »Die nächsten Tage bleibe ich bei dir, Malu. Wenn du willst, dann schlafe ich bei dir im Zimmer.«

Malu nickte heftig mit dem Kopf. Sie schlang ihre Arme ganz fest um Hildes Hals und drückte ihr verweintes Gesicht gegen das der Kusine.

»Du bist lieb, Hilde. Und Tante Irene auch. Wer ist das? Gehört er zu dir?«

Hilde wurde leicht verlegen. Doch sie nickte heftig.

»Ja, Malu. Wir gehören zusammen.«

Malu sah von einem zum anderen. »Er sieht lieb aus«, stellte sie fest. »Sicher werdet ihr auch einmal ein Kind haben.«

Jetzt wurde Hilde dunkelrot. Doch Günter Burkert rettete die Situation.

»Natürlich, Malu. Zwei Menschen, die sich lieb haben, wünschen sich doch ein Kind, damit sie eine richtige Familie werden.«

Malu nickte. Ihre grünen Augen waren dunkel vor Kummer.

»Ich hatte immer nur Vatilein. Ich hatte ihn so lieb, aber trotzdem hätte ich auch gern eine Mutti gehabt, so wie die anderen Kinder. Nun habe ich niemanden mehr. Außer Benny.«

Keiner sagte darauf etwas.

Günter Burkert erbot sich, Irene nach Hause zu bringen. Als er vor dem Gartentor hielt, sagte er: »Ich danke Ihnen, dass Sie so freundlich zu mir waren. Vielleicht können Sie auch bei Ihrem Mann ein gutes Wort für mich einlegen. Hilde sagte mir, dass er etwas schwierig ist.«

»Ich werd’s versuchen, Herr Burkert, aber er ist wirklich schwierig.«

Günter Burkert stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete Irene die Tür. Im gleichen Augenblick, als sie sich zum Abschied die Hand reichten, flammte über der Haustür Licht auf, die Tür wurde geöffnet, und Kurt Walters trat heraus.

Irene verabschiedete sich hastig und ging zum Gartentor. Kurt sah ihr entgegen. Er wartete, bis sie in der Diele war.

»Wer war das? Und wieso kommst du erst jetzt?«

»Ich musste mich um Malu kümmern. Einer musste ja dort sein, schließlich konnte das Kind nicht gut mit den Leuten vom Bestattungsinstitut verhandeln.«

»Wo ist Hilde?«

»Bei Malu. Sie wird auch in den nächsten Tagen dort bleiben. Erst nach der Beisetzung wird man weitersehen können.«

Seinem Gesichtsausdruck nach schien ihm das alles nicht sonderlich angenehm zu sein, doch er wagte nichts dagegen zu sagen.

»Wer war der Mann, der dich nach Hause gebracht hat?«

»Das war der Mann, den Hilde liebt und den sie wohl bald zu heiraten gedenkt.«

»Hilde – heiraten? Davon weiß ich ja gar nichts. Was wird da hinter meinem Rücken gespielt?«

Früher hätte Irene anders reagiert, sie wäre zurückhaltender geblieben. Doch das, was sie in den letzten Wochen durchgemacht hatte, und das bohrende Schuldgefühl, das sie heute den ganzen Tag über bei Malus Anblick empfunden hatte, ließen sie jede Rücksicht, die sie bisher Kurt gegenüber gezeigt hatte, vergessen.

»Es wird nichts hinter deinem Rücken gespielt. Hilde ist ein erwachsener Mensch. Wärst du anders, umgänglich und verständnisvoller, dann brauchte das Kind keine Heimlichkeiten zu haben. Du hast es dir selbst zuzuschreiben, dass du übergangen wirst. Ein Mensch, der immer nur an sich denkt, ohne den anderen jemals ein Zugeständnis zu machen, der bekommt eines Tages die Quittung dafür.«

Kurt Walters sah seine Frau fassungslos an.

»Wie sprichst du denn mit mir?«

»Wie ich schon längst mit dir hätte sprechen müssen, Kurt. Immer habe ich den Kopf eingezogen und dadurch deinen Egoismus und deine Selbstherrlichkeit nur noch unterstützt. Du empfindest das sicher nicht. Aber ich schäme mich vor meinem toten Bruder und vor Malu, dass ich nach so vielen Ehejahren nicht einmal das Recht habe, auch einen Wunsch durchzusetzen.«

»Lächerlich. Malu würde sich gar nicht wohlfühlen hier bei uns. Ganz abgesehen davon, dass ich durch ein Kind in meiner Arbeit gestört sein würde. Etwas Rücksicht kann ich ja schließlich auch verlangen. Was ist das für ein Mann, den Hilde da aufgegabelt hat?«

»Sie hat ihn nicht aufgegabelt, sie liebt ihn. Er ist ein junger Ingenieur, der am Anfang seiner Karriere steht. Du standest ja zu Beginn unserer Ehe auch erst am Anfang. Bitte entschuldige mich jetzt. Ich bin vollkommen erschöpft. Der Tag war nicht leicht für mich.«

Sie ging einfach an ihm vorbei. Es wäre über ihre Kraft gegangen, noch länger mit ihm zu sprechen. Außerdem war es sowieso sinnlos. Er würde sich doch nicht ändern. Dies erschien ihr heute aussichtsloser denn je.

Kurt Walters sah seiner Frau perplex nach. Er hörte, dass sie in das Gästezimmer ging und dann, dass sie die Tür hinter sich abschloss.

Ohnmächtiger Zorn erfasste ihn. Am liebsten wäre er hingelaufen und hätte gegen die Tür getrommelt. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab. Sie hatte ihren Bruder verloren und trauerte im Augenblick um ihn. Eines Tages aber würde sie einsehen, dass für Malu kein Platz in diesem Haus war, und sich damit abfinden.

*

»Es wäre fein, wenn wir zusammen bleiben könnten, Malu.«

Malu sah ihre Kusine aus rot umränderten, verweinten Augen an. Sie nickte.

»Das wäre fein. Aber ich glaube nicht daran. Du musst ja wieder nach Hause zu deinem Vater. Und dann ist ja auch noch der nette Herr Burkert da. Er will doch, dass du seine Frau wirst und dass ihr Kinder habt. Da hast du dann doch keine Zeit mehr für mich.«

Hilde hatte sich die Liege in Malus Zimmer geschoben. Sie sah auf das Kind im Bett. So müde und so unsagbar traurig war das kleine Gesicht. Arme kleine Malu! Warum war es nur nicht möglich, dass sie zu ihnen kommen durfte? Hilde verstand ihren Vater einfach nicht. So ein Kind verursachte doch nicht allzu viel Kosten. Und wenn auch. Vater verdiente doch genügend. Mutti hätte sich bestimmt gefreut, wieder etwas zum Bemuttern zu haben.

»Leider kann man manchmal nicht das tun, was man gern tun möchte, Malu. Doch ich bleibe bestimmt bei dir, solange ich kann. Wir wollen jetzt schlafen. Du musst doch müde sein.«

»Weiß nicht, Hilde. Hab ja den ganzen Tag geschlafen.« Trotzdem sagte Malu folgsam »Gute Nacht!«

Hilde stand noch einmal auf und küsste Malu liebevoll auf den Mund. Sie stopfte ihr die Decke an den Seiten fest, kehrte dann wieder auf ihre Lagerstatt zurück und löschte das Licht. Bald darauf war sie eingeschlafen.

Malu konnte jedoch nicht schlafen. In der Dunkelheit erschien ihr die Verlassenheit noch größer, die Angst vor dem, was kommen würde, noch erdrückender. Am besten wäre es gewesen, wenn sie mit Benny gleich zu der Lichtung hätte gehen können, wo der Himmel an die Erde stieß und wo sie ganz sicher war, ihren Vater wiederzufinden. Aber dann fiel Malu doch in einen unruhigen Schlummer. Ihre Hand lag auf Bennys Fell, da fühlte sie sich nicht ganz so allein.

Als sie wieder erwachte, war es schon hell. Durch die geschlossenen Vorhänge sickerte ein dünner Streifen goldenen Sonnenlichtes ins Zimmer. Hilde lag auf der Seite. Sie schien ganz fest zu schlafen. Ihre Atemzüge waren leise und gleichmäßig.

Malu sah Benny an und legte den Finger an die Lippen. Dann stand sie leise und behutsam auf. Ihre Bundhose und der hellblaue Pullover, den sie vorgestern angehabt hatte, lagen noch auf dem Stuhl. Die Wanderschuhe standen dabei.

Malu bemühte sich ganz leise zu sein. Sie kämmte ihr blondes Haar und band es zu einem Pferdeschwanz zusammen. Dann packte sie Brot und Wurst in den kleinen Rucksack und schlich ins Schlafzimmer, um das Bild an sich zu nehmen, das auf Vatis Nachttisch stand. Es zeigte ihn und die Frau, die ihre Mutter war. Malu nahm eine Schere und schnitt das Bild auseinander. Die eine Hälfte, die Vati zeigte, legte sie in ihr Portemonnaie. Etwas über zehn Euro waren darin. Sie hatte ihr Taschengeld gespart, und jetzt hoffte sie, dass es für eine Fahrkarte nach Engelsbach reichte. Benny beobachtete alle ihre Bewegungen. Er schien zu wissen, dass auch er leise sein musste.

Malu war schon an der Wohnungstür, als ihr einfiel, dass sie Hilde wenigstens einen Zettel dalassen musste. Die Kusine war so lieb zu ihr gewesen, und sie wollte nicht, dass sie sich ihretwegen Sorgen machte.

Ich gehe mit Benny weg, um Vati zu suchen. Ich möchte nicht ins Waisenhaus, wie Tante Helma gesagt hat, und ich möchte mich auch nicht von Benny trennen. Wenn ich Vati gefunden habe, dann können wir wieder zusammen bleiben. Ich danke Tante Irene und Dir, liebe Hilde …

Sie legte den Zettel auf den Küchentisch und öffnete behutsam die Korridortür. Auf der Treppe nahm sie Benny an die Leine.

»Bell nicht, Benny, sonst hört uns jemand. Die großen Leute wollen bestimmt nicht, dass ich Vati suche, und sicher glauben sie auch nicht, dass ich die Stelle finde, wo der Himmel auf die Erde stößt. Du wirst mir dabei helfen, nicht wahr?«

Benny wedelte mit dem Schwanz und sah hingebungsvoll zu Malu auf. Als sie mit ihm auf die Straße hinaustrat, schlug es von der Kirche in der Nähe sechsmal.

Die Straße war unbelebt und wirkte blank und sauber. Auf der gegenüberliegenden Seite strich eine Katze an den Hauswänden entlang, und Benny begann angriffslustig zu knurren, als er sie sah.

Als Malu am Haus Dr. Kramers vorüberkam, überlegte sie sekundenlang, ob sie klingeln und ihm erzählen sollte, was sie vorhatte. Aber dann ging sie doch lieber vorbei.

Der Weg zum Bahnhof war ziemlich weit. Benny ließ bald die Zunge heraushängen, und Malu fühlte sich schon jetzt müde. Außerdem war sie hungrig. Sie hatte ja auch kein Frühstück gehabt.«

»Wo möchtest du denn hin, Kleine?«

»Ich möchte eine Fahrkarte nach Engelsbach«, antwortete Malu.

»Hin und zurück?«

»Nein, nur hin. Zurück fahre ich mit meinem Vater, den treffe ich nämlich da. Muss mein Hund auch eine Fahrkarte haben?«

Der Beamte lächelte. Das Kind gefiel ihm. Es war so verständig und höflich.

»Dein Hund bezahlt den halben Preis. Du darfst ihn mit ins Abteil nehmen, weil er klein ist. Gute Reise und viel Spaß mit deinem Vater.«

»Danke!«

»Der Zug geht von Gleis drei in fünf­zehn Minuten. Engelsbach ist die vierte Station von hier. Vergiss nicht auszusteigen! Hier, das magst du doch sicher!«

Er schob Malu ein paar eingewickelte Bonbons zu und sah ihr nach, als sie auf den Bahnsteig ging.

Ein entzückendes Kind. Der Vater war sicherlich sehr stolz auf seine kleine Tochter.

Malu hielt sich mit Benny abseits von der Bahnsteigkante. Eine Menge Leute standen da. Endlich kam der Zug. Malu stieg ganz vorn ein, in den ersten Wagen hinter der Lokomotive. Das Abteil war leer.

Malu zog ihre Strickjacke aus. Dann öffnete sie den Rucksack.

»Wir werden jetzt etwas essen, Benny. Schau, ich habe dir auch von deinen Hundebiskuits mitgenommen.«

Benny stellte sich auf die Hinterfüße. Die Vorderpfoten stützte er dabei auf der Bank auf. Manierlich nahm er, was Malu ihm gab. Sie fütterte zuerst den Hund, dann dachte sie an sich.

Später sah Malu zum Fenster hinaus, als der Zug gemächlich durch das Land rollte. Das Getreide war noch nicht sehr hoch, man sah nur grüne Spitzen. Aber die Birken leuchteten in der Sonne, und der Tannenwald schimmerte dunkel und voller Geheimnisse.

Engelsbach war eine kleine Bahnstation. Es gab hier nur das Stationshaus und ein Gasthaus. Außer Malu und Benny stieg niemand aus. Und der Stationsvorsteher verschwand sofort wieder, als der Zug abgefahren war.

Malu blieb nachdenklich stehen. Wohin musste sie nun gehen? Nach rechts oder nach links? Oder geradeaus? Der Wald war noch ziemlich weit entfernt, und die Straße, die hinter dem Bahnhofsgebäude verlief, war nur ein staubiger Feldweg.

Hier war sie nicht mit Vati und Dr. Kramer gefahren. Malu hockte sich zu Benny nieder.

»Was meinst du? Wo müssen wir langgehen?«

Benny begann zu bellen.

»Gut, du zeigst mir den Weg. Ich mache die Leine jetzt los. Aber bitte, lauf nicht weg! Später, wenn wir zum Wald kommen, dann muss ich dich wieder festmachen. Du weißt ja, dass der Förster alle Hunde erschießen muss, die frei herumlaufen, weil sie den kleinen Hasen und Rehen etwas zuleide tun könnten.«

Benny stürmte los, auf einen schmalen Pfad zu, der zwischen den Feldern zum Wald führte.

*

Hilde erwachte, als der Wecker schrillte. Sekundenlang musste sie sich besinnen, wo sie war. Als sie Malus leeres Bett sah, war sie sofort hellwach.

Es war so still in der Wohnung. Auch von Benny war nichts zu hören.

Hilde sprang mit beiden Füßen zugleich aus dem Bett und lief zuerst ins Schlafzimmer. Es war leer. Sie sah auf dem Nachttisch das halbe Bild, aber sie wusste nicht, ob es gestern schon dagelegen hatte. Auch im Wohnzimmer war Malu nicht. Und die Küche war genauso leer wie das Bad.

Vielleicht führte Malu nur den Hund aus. Hilde ging ins Bad und duschte. Dann zog sie sich schnell an. Dabei horchte sie immer, ob nicht das Geräusch eines Schlüssels zu hören war.

Erst als sie wieder in die Küche ging, um sich Frühstück zu machen, sah sie den Zettel auf dem Küchentisch. Die Knie wurden ihr weich, als sie las, was Malu mit ihrer Kinderschrift geschrieben hatte. Du lieber Gott, wo mochte die arme Kleine hingelaufen sein?

Hilde nahm ihren Mantel, verließ die Wohnung und sperrte sie von außen zu.

Sie nahm ein Taxi und war schon kurze Zeit später vor ihrem Elternhaus angelangt.

»Wer reißt denn da schon in aller Herrgottsfrühe die Klingel ab?«

Kurt Walters öffnete die Tür. Sein Gesicht war halb mit Seifenschaum bedeckt. Er runzelte die Brauen, als er seine Tochter erkannte.

»Du bist das. Aber du müsstest doch schon auf dem Weg ins Büro sein.«

»Wo ist Mutti? Malu ist verschwunden«, stammelte Hilde.

»Blödsinn! Wo soll sie denn hingegangen sein? Sicher führt sie nur ihren Hund spazieren.«

»Nein, sie ist weg. Sie hat einen Zettel zurückgelassen.«

Irene kam aus der Küche. Schreckensbleich sah sie auf Hilde.

»Zeig mir den Zettel!«, bat sie und las die wenigen Zeilen. »Oh, du lieber Gott, wo mag das arme Kind jetzt umherirren«, stöhnte sie.

»Bitte, reg dich doch nicht auf, Irene. Wir werden sofort die Polizei verständigen. Ein Kind und ein Hund können nicht spurlos verschwinden.«

»Ich fühle mich schuldig«, flüsterte Irene. »Hätte ich doch nur darauf bestanden, dass sie hierherkommt. Das arme kleine Ding. Der Vater ist noch nicht einmal unter der Erde. Was Helma da mit ihren bösen Bemerkungen angerichtet hat. Und wir auch.«

»Bitte, Irene, fasse dich! Ich rufe sofort bei der Polizei an. Man wird Malu über Rundfunk und Fernsehen suchen lassen und sie finden.«

»Aber wenn man sie nicht findet?«, fragte Irene. »Dann hast du sie mit deiner Hartherzigkeit auf dem Gewissen. Merke dir, wenn Malu etwas geschieht, dann verlasse ich dich. Ich kann nicht mit einem Mann weiterleben, der ein Kind seiner Bequemlichkeit opfert.«

Ihre Augen waren feucht. Und der Blick, den sie Kurt nun zuwarf, war fremd und gleichgültig. Er ließ keinen Zweifel daran, dass sie ihre Worte wahrmachen würde.

Erst jetzt begriff Kurt Walters, wie viel er falsch gemacht hatte. Irene war ihm immer eine gute Frau gewesen. Sie hatte in schlechten und guten Tagen den Platz an seiner Seite ausgefüllt. Wenn sie ihn wirklich verlassen sollte, dann war auch sein Leben nichts mehr wert.

»Bitte, Irene«, scheu fasste er nach ihrer Hand, »wir werden Malu finden, und wenn sie erst wieder da ist, dann kannst du sie zu uns nehmen. Das verspreche ich dir. Ich. … schäme mich, dass ich so egoistisch war.«

»Wenn ich nur glauben könnte, dass es dir ernst ist, Kurt. Und ob man Malu finden wird? Ich habe Angst, dass ihr etwas zustößt. Es passiert so viel. Sie hat doch kein Geld, sie wird Hunger haben, und …«

Ihre Nervenanspannung löste sich in einem verzweifelten Schluchzen.

Hilde nahm ihre Mutter in die Arme und klagte sich selbst an. »Ich begreife nicht, dass ich nichts gehört habe. Ich schlief doch direkt neben Malu. Wollen wir nicht mal den netten Arzt anrufen? Vielleicht ist Malu zu ihm gegangen? Oder vielleicht ist sie auch bei einer Schulfreundin?«

Irene schüttelte in stummer Verzweiflung den Kopf. »Ich glaube es nicht. Sie schreibt doch, sie sucht den Vater. Malu hat gewiss noch keine Vorstellung vom Tod, sie begreift nicht, dass Daniel nie wiederkommen wird.«

Kurt Walters hatte in aller Eile seine Rasur beendet. Nun telefonierte er mit der Polizei, legte aber den Hörer bald wieder bedrückt auf die Gabel zurück.

»Was sagen sie dort?«, fragte Irene.

»Man muss die Vermisstenanzeige persönlich aufgeben. Ich werde hingehen.«

»Ich komme mit. Vielleicht wäre es gut, wenn wir ein Foto von Malu hätten. Wir sollten zuerst in Daniels Wohnung fahren und sehen, ob es dort ein Bild gibt. Dabei könnten wir auch bei Dr. Kramer vorbeifahren.«

Obwohl sie alle keinen Appetit hatten, aßen sie doch ein paar Bissen und tranken Kaffee, um sich zu stärken.

Bevor sie zu Daniels Haus fuhren, hielt der Wagen Kurt Walters vor der Tür Dr. Kramers.

»Es tut mir leid, der Herr Doktor hat heute seine Praxis geschlossen«, teilte ihnen eine nette Sprechstundenhilfe mit.

»Er ist erst übermorgen wieder zu erreichen. Kann ich Ihnen nicht helfen?«

»Wahrscheinlich nicht«, befürchtete Irene. »Oder wissen Sie zufällig, ob ein kleines Mädchen heute Morgen hier war mit einem grauen Wolfsspitz?«

»Nein. Ein Kind habe ich nicht gesehen.«

Irene fand in Daniels Wohnung ein Bild von Malu. Doch bevor sie mit ihrem Mann zur Polizei fuhr, besuchten sie noch die Schule, in die Malu ging. Aber auch dort war das Kind nicht gesehen worden. Keine Schulfreundin wusste etwas von Malu.

»Vielleicht ist sie in den Park gegangen«, überlegte Irene. »Sie war dort oft mit Daniel. Wenn sie wirklich glaubt, dass sie ihn findet, sucht sie vielleicht zuerst an einer Stelle, die ihnen beiden bekannt ist.«

Sie durchsuchten den Park, ließen keinen Winkel aus, doch von Malu war keine Spur zu entdecken.

»Ich bin völlig fertig, Kurt. Hätte ich das Kind doch nur nicht allein gelassen!«

Es tat ihm wohl, dass sie sich wie in früheren Tagen an ihn lehnte, als könnte sie bei ihm Hilfe finden.

»Alles wird in Ordnung kommen, Irene. Ganz bestimmt. Ich bin sicher, dass wir Malu finden werden. Und ich verspreche dir, dass ich nie wieder so sein werde wie früher.«

Irene sah ihn an. Ein leiser Zweifel lag noch in ihrem Blick.

»Du kannst mir glauben, Irene«, beteuerte er. »Ohne dich könnte ich mir mein Leben nicht vorstellen. Denn ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du deine Drohung vorhin völlig ernst gemeint hast. Ich habe mich scheußlich benommen, und ich bereue es sehr, dass ich so hartherzig war. Ich werde mich ändern. Ein bisschen was Gutes muss doch an mir sein, sonst könntest du mich doch nicht lieben«, fügte er leise hinzu.

*

»Glaubst du wirklich, dass wir auf dem richtigen Weg sind, Benny?«

Malu blieb stehen. Die Füße taten ihr weh. Sie war müde. Und der Tannenwald um sie herum war so dicht und dunkel. Bisher hatte sie noch keine Lichtung gesehen. Und sie konnte ihren Vati doch nur an der Stelle finden, wo der Himmel an die Erde stieß. Aber hier waren so viele Bäume, dass nur ein winziges Streifchen Himmel hoch über ihr zu sehen war. Und das war auch nicht mehr blau, sondern schon blassgrau. Gewiss würde es bald Nacht werden, und sie wusste nicht mal, wie sie aus dem Wald wieder herauskam.

Benny ließ traurig Kopf und Schwanz hängen. Er hechelte. Es erging ihm nicht viel besser als Malu. Auch er war müde. So lange war er noch nie gelaufen.

»Es hat ja alles keinen Zweck, Benny. Wir können hier nicht sitzen bleiben. Wir müssen weiter. Wenn wir nur aus dem Wald herauskommen, bevor es Nacht wird!«

Malu stand von dem Baumstumpf auf, auf dem sie kurze Zeit Rast gehalten hatte, und ging, gefolgt von Benny, weiter durch den Wald. Zwischen den Bäumen schimmerte es dunkel.

»Ob das ein Hexenhaus ist, Benny?«, überlegte Malu laut, als sie jetzt eine Hütte entdeckte. »Aber Vati hat gesagt, dass es keine Hexen gibt. Nur im Märchen. Komm, wir sehen uns das mal an. Vielleicht ist Heu drin, da könnten wir beide ein bisschen schlafen.«

Sie sprach ganz laut, um damit die Angst zu übertönen, die in ihr war. So ganz überzeugt war sie nicht davon, dass es keine Hexen gab. Schließlich glaubte sie ja auch daran, dass sie ihren Vater finden würde, obwohl sie so was auch nur in einer Geschichte gelesen hatte.

Die kleine Hütte machte einen recht freundlichen Eindruck. Vorsichtshalber spähte Malu erst mal durch das schmale Fenster. Es war wirklich Heu in der Hütte. Aber ob die Tür offen war?

Malu probierte es und drückte die Klinke herunter. Die Tür sprang auf.

»Wenn wir nichts kaputt machen, dann können wir wohl heute Nacht hierbleiben, Benny«, sprach sie zu dem Hund.

Benny wedelte matt mit dem Schwanz. Er war wirklich hundemüde, trottete ins Heu und rollte sich zusammen.

»Hoffentlich finden wir Vati bald. Doch morgen, wenn die Sonne wieder scheint, sieht sicher alles gleich viel freundlicher aus. Hast du keinen Hunger?«

Enttäuscht stellte Malu fest, dass der Hund schlief. Na ja, er war eben kleiner als sie. Sie schnitt sich von dem Brot und der Wurst ab, die sie mitgenommen hatte und aß hinterher einen Apfel. Ihre Hände waren schmutzig, aber es war kein Wasser da, sodass sie sie nicht waschen konnte. Aber das eine Mal würde es vielleicht nicht so schlimm sein, wenn sie sich ungewaschen niederlegte.

Draußen war es inzwischen völlig dunkel geworden. Malu kuschelte sich dicht an Benny.

»Lieber Gott, beschütze Benny und mich heute Nacht. Und bitte, bitte, gib, dass wir Vati morgen finden. Du kannst doch alles machen,wenn du willst.«

Sekunden später war auch Malu fest eingeschlafen.

*

»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass wir frühestens morgen die Fahndung nach dem Kind anlaufen lassen können. Die Bestimmungen sind nun mal so. Sie glauben ja gar nicht, wie viel Kinder weglaufen und dann wieder auftauchen, als sei nichts geschehen. Ihre Nichte hat doch noch einen Hund bei sich.«

»Ja, ich weiß«, nickte Irene. »Trotzdem bin ich noch einmal gekommen. Ich dachte ja, je eher wir nach Malu suchen, desto schneller finden wir sie.« Bei diesen Worten legte sie das Bild von Malu auf den Schreibtisch.

»Ich habe mir alles notiert, Frau Walters. Morgen früh werden wir die Personenbeschreibung an alle Dienststellen durchgeben. Versuchen Sie es doch auch bei der Rundfunk- und Fernsehstation. Und nehmen Sie das Bild besser fürs Fernsehen mit, die können es den vielen Zuschauern zeigen. Dadurch haben wir auch schon manchen Hinweis erhalten.«

»Gut!« Irene nahm das Bild wieder an sich, wandte sich zum Gehen. Sie fühlte sich wie ausgebrannt. Ihre Gedanken kreisten ständig um Malu, aber sie konnte sich einfach nicht vorstellen, wohin das Kind gegangen sein konnte.

Bei der Rundfunkstation versprach man ihr, die Durchsage zum ersten Mal am andern Tag nach den Mittagsnachrichten zu bringen. Im Fernsehen würde Malus Bild, begleitet von einer entsprechenden Mitteilung, erst am Abend zu sehen sein.

Irene sah ein, dass sie nicht mehr erreichen konnte. Sie war froh, dass Kurt draußen auf sie wartete.

Seit Malu verschwunden war, hatte er sich wirklich gewandelt. Und es war fast so wie früher, als sie noch jung waren und er sich noch nicht zu dem harten und rücksichtslosen Menschen entwickelt hatte, der er später war. Sie erkannte, dass es ihm mit dem, was er ihr versprochen hatte, ernst war. Doch erst wenn sie wusste, dass Malu gesund und heil gefunden worden war, konnte sie daran glauben und sich darüber freuen.

Hilde war schon zu Hause. Sie hatte das Essen gerichtet und lief den Eltern entgegen, als sie das Auto hörte. Doch sie unterdrückte die Frage, die ihr auf den Lippen lag. Denn an den Gesichtern von Mutter und Vater erkannte sie, dass man noch nichts von Malu wusste.

Schweigend und bedrückt saß die Familie danach zusammen. Jeden von ihnen quälte nur die eine bange Frage: Wo ist Malu?

*

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Malu am andern Morgen aufwachte.

In dem breiten Streifen goldenen Lichtes, der durch das kleine Fenster in die Hütte fiel, tanzten tausend Staubkörnchen. Und im Heu raschelte es.

Benny wühlte seine Nase tief hinein und musste niesen, weil er den Staub eingeatmet hatte.

»Wir wollen gleich aufbrechen«, sagte Malu. »Du weißt ja, wie schnell der Tag vergeht. Und wir müssen Vati heute finden. Wir haben nicht mehr viel zu essen, und Geld haben wir auch nicht. Was machen wir nur, wenn wir den Weg verfehlen?«

Sie klopfte sich den Staub von der Bundhose und aus dem Haar und zog ihre Schuhe wieder an. Kurze Zeit später lag die Hütte wieder verlassen da.

Benny zerrte an der Leine und lenkte das Kind zu einem Waldweg. Malu war jetzt sehr zuversichtlich, dass sie ihren Vater finden würde, und malte sich in Gedanken schon ein Wiedersehen mit ihm aus.

An einem Bach stillte Benny seinen Durst, während Malu sich Gesicht und Hände wusch. Sie hatte vergessen, einen Kamm mitzunehmen, und versuchte mit feuchten Händen ihr Haar zu glätten.

Danach teilte sie mit Benny redlich den letzten Rest ihres Proviantes und wanderte nach dem bescheidenen Frühstück weiter. Ihr Herz klopfte stürmisch, als sie die kleine verkrüppelte Weide entdeckte, die aussah, wie ein Wichtelmann. Jetzt wusste sie, dass sie endlich auf dem Weg war, den sie mit Vati und Dr. Kramer gegangen war. Sie erinnerte sich ganz deutlich an diese Weide. Denn Vati hatte noch das Lied von einem Männlein im Walde gesummt.

Nein, es konnte nicht sein, dass er für immer weggegangen war, wo sie doch so viel Spaß an diesem Tag miteinander gehabt hatten. Jetzt tauchte auch die Hecke neben ihr auf, durch die Dominik sich gezwängt hatte.

Malu blieb stehen und horchte. Kein Kinderlärm war heute zu hören. Ob sie doch wieder falsch gegangen war? Sie dachte an die wunderschöne Frau von Schoenecker, die so aussah, wie sie sich immer die Fee aus dem Märchen vorgestellt hatte. Zu ihr wollte sie gehen. Sicher konnte sie ihr helfen, Vati zu finden.

Es dauerte Malu viel zu lange, bis sie endlich auf dem Gutshof ankam. Es begann schon zu dämmern, bald würde es ganz finster sein. Malu war enttäuscht, als sie erkannte, dass hinter den hohen Fenstern des Gutshauses kein Lichtschimmer zu sehen war. Sie stieg die Stufen zum Eingang empor und pochte schüchtern an die Tür. Nichts regte sich in dem großen Haus. Nur Habakuk krächzte drinnen etwas vor sich hin, was man nicht verstehen konnte.

»Wir setzen uns hier oben auf die Stufe und warten«, teilte Malu dem Hund mit. »Sie müssen doch wieder nach Hause kommen. Sie haben doch so viele Kinder, die müssen schlafen. Komm ein bisschen näher. Es ist kalt auf der Stufe, und ich bin sehr müde.«

Sie rieb sich die Augen, weil sie nicht einschlafen wollte, aber dann lehnte sie doch ihr Köpfchen gegen die Mauer und schlummerte schon kurze Zeit später tief und fest.

*

»Das war wirklich eine feine Idee von dir, Tante Isi, dass wir alle zusammen in den Zirkus gegangen sind.«

»Mutti hat immer so feine Ideen«, sagte Nick. »Ob wir nicht auch unsere Hunde dazu bringen könnten, auf dem Rad zu fahren, so wie die braunen Bären?«

»Um Himmels willen, nein, Nick«, lachte Denise. »Wir haben ein Kinderheim und keine Dressuranstalt.«

»Wär aber doch schön. Wenn wir Geld brauchten, könnten wir eine Vorführung im Dorf machen. Alle würden kommen und uns was bezahlen. Aber wir brauchten wenigstens einen Elefanten. Einen kleinen. Heu haben wir doch genug, und einen Stall könnten wir auch für ihn bauen. Hinten bei der Pferdekoppel ist noch Platz genug.«

»Vielleicht auch noch ein paar Affen, junger Herr«, ließ sich Lena vernehmen. Sie lachte leise dabei. »Dann haben wir bald einen ganzen Zoo zusammen.«

»Da würden die Leute auch hinkommen«, trumpfte Dominik auf. »Hier gibt’s ja nirgends einen Zoo. Bestimmt würden die Dorfkinder auch gern mal Affen und Bären und Elefanten sehen.«

»Ich weiß nicht, ob Senta, Habakuk und die Ponys mit solcher Nachbarschaft einverstanden wären, Nick. Schließlich waren sie bisher deine guten Freunde. Sie würden annehmen, du willst nichts mehr von ihnen wissen.«

»Meinst du, Mutti? Dann wollen wir es lieber bleiben lassen«, gab Dominik friedfertig nach. Er war müde. Und wenn er die Augen schloss, dann sah er noch einmal das ganze bunte Zirkusprogramm. Selbst an die Musik erinnerte er sich genau.

Der große Wagen fuhr in den Hof ein. Lena lief voraus, um die Lampe über dem Portal einzuschalten. Denise und die Kinder folgten ihr.

Die gute Lena erschrak zu Tode, als sie den dunklen Schatten auf der obersten Stufe entdeckte und im gleichen Augenblick ein gefährliches, leises Knurren hörte. Sie ging rückwärts die Treppe wieder hinunter.

»Da ist ein wildes Tier vor dem Eingang. Sicher ein Bär oder so was. Es hat mich angeknurrt und nach mir geschnappt.«

»Das gibt es doch nicht, Lena. Warte, ich habe meine Taschenlampe mit.«

Nick holte die flache kleine Lampe aus der Hosentasche, die ihm Lutz Brachmann geschenkt hatte und die er immer bei sich trug. Mutig ging er auf den Eingang zu und knipste die Lampe an.

»Es ist Malu und ihr kleiner Hund, Mutti. Weißt du, das kleine Mädchen, das erst vor ein paar Tagen hier war. Sie sitzt da und schläft, obwohl es doch gewiss sehr unbequem und kalt auf den Steinen ist.«

Denise erschrak. Wie kam Malu hierher?

Nick lockte Benny zu sich, der ihn wiedererkannte und zu knurren aufhörte. Lena schloss auf und machte Licht an. Die Kinder standen um Malu herum. Denise bückte sich und strich Malu sanft über die Wange.

»Ich bin’s, Malu. Erschrick nicht. Komm mit hinein, mein Kind. Lena wird dir gleich ein weiches Bett richten.«

Malu blinzelte. Sie seufzte erleichtert auf, als sie Denise erkannte.

»Ich dachte, Sie sind nicht mehr hier, Frau von Schoenecker«, stammelte sie schlaftrunken.

»Nenne mich Tante Isi, wie die andern auch, Malu. Komm jetzt, drinnen sprechen wir weiter.«

Sie half Malu beim Aufstehen und warf Dominik einen raschen Blick zu.

»Komm!«, forderte Nick die andern auf. »Mutti und Malu haben allein was zu bereden.«

Malu zitterte, als Denises weiche Hand die ihre umschloss. Für einen Augenblick war es so, als sei ihr Vater wieder bei ihr.

Denise öffnete die Tür zu Sophie von Wellentins schönem Biedermeierzimmer und drückte Malu in einen der mit Damast bezogenen Sessel.

»So, mein Kind, nun erzähl mir, wie du herkommst«, bat sie. »Hat dein Vater dich hergebracht?«

Malu schüttelte heftig den Kopf. »Vati ist …, sie sagen, er ist tot«, flüsterte sie, und dann begann sie wild und verzweifelt zu schluchzen.

Denise erkannte, dass Malu unter einer großen Nervenanspannung stand. Es war besser, sie zuerst einmal ausschlafen zu lassen.

»Wir werden morgen über alles sprechen, Malu. Ich werde dich jetzt baden und zu Bett bringen. Du schläfst dich erst einmal aus.«

»Sie …, du willst mich baden, Tante Isi?« Malus Stimme klang unsicher.

Sie konnte es nicht fassen, dass die wunderbare Tante Isi so lieb zu ihr war.

»Ja, Schätzchen, und dann bringe ich dich zu Bett. Lena wird dir noch eine Brühe bringen. Du sollst mal sehen, wie herrlich du dann schläfst.«

»Und Benny? Darf er bei mir bleiben?«

Angst stand in den grünen Augen, doch Denise nickte lächelnd.

»Aber natürlich. Ich werde dich doch nicht ohne deinen Freund lassen. Du darfst ihn nur nicht mit ins Bett nehmen.«

»Bestimmt nicht«, versprach Malu. »Zu Hause durfte er auch nicht in mein Bett. Nur manchmal kam er, denn er weiß ganz genau, wenn ich traurig bin.«

Malu hatte kaum den letzten Tropfen der Hühnerbrühe geschluckt, als sie auch schon einschlief. Sie nahm das liebe Lächeln von Denise und den Gute-Nacht-Kuss, den ihr diese auf die Stirn gedrückt hatte, mit in ihren Traum.

»Ist Malu krank, Mutti?« Dominik sah seine Mutter forschend an. Über seiner Nase stand die kleine steile Falte, die er manchmal bekam, wenn er scharf über etwas nachdachte.

»Ich glaube, dass sie in ihrem kleinen Herzen krank ist, Nick. Ihr Vater ist gestorben, jetzt hat sie niemanden mehr.«

»Oh, das tut mir leid.« Nick drückte seine Wange an die seiner Mutter. »Ich weiß ja selbst, wie es ist, wenn man allein sein muss. Obwohl ich wenigstens noch wusste, dass wir uns wiedersehen würden. Bleibt sie jetzt bei uns? Das könnte sie doch. Wir haben doch genug Platz. Und sie ist lieb. Ich mag sie.«

Denise strich Dominik liebkosend über das dunkle Haar. Das Schicksal hatte alles wiedergutgemacht, was es ihr einmal angetan hatte. Allein Dominik war für sie ein ungeheurer Reichtum, außerdem besaß sie noch Alexanders Liebe.

Es war sehr viel, was ihr gehörte. Und wenn man so reich war, dann hatte man genug Liebe, um sie an andere zu verschenken.

»Natürlich bleibt sie bei uns. Ich muss jetzt telefonieren, Nick. Es wird Zeit zum Essen sein. Lass die andern nicht warten und vergiss nicht, dir die Hände zu waschen!«

Als sie ausgesprochen hatte, ertönte der Gong. Nick verließ das Zimmer.

Immer wieder wählte Denise Dr. Kramers Nummer, doch es ertönte immer nur das Freizeichen. Da sie keine Ahnung hatte, wer Daniel Kollbergs Verwandte waren, sah sie keine Möglichkeit, sie zu verständigen, obwohl sie sich vorstellen konnte, dass diese wegen Malus Verschwinden in Sorge waren. Man musste eben bis zum andern Tag warten.

Wie jeden Abend sagte Denise den Kindern gute Nacht, bevor sie mit Nick nach Schoeneich hinüberfuhr.

Alexander kam ihnen entgegen, als er das Vorfahren des Wagens hörte. Auch Sascha und Andrea rannten die Treppe hinunter.

»Ihr hättet mitkommen sollen«, rief Nick seinen Stiefgeschwistern zu. »Es war eine wunderbare Zirkusvorstellung.«

»Es ist später geworden, als ich dachte, Alexander. Entschuldige, dass ich dich warten ließ.«

Alexander drückte Denise einen Kuss auf den Mund. »Ich weiß ja, dass du bei deinen vielen Kindern manchmal nicht ganz pünktlich sein kannst, mein Herz. Ich habe die Zeit dazu benutzt, ein paar Sachen aufzuarbeiten. Wir können gleich essen. Marie hat lauter kleine Köstlichkeiten zubereitet, wie du sie gern isst.«

»Ihr verwöhnt mich alle viel zu sehr«, sagte Denise glücklich.

»Wer hätte es mehr verdient als du«, antwortete er mit zärtlicher Stimme.

»Heute Abend möchte ich gern ein bisschen mit dir allein sein. Die Rasselbande muss sowieso bald ins Bett. Wir werden uns Musik anhören und, wenn du willst, ein Glas Sekt trinken.«

»Gern, Alexander. Ich muss nur noch etwas mit dir besprechen und versuchen, Dr. Kramer zu erreichen.«

»Ich glaube, du hast wieder ein Kind dazubekommen, Denise.«

Alexander kannte seine Frau zu genau, um nicht zu wissen, dass sie etwas beschäftigte.

Denise nickte. »Ich erzähl’s dir nachher. Jetzt ziehe ich mich rasch um und schaue kurz nach Hendrik.«

Sie warf ihm eine Kusshand zu, dann ging sie nach oben. Hendrik schlief. Denise küsste ihn sanft und betrachtete ihn eine Weile, während Alexander zu den anderen Kindern ging.

Nick erzählte vom Zirkus. Er tat es so anschaulich, dass seine Zuhörer alles richtig miterlebten. Wieder einmal stellte Alexander fest, dass ihm Dominik genauso lieb war wie seine eigenen Kinder. Durch Denise und ihn war sein Leben wieder hell und schön geworden.

*

»Immer noch nichts.« Irenes Stimme schwankte. »Ich halte dieses Warten bald nicht mehr aus. Nun ist Malu schon zwei Tage verschwunden.«

Bevor Kurt etwas antworten konnte, schrillte die Türklingel. Dr. Kramer stand draußen.

»Herr Doktor, wissen Sie etwas?«, fragte Irene und bedachte bei ihrer Frage gar nicht, dass Dr. Kramer überhaupt nicht wissen konnte, wovon sie sprach. Er war ja zwei Tage verreist gewesen. Doch zu ihrer Erleichterung nickte der Arzt.

»Malu ist auf Sophienlust, Frau Walters.«

»Bitte, kommen Sie doch herein, Herr Doktor!«, sagte Kurt Walters und stellte sich vor.

»Sophienlust«, wiederholte Irene. »Ich hab den Namen noch nie gehört. Was ist das? Und wie kommt Malu dorthin?«

»Ihr Herr Bruder hat sich große Sorgen darüber gemacht, was aus Malu werden würde, wenn er nicht mehr leben würde. Da seine Versuche, bei seinen Verwandten ein neues Zuhause für Malu zu finden, erfolglos blieben, fragte er mich um Rat.«

Dr. Kramer sah, dass Kurt Walters beschämt den Kopf senkte, und Irene schluckte.

»Ich kenne eine Dame, die sich in großzügiger Weise um elternlose und solche Kinder kümmert, die aus irgendwelchen Gründen von ihren Vätern oder Müttern abgelehnt werden. An seinem Todestage besuchte ich mit Herrn Kollberg und Malu das Gut Sophienlust, auf dem alle diese Kinder eine Heimat haben. Ich kann es mir nur so erklären, dass Malu nun dorthin ging, weil sie glaubte, bei Frau von Schoenecker willkommen zu sein. Genaueres weiß ich noch nicht, weil Malu eine Art Nervenfieber hat und Frau von Schoenecker bisher noch nicht richtig mit ihr sprechen konnte.«

Kurt Walters räusperte sich. Es fiel ihm schwer, vor diesem ihm völlig Fremden seine Herzlosigkeit zuzugeben. Doch es musste wohl sein, damit auch Irene daran glaubte, dass er ein anderer geworden war.

»Ich habe mich hässlich benommen, Herr Doktor. Selbstverständlich ist Malu hier bei uns von nun an zu Hause, wenn ich Daniel damit auch die Sorge um sein Kind nicht mehr abnehmen kann. Entscheidend ist doch, dass Malu in einer Umgebung aufwächst, wo man sie lieb hat. In den beiden letzten Tagen ist mir manches klar geworden. Ich möchte wieder gutmachen, und wie könnte ich das besser als dadurch, dass ich Malu ein wirkliches Zuhause gebe.«

Er hatte einen roten Kopf als er geendet hatte. Doch der liebe Blick, mit dem Irene ihn ansah, tat ihm wohl.

»Wenn Sie dieses Angebot früher gemacht hätten, so wäre es Herrn Kollberg gewiss etwas leichter gefallen, mit seinem Schicksal fertigzuwerden. Doch er hat testamentarisch verfügt, dass Malu auf Sophienlust bleiben soll, bis sie volljährig ist. Bitte, denken Sie jetzt nicht, dass ich die Aufrichtigkeit Ihres Vorschlages bezweifle. Doch ich halte es auch für besser, wenn Malu auf Sophienlust aufwächst. Dort sind viele Kinder, die ein ähnliches Schicksal haben, und alle Kinder verstehen sich untereinander großartig. Ich persönlich bin der Meinung, dass die Kinder schneller vergessen, wenn sie miteinander fröhlich sein können. Natürlich dürfen Sie Malu jederzeit besuchen. Sie kann ja auch in den Schulferien zu Ihnen kommen. So bleibt die verwandtschaftliche Bindung ständig erhalten.«

»Ich glaube, dass Herr Dr. Kramer recht hat, Kurt«, sagte Irene leise. »Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, seit ich weiß, dass Malu in guten Händen ist. Sie ist krank, weil sie nicht imstande ist, all die Aufregungen zu verkraften. Ich muss Ihnen danken, Herr Doktor. Weiß Gott, wie es Malu ergangen wäre, hätte sie nicht diesen Weg nach Sophienlust gesucht. Sie glaubte, dass sie ihren Vater wiederfinden würde, wenn sie dorthin findet, wo der Himmel an die Erde stößt.«

Sie erzählte ihm von Malus Zettel und davon, dass Malu das gehört hatte, was Tante Helma gesagt hatte.

»Wir können nur Gott danken, dass er uns keine größere Schuld auferlegte, dass Malu nichts zugestoßen ist. Können wir …«, sie warf ihrem Mann einen raschen Blick zu, »… können wir etwas für Malu bezahlen? Dieses Heim wird doch bestimmt teuer sein.«

»Selbstverständlich tun wir das. Das ist doch ganz klar«, warf Kurt Walters rasch ein.

Dr. Kramer schüttelte den Kopf. »Herr Kollberg hat mir gesagt, dass er eine beträchtliche Summe im Lotto gewonnen hat. Dieses Geld soll Malu natürlich zum größten Teil dann gehören, wenn sie erwachsen ist. Daneben hat Herr Kollberg eine entsprechende Summe als einmalige Zuwendung für Sophienlust zur Verfügung gestellt. Außerdem ist ein Taschen- und Kleidungsgeld für Malu vorgesehen. Hätte sich einer seiner Verwandten bereit erklärt, die Sorge für Malu zu übernehmen, so hätte dafür monatlich eine bestimmte Summe bereitgestanden. Nun, ich glaube, es ist so gekommen, wie es kommen sollte. Und ich denke, es ist sicher zum Nutzen für alle Beteiligten.«

Dr. Kramer erhob sich. »Jetzt müssen Sie mich bitte entschuldigen. Meine Sprechstunde hat längst begonnen. Doch es war mir wichtiger, Ihnen mitzuteilen, wo Malu ist. Hier habe ich Ihnen die Adresse und die Telefonnummer von Frau von Schoenecker aufgeschrieben. Sie können sie jederzeit anrufen. Ich denke, dass sie nichts dagegen hat, dass Sie Malu besuchen, sobald sie wieder gesund ist.«

Kurt Walters begleitete den Arzt zur Tür. Als er zurückkam, sagte er: »Ich bin erleichtert, dass Malu nichts zugestoßen ist, Irene. Bitte, trage mir nichts mehr nach. Ich habe eingesehen, wie mies ich mich benommen habe. Du sollst wissen, dass Malu jederzeit zu uns kommen darf.«

Er strich ihr liebevoll über die Wangen. Das war lange nicht mehr vorgekommen.

Irene nickte. »Es wäre entsetzlich für mich gewesen, wenn ich mich wirklich von dir hätte trennen müssen. Bei all deiner Unausstehlichkeit hatte ich dich doch immer lieb.«

Jetzt umschloss Kurt Walters seine Frau mit seinen Armen.

»Ich habe dich doch auch lieb, Irene. Ein Leben ohne dich könnte ich mir nicht vorstellen. Fortan wird alles anders. Du wirst keinen Tyrannen mehr zum Mann haben. Und auch gegen Hildes Herzallerliebsten habe ich nichts mehr einzuwenden. Vielleicht könnte man dem jungen Mann sogar ein bisschen unter die Arme greifen. Ich habe doch einige Beziehungen.«

»Ob er das möchte, Karl?«, zweifelte Irene. »Ich glaube, er hat den Ehrgeiz, es allein zu schaffen. Doch wir können den Kindern ja auf eine andere Weise helfen.«

So friedlich und harmonisch war ihr Leben schon lange nicht mehr gewesen.

*

Carola hatte vom ersten Augenblick an eine starke Zuneigung zu Malu gefasst. Sie wusste aus eigener Erfahrung, wie es war, wenn man sich von aller Welt verlassen, allein und ungeliebt fühlte. Und sie hatte auch nicht vergessen, dass sie es Denise von Schoenecker zu verdanken hatte, dass ihr Leben anders geworden war. Auch Wolfgang Rennert wäre sie niemals begegnet, hätte Denise sie nicht nach Sophienlust geholt.

Sie saß auf dem Stuhl neben Malus Bett und strickte an einem Sportpullover aus dicker Wolle. Er war für Wolfgang Rennert bestimmt. Bis Weihnachten war es zwar noch weit hin. Doch wenn sie allen Bewohnern von Sophienlust eine Freude machen wollte, dann musste sie ihre Finger fleißig regen. Stricken war eine angenehme Beschäftigung. Man konnte dabei so schön die Gedanken spazieren gehen lassen.

An der Tür war ein Geräusch. Carola sah auf. Nick schob sich leise herein. »Wie geht es ihr heute?«, flüsterte er, die Tür wieder hinter sich zuschiebend.

»Besser«, erwiderte Carola leise. »Das Fieber ist gesunken. Jetzt braucht sie sich nur noch gesundzuschlafen, glaube ich, dann ist alles wieder gut. Ich finde, dass sie gut zu uns passen wird.«

»Meinst du, dass sich Malu über die Blumen freuen wird?« Er hielt Carola einen bunten Feldblumenstrauß unter die Nase. »Ich hab sie selbst gepflückt. War vielleicht eine Arbeit. Bei manchen sind die Stengel leider etwas kurz geworden. Eigentlich wollte ich ja Schokolade mitbringen. Aber Mutti sagt, wenn man im Bett bleiben muss, dann soll man keine Schokolade essen.«

Malu war von dem Geflüster aufgewacht. Sie hörte dem Gespräch eine ganze Weile zu. Die Erinnerung an das, was geschehen war, kehrte langsam zurück. Sie wusste nun wieder, dass Vati tot war und dass sie mit Benny fortgegangen war, um ihn zu suchen. Dann war sie nach Sophienlust gekommen und auf der Treppe eingeschlafen und hatte davon geträumt, dass sie mit Nicks wunderschöner Mutter in einem ganz herrlichen Zimmer gesessen hatte. Träumte sie denn noch immer? Und wo war Benny?

Sie schlug die Augen auf und erkannte Nick. Das Mädchen, das neben ihrem Bett saß, hatte sie noch nie gesehen.

»Wo ist Benny?«, erkundigte sie sich.

Der hatte Malus Stimme gehört. Wie der Blitz sauste er von seinem Platz zum Bett und stellte sich auf die Hinterbeine. Seine Rute wedelte aufgeregt. »Dein Hund muss dich sehr lieben, Malu. Er hat kaum was gefressen und dich nur immerzu angeschaut. Ich bin Carola und ich denke, dass wir gute Feunde werden.«

»Gern!«, antwortete Malu artig. »Wenn ich dir nicht zu klein bin. Du hast recht, Benny ist mein Freund. Er ist so klug, dass er alles versteht, was ich zu ihm sage.«

»Dann kann ich ja wieder gehen«, meinte Nick ein bisschen eifersüchtig. »Ich würde ja gern dein Freund sein. Meine Blumen werden dir wohl auch nicht gefallen.«

»Sie sind wunderschön, Nick. Ich danke dir. Ich würde dich auch sehr gern zum Freund haben. Weißt du, es ist nur so viel auf einmal. Zuerst hatte ich nur Vati und Benny. Und dann war nur noch Benny da. Ich wollte Vati suchen. Aber ich glaube, das gelingt mir nicht. Wenn jemand tot ist, dann kommt er wohl nicht mehr wieder? Man kann ihn nirgendwo finden. Auch nicht dort, wo der Himmel an die Erde stößt.«

Carola hatte feuchte Augen. Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, Malu. Wer tot ist, der kommt nicht mehr zurück, und es gibt auf der Welt keine Stelle, wo der Himmel an die Erde stößt. Bist du weggegangen, weil du wirklich daran geglaubt hast?«

»Ja. Ich hatte doch solche Angst vor dem Waisenhaus. Ich träumte davon, dass Vati mir sagte, ich solle dorthin gehen, wo die schöne Lichtung ist. Und die war ganz in der Nähe von dem Schild, auf dem stand: Engelsbach. Glaubst du wirklich, dass ich nun immer hierbleiben darf?«

Carola nickte. Sie wusste ja schon, dass Denise von Schoenecker Daniel Kollberg versprochen hatte, dass sein Kind hier ein Zuhause finden würde.

»Wir sind hier alle sehr vergnügt miteinander, Malu. Und du wirst auch wieder fröhlich werden. Niemand möchte Tante Isi kränken. Schon deshalb bemühen wir uns sehr, immer lieb und nett zueinander zu sein.«

»Und Tante Isi hat uns alle lieb?«, staunte Malu. »Dann ist sie ja fast so wie eine Mutti. Wirkliche Muttis haben ihre Kinder doch lieb, auch wenn sie manchmal ungezogen sind. Sie würden sie nie allein lassen.«

Ihre Augen verdunkelten sich. Es kam ihr erneut zu Bewusstsein, dass sie jetzt ganz allein war.

»Wann stehst du denn endlich auf, Malu? Ich möchte gern mit dir spielen. Auf Schoeneich ist überhaupt nichts los. Unser Baby kriegt Zähne und schreit den ganzen Tag. Ich krieg ja auch neue.« Er zog die Lippen hoch wie ein Hund, der knurren will, und zeigte seine Zahnlücke. »Wenn ich da auch dauernd schreien würde …«

Malu und Carola mussten lachen.

»Du bist ja nun schon groß, Nick. Bestimmt hast du auch geschrien, als du die ersten Zähne bekommen hast«, meinte Carola.

Nick schüttelte den Kopf. »Das glaub ich nicht. Aber ich kann ja Mutti mal fragen«, räumte er großmütig ein. »Kannst du gleich mit ’rauskommen, Malu? Es muss doch schrecklich langweilig sein, dauernd im Bett zu liegen.«

»Ich versuch’s nachher mal, Nick. Ich habe …« Sie verstummte und genierte sich zu sagen, dass sie Hunger hatte. Doch Carola hörte es und deutete es richtig.

»Ich werde Magda sagen, dass du hungrig bist, Malu. Für Magda gibt es nichts Schöneres, als kranke Kinder wieder aufzupäppeln.« Sie ging hinaus.

Nick setzte sich auf den Stuhl.

»Ich mag dich, Malu. Als Susi noch hier war, da habe ich geglaubt, dass es niemals ein anderes kleines Mädchen geben würde, mit dem ich mich so gut verstehen würde. Als Susi wegging, war ich sehr traurig. Aber ich hab verstanden, dass sie lieber bei ihrem Vater sein wollte und bei ihrer neuen Mutter. Sie wohnte einmal in Johannesburg. Weißt du, wo das ist?«

»Sicher. Das ist in Afrika. Dort ist es immer warm, und die meisten Menschen, die da leben, sind schwarz. Ist Susi auch schwarz?

»Du bist wirklich schlau, Malu«, stellte Nick bewundernd fest. »Mutti hat doch recht, wenn sie sagt, dass man viel lernen muss, wenn man über alles Bescheid wissen will. Doch Susi ist genauso weiß wie du und ich. Muss doch komisch sein, wenn man schwarz ist. Aber dann braucht man sich nie zu waschen. Niemand sieht es, wenn man einen schmutzigen Hals hat.«

Malu lachte. »Du bist lustig, Nick. Auch wenn man es nicht sieht, ist der Hals doch schmutzig. Erzähl mir, was Bambino macht. Und wie geht es dem Pony Nicki? Schreit Habakuk noch immer so lustige Sachen?«

»Natürlich! Ich hoffe, dass er noch mehr lernt. Du bleibst doch bei uns?«

»Wenn ich darf. Ich wüsste nicht, wo ich lieber wäre, jetzt, wo Vati nicht mehr kommt.«

»Ich spreche mit Mutti«, erklärte Nick großartig. »Und außerdem gehört ja alles mir. Wenn ich will, dann kannst du hierbleiben.«

»Nimm nur den Mund nicht so voll«, lachte Magda, die mit einem vollbeladenen Tablett eintrat. »Du weißt, dass deine liebe Mutti ihre eigene Art hat, dich zu kurieren, wenn du so etwas sagst.«

Nick bekam einen roten Kopf. »Brauchst es ja nicht gleich weiterzuerzählen, Magda.« Er ging zur Tür. »Ich komme später noch mal wieder, wenn Malu gegessen hat.«

Magda schob einen kleinen Tisch an Malus Bett heran.

»So, mein Kind, nun lang mal tüchtig zu! Du bist ja zum Umblasen dünn. Es wird Zeit, dass du ein bisschen Fleisch auf die Rippen kriegst. Für deinen Hund bringe ich auch noch eine Schüssel Futter.«

»Sie sind sehr lieb, Frau Magda«, bedankte Malu sich. Beim Anblick der leckeren Sachen lief ihr das Wasser im Munde zusammen. »Ich danke Ihnen auch, dass Sie sich meinetwegen so viel Mühe machen.«

»Das mach ich doch gern. Im Übrigen darfst du Magda und du zu mir sagen. Das tun die andern auch. Wir sind ja hier eine große Familie. Und in einer Familie sagen alle du zueinander.«

Magda nickte Malu freundlich zu und ging hinaus.

»Oh, Benny, wer hätte gedacht, dass es uns noch einmal so gut gehen würde. Schau mal, auf dem Brot ist Leberwurst. Die frisst du doch so gern. Komm, nimm das!«

Benny fing das Brot artig auf und schlang es hinunter. Er beleckte sich danach genüsslich die Schnauze, während Malu sich heißhungrig über das gute Essen hermachte.

Als sie satt war, wurde sie erneut schläfrig. Die Augen fielen ihr zu. Als Magda mit Bennys Futter zurückkam, schlief Malu bereits wieder fest und tief.

*

»Was ist das, eine Testamentseröffnung, Tante Irene?«

Malu saß mit Tante Irene auf dem Rücksitz des Wagens, den Onkel Kurt lenkte. Sie kannte den Onkel kaum wieder. So lieb und nett wie jetzt war er noch nie zu ihr gewesen.

»Dein Vater hat bestimmt, was mit dem geschehen soll, was er dir hinterlassen hat.«

»Oh, er will, dass ich wieder von Sophienlust weg muss, Tante Irene?« Ganz ängstlich klang Malus Frage.

»Es gefällt dir dort wohl sehr gut?«

»Es ist schön. Nicht schöner als mit Vati. Aber weißt du, es ist ganz anders, wenn man mit so vielen Kindern zusammen ist. Und man kann sehen, wie die Blumen wachsen und das Korn auf den Feldern. Außerdem habe ich mir schon immer gewünscht, irgendwo zu wohnen, wo der Wald ganz nah ist. Und in Sophienlust haben sie sogar einen eigenen Wald.«

Irene strich Malu über das Haar. Sie dachte daran, wie zufrieden Daniel wäre, wenn er wüsste, dass sich Malu mit der Veränderung in ihrem Leben nicht nur abgefunden hatte, sondern dass sie eigentlich erst jetzt ein richtiges Kind geworden war.

»Weißt du, Tante Irene, dass mir Carola von der kleinen Fotografie, die ich von Vati besitze, ein richtiges Bild gemalt hat? Mit bunten Farben. Es hängt über meinem Bett, und jeden Abend, bevor ich einschlafe, erzähle ich Vati, was ich alles getan habe. Ich versuche auch zu helfen, wo ich kann. Denn Herr Doktor Baumgarten hat gesagt, ich muss mich erst ganz erholen, bevor ich in die neue Schule gehen kann. Und Tante Isi ist ganz, ganz lieb zu mir.«

Sie erzählte Tante Irene jedoch nicht, wie lieb sie Tante Isi hatte. Das war ihr Geheimnis. Nur mit Benny konnte sie darüber sprechen.

Dr. Lohmeier begrüßte Malu sehr freundlich, die in dem Sessel sitzen durfte, der vor seinem Schreibtisch stand. Tante Helma war auch da. Sie war zu Malu von katzenhafter Freundlichkeit. Seitdem sie wusste, dass Daniel Geld hinterlassen hatte, ärgerte sie sich darüber, dass sie sich dagegen gewehrt hatte, Malu zu sich zu nehmen.

Dr. Kramer war auch anwesend. »Ja, sie sind alle sehr lieb. Und auch Benny ist ihnen willkommen. Auf Sophienlust sind nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere Freunde.«

Dr. Lohmeier begann mit der Testamentseröffnung. Vieles begriff Malu nicht ganz. Sie hörte nur, dass sie jeden Monat ein sehr reichliches Taschengeld haben sollte. So viel Geld! Davon konnte sie viel sparen und den Menschen, die gut zu ihr waren, manche Freude bereiten.

Zum Schluss sagte Dr. Lohmeier, dass es der Wunsch des Verstorbenen gewesen sei, dass Dr. Kramer, mit dem er sich vorher darüber unterhalten habe, Malus Vormund werden solle.

»Das ist ein Skandal«, rief Helma, ihre Freundlichkeit vergessend, in hochfahrendem Ton. »Mein armer Bruder war wohl zuletzt nicht mehr ganz bei Verstand. Schließlich hätte ich die Vormundschaft übernehmen können. Und dass er uns in einem Testament überhaupt nicht bedacht hat, ist doch ungesetzlich. Ich werde das anfechten. Malu ist noch ein Kind. Was tut sie mit einem solchen Vermögen?«

»Das Testament ist rechtskräftig, Frau Röder. Es ist von zwei Zeugen bestätigt worden. Herr Kollberg durfte über sein Vermögen so entscheiden, wie er es für richtig hielt. Außerdem leben Sie doch in guten Verhältnissen. Sie werden Ihrer kleinen Nichte doch nichts wegnehmen wollen?«

Helma bekam einen puterroten Kopf. Sie schluckte die bissige Erwiderung, die sie auf der Zunge hatte, hinunter. Wenn sie nur vorher gewusst hätte, dass Daniel so viel Geld besaß!

»Ich habe hier noch einen Brief für dich, Malu. Dein Vater hat ihn geschrieben und bestimmt, dass du ihn an deinem einundzwanzigsten Geburtstag bekommen und lesen sollst.«

Malu kämpfte mit den Tränen. Das alles hier hatte ihr ihren Vater wieder nahegebracht. In Sophienlust war es einfacher, nicht ständig an die Zeit mit ihm zu denken. Da gab es dauernd etwas anderes, und manchmal reichte der Tag kaum aus, um all das zu unternehmen, das sie planten.

»Vielen Dank, Herr Doktor!« Malu nahm die beiden Hunderteuroscheine entgegen, die Dr. Lohmeier ihr reichte.

»Das ist dein Taschengeld für diesen Monat, Malu.«

»So viel«, staunte Malu überwältigt. »Ich werde Tante Isi bitten, dass sie für mich ein Sparschwein besorgt. Da werde ich das viele Geld hineingeben.«

Anschließend führte Tante Irene und Onkel Kurt Malu zum Essen aus. Helma hatte sich ohne Abschied beleidigt entfernt. Aber niemand vermisste sie.

Nach dem Essen gingen Tante Irene und Malu zum Einkaufen, denn Malus Garderobe musste erneuert werden. Das Kind freute sich sehr über die vielen schönen Dinge, die sie früher nur in den Schaufenstern hatte bestaunen dürfen und die nun ihr gehörten.

»Ich würde gern auf den Friedhof gehen, Tante Irene. Ich war noch nie an Vatis Grab. Warte, ich werde Blumen für ihn kaufen.«

Zufällig war ein Blumenladen in der Nähe. Malu verschwand darin, und als sie wiederkam, trug sie einen großen Strauß leuchtendvioletter Iris.

»Ob er sie sehen kann, Tante Irene?«

Sie standen vor dem Grab. Erst vor einigen Tagen hatte Irene die verwelkten Kränze fortgeräumt und die Erde glattgezogen. An den Rändern war die Ruhestätte mit bunten Stiefmütterchen bepflanzt.

»Ich kann nicht glauben, dass Vati da drin ist, Tante Irene.«

Malu hatte gebetet und dabei auf die Tafel gesehen, auf der sein Name stand. »Manchmal, wenn ich von ihm träume, dann spüre ich, dass er in meiner Nähe ist.«

»So ist es, Malu. Menschen, die man lieb hat, die trägt man in seinem Herzen, auch wenn sie unerreichbar sind. Komm jetzt, wir müssen gehen! Du sollst doch heute Abend noch nach Sophienlust zurückkehren.«

»Ich möchte allen etwas mitbringen, Tante Irene. Nick wünscht sich ein Buch, in dem alle Tiere abgebildet sind. Carola würde sich bestimmt über ein Heft mit vielen Strickmustern freuen. Sie strickt sehr schön. Und sie hat versprochen, dass sie es mir auch beibringen will. Und Herr Rennert sagte letzthin, dass er starkes Papier zum Zeichnen braucht. Möchtest du mir helfen, das alles auszusuchen, Tante Irene?«

Der Kofferraum von Kurt Walters Auto war angefüllt mit Päckchen und Paketen. Malu verabschiedete sich mit einem Kuss von Tante Irene.

»Ich komme bald zu Besuch«, versprach diese.

Aufgeregt hielt Malu Ausschau, als der Waldweg nach Sophienlust erreicht war. Die Wurst, die sie für Benny gekauft hatte, lag eingewickelt auf ihrem Schoß.

»Da ist Nick mit Benny«, rief sie plötzlich. »Bitte, halte an, Onkel Kurt, ich möchte ihnen entgegenlaufen!«

Nick ließ Benny von der Leine. Der Hund sprang immer wieder an Malu hoch und trug dann stolz seine Wurst in der Schnauze davon.

»Gut, dass du wieder da bist, Malu«, sagte Nick. »Niemand hatte Zeit, mit mir zu spielen. Ich hab was Feines für uns gebaut. Aber ich verrate es dir nicht. Ich zeige es dir morgen.«

Er ging zum Wagen, der inzwischen herangekommen war und sagte höflich: »Guten Abend. Ich bin Dominik und Malus Freund.«

»Guten Tag, Herr Dominik«, erwiderte Kurt schmunzelnd, »du bist aber ein sehr höflicher junger Mann. Malu hat mir schon von dir erzählt. Wollt ihr nicht wieder einsteigen?«

»Vielen Dank, Herr Walters. Malu und ich gehen zu Fuß. Es ist ja nicht mehr weit. Carola wird gleich herauskommen, wenn Sie kurz auf die Hupe drücken. Meine Mutti ist nämlich heute nicht da, sonst würde sie Sie auch begrüßen.«

Malu war sehr glücklich darüber, dass sie mit ihren Mitbringseln ins Schwarze getroffen hatte. Jedenfalls schienen sich alle sehr zu freuen.

*

Am nächsten Tag musste Malu zum ersten Mal zur Schule. Deshalb war sie etwas aufgeregt, als sie morgens frühstückte.

»Hoffentlich komme ich in der neuen Schule genauso gut mit wie in der alten«, vertraute sie Carola an, die ihr Gesellschaft leistete.

»Warum nicht, Malu? Du hast doch sehr gute Zeugnisse.«

»Schon«, nickte Malu, »aber weißt du, wenn jemand neu ist, dann sind die andern zuerst gar nicht nett zu ihm.«

»Daraus darfst du dir nichts machen. Das legt sich mit der Zeit. Trink deinen Kakao aus. Du musst nämlich weg, sonst fährt dir der Zug vor der Nase davon. Sascha und Andrea werden sich um dich kümmern. Sie fahren mit dem gleichen Zug und gehen in die gleiche Schule. Auf Wiedersehen, Malu, und halt die Ohren steif.«

»Auf Wiedersehen, Carola. Auf Wiedersehen, Benny! Du kannst nicht mit mir kommen. Du musst warten, bis ich mittags wieder zu Hause bin. Nick kümmert sich um dich.«

Sie streichelte Benny und wünschte sich, dass sie ihn mitnehmen könnte. Selbst das brandneue Fahrrad mit der tollen Gangschaltung gefiel ihr heute Morgen nicht.

Erst als sie auf der Chaussee dahinfuhr, wurde ihr etwas leichter ums Herz. Der Morgen war aber auch zu schön. Die Vögel jubilierten, und der Himmel war so blau, als sei er gerade gewaschen worden.

Malu stellte das Fahrrad am Bahnhof in einem Schuppen ab. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie viel zu früh da war. Fast eine Viertelstunde hatte sie noch Zeit.

Sie setzte sich auf die Bank. Dies hier war ein anderer Bahnhof als der, an dem sie ausgestiegen war, als sie Vati gesucht hatte. Komisch, was einem so alles einfiel, wenn man nichts zu tun hatte. Sie entsann sich deutlich des Tages, an dem ihr Vater sie zum ersten Mal in die Schule gebracht hatte. Da war sie auch ängstlich gewesen und hätte seine Hand am liebsten gar nicht mehr losgelassen. Damals war sie noch ganz klein gewesen, doch obwohl sie heute um sechs Jahre älter war, fühlte sie sich auch nicht viel größer. Manchmal war es schon sehr schwer, damit fertigzuwerden, dass er nie mehr wiederkommen würde. Dann musste sie sich immer große Mühe geben, nicht zu weinen. Sie wollte jedoch auch nicht undankbar sein, wo doch alle in Sophienlust so lieb zu ihr waren.

»Guten Morgen. Du bist sicher Malu? Wir haben schon viel von dir gehört.«

Malu lächelte scheu, als sie Andrea sah.

»Du bist Andrea. Nett von dir, dass du zu mir kommst.«

»Ist doch klar, Sascha kommt auch gleich. Er bringt nur unsere Räder in den Schuppen.«

»Ihr fahrt auch mit dem Fahrrad?«, staunte Malu.

»Natürlich. Wir sind doch noch Kinder. Vati würde uns schön was erzählen, wenn wir uns dafür zu fein vorkämen. Höchstens wenn es zu doll regnet oder schneit, dann fährt uns Justus mit dem Wagen. Du kannst dann auch mitfahren.«

»Hey, der Zug kommt gleich!« Das war Sascha. Auch er begrüßte Malu, als würden sie sich schon ewig kennen.

Malu kam aus dem Staunen nicht heraus. In der Stadt waren in ihrer Klasse ein paar Mädchen gewesen, deren Eltern reich gewesen waren. Sie hatten immer ein bisschen von oben herab mit den andern gesprochen, und sie waren jeden Tag mit dem Auto zur Schule gebracht und abgeholt worden.

Malu lernte im Zug gleich noch einige andere Schüler kennen. Und alle waren genauso nett wie Sascha und Andrea. Als sie die Schule erreichten, war Malus Angst schon fast verflogen.

»Wenn dir jemand was tun will, Malu, dann sag’s mir. Ich helfe dir. Wir Kinder von Sophienlust gehören ja schließlich fast so zusammen wie Geschwister.«

Sascha klopfte Malu aufmunternd auf die Schulter.

*

Zu Malus großer Freude erwartete Nick sie mit Benny am Bahnhof, als sie mittags zurückkam.

»Das ist aber fein«, strahlte sie und tätschelte Benny, der sich anstellte, als sei sie von einer mehrmonatigen Reise zurückgekehrt.

»Bald komme ich auch aufs Gymnasium, dann können wir immer zusammen fahren. Lehrer Brodmann hat vielleicht gestaunt, als ich ihm heute im Naturkundeunterricht von den Hängebauchferkeln erzählt habe. Und dann hat er sich das Buch angesehen, das du mir geschenkt hast. Er sagte, dass es gut wäre, wenn alle Kinder so ein Buch besäßen, damit sie auch die Tiere kennenlernten, die es bei uns nicht gibt. Ich habe noch nicht zu Mittag gegessen. Ich wollte auf dich warten, damit es dir nicht zu langweilig beim Essen ist. Es gibt heute einen leckeren Reisauflauf mit Kirschen.«

»Du bist lieb, Nick. Auch weil du so nett zu mir bist, hab ich mich sehr schnell hier eingewöhnt.«

Nick bekam rote Ohren. Er fühlte sich schon ziemlich erwachsen und mochte es nicht gern, wenn man über etwas Selbstverständliches redete.

»Ich hab dir doch gesagt, dass ich dich gern mag. Und auf Schoeneich ist ja nichts los.«

»Was macht denn dein Brüderchen? Ich meine, hat es jetzt schon seine Zähnchen? So ein Baby muss doch etwas Wunderbares sein?«

Nick sah Malu misstrauisch an. »Meinst du das wirklich im Ernst? Ich könnte mir was Schöneres vorstellen. Entweder schreit es, oder es isst, oder es schläft. Wenn man es anfasst, ist es feucht. Das kann ich aber nur dir erzählen. Mutti und Vati finden ja, dass es nichts Schöneres auf der Welt gibt, als Henrik. Wenn ich nicht so viel Selbstbewusstsein hätte, könnte ich glatt eifersüchtig werden.«

»Hast du denn Selbstbewusstsein?«

»Es muss wohl sein«, meinte Nick. »Ich hab letzthin gehört, wie Vati zu Mutti sagte, wenn Henrik einmal so selbstbewusst wird wie Dominik, dann brauchen wir uns um ihn keine Sorgen zu machen.«

»Ob ich auch Selbstbewusstsein habe?«, überlegte Malu.

»Du bist ziemlich ängstlich, Malu. Zum Beispiel mit der neuen Schule. Du kannst doch alles, da brauchst du dich vor niemandem zu fürchten. Ich werde aufpassen, und jedes Mal, wenn ich entdecke, dass du an dir selbst zweifelst, dann werde ich es dir sagen.«

Bald hatten sie Sophienlust erreicht.

Benny sprang neben Malu her.

»Es war viel leichter, als ich gedacht hatte. Die Kinder waren sehr nett zu mir. Vielleicht liegt es daran, dass ich jetzt auf Sophienlust bin. Wenn ich auch weiterhin Malu Kollberg bleibe, ein bisschen von all dem Schönen hier ist wohl auch auf mich abgefallen.«

Benny trottete hinter ihr in das Zimmer, das sie noch immer allein bewohnte:

»Guten Tag, Vatilein«, nickte Malu dem Bild zu. »Es war alles ganz einfach. Schade, dass du das hier nicht mehr erleben kannst. Vielleicht wärst du hier wieder gesund geworden, und wir könnten noch immer zusammen sein.«

»Was hast du, Malu. Es sieht aus, als wolltest du jeden Moment weinen«, erkundigte sich Nick.

»Nichts weiter. Ich habe nur an Vati gedacht.«

»Sei nicht traurig, Malu. Ich habe ja auch meinen richtigen Vater verloren.«

»Aber du hast eine Mutti«, sagte Malu leise zu Nick. »Du weißt vielleicht gar nicht, wie es ist, wenn man niemanden mehr hat. Eine Mutti, das ist etwas Wunderbares. Ich glaub’s jedenfalls.«

*

»Hat Malu denn nie eine Mutter gehabt, Mutti?«, fragte Nick. »Alle Tiere haben doch eine Mutter, dann müssen Menschen doch auch eine haben.«

Denise strich ihrem Sohn über das dunkle Haar.

»Weißt du, Nick, manche Mütter haben ihre Kinder nicht so lieb, wie es sein sollte. So eine Mutter hat Malu. Du darfst aber nicht mit ihr darüber sprechen, dann wird sie noch trauriger.«

»Und wenn ich ihr sage, dass sie sich wegen solch einer Mutter nicht grämen soll?«, überlegte Nick.

»Dann wird sie wahrscheinlich auch traurig. Weißt du, sie sieht ja nur, dass andere Kinder Mütter haben, die sie lieb haben. Sie fühlt sich dadurch ein bisschen ausgestoßen. Und wenn man davon spricht, kommt es ihr noch mehr zum Bewusstsein.«

»Dann sind ich und Henrik ganz reich, weil wir dich haben.«

»Dann sind Henrik und ich müsste es heißen, Nick. Man nennt sich nicht selbst zuerst. Doch sonst glaube ich, dass du recht hast. Der größte Reichtum, den ein Mensch haben kann, ist die Mutterliebe. Dadurch wird er geformt, und wenn er sehr geliebt wird, kann er sehr viel Liebe abgeben.«

»So wie du, Mutti.«

Denise drückte Dominik sekundenlang an ihr Herz. Sie liebte ihre Kinder, die von Alexander und all die anderen, die sie bei sich aufgenommen hatte. Doch mit Dominik war das eine ganz eigene Sache. Sie beide waren mit einem festen Band aneinandergeschmiedet worden. Das war zu einer Zeit geschehen, in der sie nichts besaßen, als sich selbst.

*

Die Tage und Wochen zogen ins Land. Malu hatte die Ferien bei Tante Irene und Onkel Kurt verbracht. Sie hatte bei Hildes Hochzeit die lange Schleppe des Brautkleides tragen dürfen und war besonders froh darüber gewesen, dass sie Hilde ein wunderschönes Hochzeitsgeschenk hatte machen können. Das Geld dafür hatte sie von ihrem Taschengeld gespart.

Aber so schön es auch bei den Verwandten gewesen war, so glücklich war sie darüber, nun wieder auf Gut Sophienlust sein zu dürfen.

Nick wich nicht von ihrer Seite. Es gab eine Menge Neuigkeiten. Allerhand Tierkinder waren geboren worden. Auf den Feldern stand das Korn hoch und gelb, die Bäume waren schwer von Früchten. Die ersten Blätter fielen golden zur Erde hinab.

»Malu, fein, dass du wieder da bist.« Denise beugte sich herab und küsste Malu herzlich. »Wir haben dich sehr vermisst. Nick war manchmal ganz unausstehlich, weil du ihm gefehlt hast.«

Malu errötete vor Freude. Ihr Herz klopfte rascher. Die scheue Liebe, die sie vom ersten Augenblick zu Denise von Schoeneich hingezogen hatte, hatte sich in den Monaten ihres Aufenthalts auf Sophienlust noch vertieft.

»Danke, Tante Isi! Ich habe auch Sehnsucht nach Sophienlust gehabt. Eigentlich könnte ich mir nicht vorstellen, dass ich noch einmal woanders leben müsste.«

»Uns geht’s genauso. Magda hat zur Feier deiner Ankunft eine Schokoladentorte gebacken. Wascht euch die Hände und kommt!«

Malu war entzückt darüber, dass das Baby auch da war. Sie betrachtete es andächtig.

»Wie klein und zierlich seine Händchen sind. Waren wir wohl auch mal so klein?«

»Natürlich«, sagte Nick. »Aber mir sind die größeren Kinder lieber. Mit den kleinen kann ich nichts anfangen. Sie können ja noch nicht spielen.«

Später gingen Nick und Malu auf die Weide zu den Ponys. Sie fütterten sie mit Zucker.

»Noch zwei Wochen, dann ist Erntefest. Mutti hat erlaubt, dass wir aus Stroh Sträuße und Kränze basteln. Carola und Wolfgang werden uns zeigen, wie man es macht. Sie wollen bald heiraten. Komisch, dass die erwachsenen Leute alle heiraten.«

»Warum denn nicht? Vielleicht ist das ganz schön.«

Denise und Alexander sahen den beiden Kindern vom Fenster aus zu.

»Wenn ich ein Kind wie Malu sehe, dann bin ich immer wieder ganz besonders glücklich, dass ich Sophie von Wellentins Wunsch erfüllt habe. Unbegreiflich, dass eine Mutter sich so ganz und gar von ihrem Kind trennen kann.«

»Nach allem, was wir wissen, Denise, ist Malu hier bei uns geborgener und behüteter. Sie wird einmal mit offenem und freiem Herzen ins Leben treten. Ich finde, dass sie und Nick sich prächtig verstehen.«

»Ja«, meinte Denise lächelnd.

»Ihm tut diese Freundschaft recht gut. Malu ist ein vernünftiges Mädchen. Nick kann von ihr eine Menge lernen.«

»Wie überhaupt alle ›unsere‹ Kinder voneinander lernen und sich gegenseitig ein wenig erziehen. Manchmal frage ich mich, was aus Sophienlust werden wird, wenn Nick erwachsen ist.«

»Das wird sich finden, Lieber. Ich könnte mir vorstellen, dass es Nick auch dann noch Vergnügen bereitet, viel Leben und Treiben um sich zu haben. Natürlich muss er dazu die passende Frau finden. Gottlob ist bis dahin noch eine Menge Zeit. Alles kommt ganz von selbst so, wie es bestimmt ist. Vorläufig möchte ich mich noch gar nicht gern von einem unserer Kinder trennen.«

»Sie werden dir alle erhalten bleiben, Denise. Auch wenn sie mal eine eigene Familie haben.«

»Meinst du?«

Ihre Blicke tauchten ineinander. Sie fühlten sich ganz jung und verliebt. Sie wussten, dass sie zueinander gehörten.

*

Der große Hof des Gutes war säuberlich gefegt, und in der Mitte war aus Brettern eine Tanzfläche aufgebaut worden. Malu und Nick waren damit beschäftigt, die Balustrade, die die Tanzfläche umgab, mit den selbstgeflochtenen Strohkränzen und -sträußen zu schmücken.

»Sieht hübsch aus mit den roten und blauen Strohblumen darin. Das wird wirklich ganz prachtvoll«, lobte Nick.

»Geh weg, Benny!«, rief Malu dem Hund zu, der überall im Weg war, weil er seine Nase in alles hineinsteckte.

»Jetzt ist er beleidigt«, lachte Nick, als Benny mit hängendem Kopf und Schwanz ein Stück davontrottete und sich hinlegte.

»Er wird sich schon wieder mit mir vertragen. Wir haben uns ja gern. Da darf man nicht alles so krumm nehmen. Meinst du, wir sollten hier noch eine Girlande anbringen?«

Sie fragten Carola, die eben mit einem Stoß buntkarierter Tischdecken herauskam, um ihre Meinung.

»Ihr habt das wunderbar gemacht. Doch ich finde, es ist genug, sonst wird es zu überladen.«

»Hoffentlich regnet es heute Abend nicht! Vati hat versprochen, dass wir auch ein großes Feuer anzünden dürfen, wenn es dunkel ist. Die Sommersonnenwende ist zwar schon vorüber, trotzdem finde ich das sehr lustig. Und die Dorfmusikanten spielen zum Tanz auf. Kannst du eigentlich tanzen, Malu?«

»Ich hab’s noch nicht probiert. Aber so schwer kann es ja gar nicht sein. Versuchen wir es mal zusammen, Nick?«

»Klar!«, stimmte Nick zu. »Natürlich muss ich auch mal mit Mutti und Andrea tanzen und mit Tante Babs und Carola. Das gehört sich, denn schließlich bin ich der Herr von Sophienlust. Die meisten Tänze spare ich natürlich für dich auf.«

Magda und Lena, die zum Bewundern gekommen waren, hörten den Rest des Gespräches. Sie warfen sich lächelnd einen Blick zu.

»Wer weiß, ob aus den beiden nicht mal ein Paar wird«, orakelte Lena. »Ich müsste die Huber-Mutter mal fragen. Die kann doch so was aus dem Kaffeesatz lesen.«

»Das ist ja albern«, rief Magda. »Aberglauben nennt man das. Dass du auf so was ’reinfällst.«

»Schließlich hat die Huber-Mutter schon ein paarmal vorausgesagt, was passiert, das weißt du doch!«

»Na ja, das konnte man doch vorher schon erkennen, dass aus dem Herrn von Schoeneich und unser gnädigen Frau einmal ein Paar werden würde.«

Nick und Malu hörten von diesem Gespräch nichts. Sie waren zu Carola gelaufen und boten ihr ihre Hilfe an. Sie konnten es kaum noch erwarten, dass das Erntefest endlich begann.

Schließlich war es so weit. Die Großeltern Wellentin, Dr. Baumgarten mit seiner Familie, Claudia und Lutz Brachmann – kurz alle, die zu den Freunden von Sophienlust zählten, waren gekommen. Die Kinder trugen ihre Sonntagskleider und saßen alle zusammen an einer langen, eigens für sie bestimmten Tafel. Die bunten Lampions, die an dünnen, quer über den Hof gespannten Drähten hingen, beleuchteten fröhliche Gesichter.

Es wurde ein wundervolles Erntefest. Ein besonderer Spaß war für die Kinder das Hinüberspringen über das glimmende Feuer. Nick und Malu allen voran.

Benny, der es seinem jungen Frauchen nachtun wollte, blieb jedes Mal stehen, wenn er an den Rand der Glut kam, und zuckte wieder zurück.

Es wurde später als sonst. Frau Rennert hatte zwar großzügig die Nachtruhe verschoben, doch als sie sah, dass die Kinder sich die Augen zu reiben begannen, scheuchte sie sie ins Bett.

»Schade, dass so ein Erntefest nicht ein paar Tage dauern kann«, meinte Malu, als sie sich von Nick verabschiedete. »Es war wunderschön. Ich werde heute Nacht davon träumen.«

»Nächtes Jahr ist wieder eins«, tröstete Nick. »Und bald hast du Geburtstag. Da machen wir auch wieder ein Fest.«

Die Erwachsenen blieben noch eine Weile beisammen. Obwohl Malu sich vorgenommen hatte, vom Fenster aus noch ein wenig zuzusehen, war sie viel zu müde dazu. Sie schlief sofort ein und träumte davon, dass Denise ihr erlaubte, Mutti zu ihr zu sagen. Als Benny im Schlaf einmal leise bellte, wurde sie für Sekunden wach, dann träumte sie wieder weiter.

*

Denise und Carola sahen sich noch einmal ihr Werk an. Der Speisesaal war hübsch geschmückt, und auf einem besonderen Tisch häuften sich in buntes Geschenkpapier eingewickelte Päck­chen. Das größte, es war wirklich ein umfangreiches Paket, stammte von Nick. Er schenkte Malu einen Hundekorb für Benny, den sie sich brennend wünschte. In der Mitte des Tisches stand ein bemalter Holzkranz mit dreizehn Kerzen und einer dicken roten Kerze. Das war das Lebenslicht.

»Malu wird Augen machen, Frau von Schoenecker«, lächelte Carola zufrieden.

»Hoffentlich hat Nick dichtgehalten! Sonst ist die Überraschung nur noch die Hälfte wert. Gut, dass morgen Sonntag ist. Da haben wir wenigstens alle Zeit füreinander. Vergiss nicht, die Tür abzuschließen, Carola.«

»Nein, nein. Ich habe den Schlüssel in der Tasche. Malu wird sich bestimmt freuen, dass auch ihre Verwandten morgen dabei sein werden, Frau von Schoenecker.«

Carola ließ Denise vorangehen und knipste das Licht aus. Es knirschte leise, als sie den Schlüssel im Schloss herumdrehte. Dann prüfte sie noch mal, ob die Tür wirklich verschlossen war.

»Das glaube ich auch, Carola. Tante Irene ist wirklich ein herzenswarmer Mensch. Ich fürchte, sie leidet noch immer darunter, dass sie ihrem Bruder nicht versprechen konnte, dass Malu in ihrem Haus bleiben dürfte.«

»Trotzdem finde ich es besser, dass Malu hier bei uns ist. Schade, dass Herr Kollberg nicht weiß, wie gut es seinem Kind bei uns geht. Dass sich Malu bei uns so wohlfühlt, daran hat aber Nick auch einen großen Anteil.«

»Sag es ihm nur nicht! Augenblicklich ist er mir zu eingebildet.«

»Er hat ein gutes Herz und eine natürliche Wesensart«, nahm Carola Nick in Schutz. »Außerdem sorgen Sie schon dafür, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen.«

Denise lachte leise auf.

»Du hast recht, Carola. Manchmal komme ich mir vor wie ein Gärtner, der immer bereit sein muss, die wilden, überschüssigen Triebe zu stutzen. Ich hoffe nur, dass ich immer alles richtig mache.«

»Sie bestimmt, Frau von Schoenecker.« Carola öffnete Denise den Wagenschlag. »Kommen Sie gut heim! Gute Nacht!«

»Gute Nacht«, klang es zurück. Carola blieb stehen und sah den roten Schlusslichtern nach, bis sie verschwunden waren. Sie schrie leise auf, als sie einen festen und doch zärtlichen Griff an ihren Oberarmen verspürte.

»Du bist es, Wolfgang. Du hast mich erschreckt.«

»Das tut mir leid, Carola. Ich hatte Sehnsucht nach dir. Gehen wir ein bisschen durch den Park?«

»Gern.« Carola stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte Wolfgang einen Kuss auf die Lippen. »Du weißt ja, dass ich lieber öfter mit dir zusammen wäre. Aber schließlich haben wir beide etwas zu tun.«

»Jetzt nicht mehr.« Wolfgang Rennert nahm Carolas Arm. »Du wirst alle Tage hübscher. Und ich liebe dich alle Tage mehr. Eigentlich könnten wir doch bald heiraten. So jung bist du ja jetzt auch nicht mehr.«

»Ich bin schon fast eine Uroma. Komm, lass uns zumWeiher gehen! Der sieht immer so hübsch aus, wenn der Mond scheint.«

Arm in Arm verschwanden sie in der Tiefe des Parkes. Niemand sah ihnen zu, nur die Sterne und der Mond, der sein helles Licht zwischen die Zweige der Bäume streute.

*

Malu wurde davon wach, dass frohe Stimmen ein Lied sangen. Sie rieb sich die Augen, und plötzlich wusste sie, dass heute ihr Geburtstag war. Wie immer galt ihr erster Blick am Morgen dem Bild von Vati. Fast schien es ihr, als läge heute ein Lächeln um seinen Mund und ein herzlicher Blick in seinen Augen. Unwillkürlich fasste sie nach dem Goldkreuz an der langen Kette, sein Geschenk im vergangenen Jahr zu ihrem Geburtstag. Damals hatten sie beide nicht gewusst, dass dies der letzte Geburtstag sein würde, den sie miteinander verleben durften.

»Happy birthday to you«, sangen die andern Kinder draußen. Malu hörte deutlich Nicks helle Stimme heraus. Sie beeilte sich mit der Morgenwäsche, tätschelte zwischendurch Benny, der sie wie immer ausgiebig begrüßte, und machte sich in fliegender Hast einen Pferdeschwanz, dann öffnete sie die Tür.

Der Chor begann von Neuem, als sie herauskam.

»Ihr seid sehr lieb«, rief Malu. »Ich danke euch auch für euren schönen Gesang!«

Das Schönste für sie aber war, dass Tante Isi zu ihr kam und ihr mit einer liebevollen Umarmung zum Geburtstag gratulierte. Der Nächste war natürlich Nick. Er konnte es kaum erwarten, dass sie endlich in den Speisesaal gingen. Er wollte doch unbedingt wissen, was Malu zu seinem Geschenk sagte.

Davon abgesehen, dass dies ihr erster Geburtstag ohne ihren Vater war, hatte Malu noch nie in ihrem Leben einen so schönen Geburtstag gefeiert. Alle waren lieb zu ihr. Aber am schönsten war es, dass Tante Isi so herzlich und lieb zu ihr war.

»Weißt du, Kurt«, meinte Irene, als sie mit ihrem Mann am Abend wieder heimfuhr, »es bedrückt mich immer noch, dass wir damals Daniel nicht versprochen haben, Malu zu uns zu nehmen. Doch ich glaube, dass es hier für sie viel schöner ist. Denn wir sind ja nun mal nicht mehr die Jüngsten. Und ich glaube kaum, dass Malu Daniels Tod so schnell überwunden hätte, wenn sie nicht mit den Kindern zusammen wäre.«

»Da magst du recht haben, Irene. Wir jedenfalls haben dadurch etwas gelernt. Oder wenigstens ich. Denn du warst ja schon immer ein vorbildlicher Mensch.«

*

Malu musste ein bisschen mit sich allein sein. Als ihre Verwandten weggefahren waren, hatte sie sich mit Benny davongestohlen. Das Herz lief ihr über. Sie musste Benny sagen, was sie bewegte. Obwohl sie Nick herzlich liebte, gab es Dinge, die sie eben nur mit ihm besprechen konnte.

Sie saß im Gartenpavillon auf der Bank. Die Trauerweide hatte schon fast alle Blätter verloren. Im Westen ging die Sonne unter. Der Himmel war in ein zauberhaftes rosarotes Licht getaucht.

»Ich hätte nie geglaubt, dass ich ohne Vati noch einmal so glücklich sein könnte, Benny«, sagte Malu leise. »Ich bin auch nicht mehr traurig. Weißt du, Benny, ich glaube, dass der liebe Gott Tante Isi so gut sein lässt, damit sie für alle Kinder, die allein sind, eine richtige Mutter ist. Wir sind doch hier ganz zu Hause. Ich würde gern Mutti zu ihr sagen, aber das geht ja nicht. Denn sie ist ja nicht wirklich meine Mutti. Sie ist die Mutti von Nick und dem Baby und dazu noch von Andrea und Sascha. Ganz für mich, wenn ich allein bin, nenne auch ich sie Mutti. Früher habe ich immer nur davon geträumt, dass ich eine Mutti haben möchte. Jetzt habe ich sie. Auch wenn es niemand außer dir und mir weiß.«

Malu hatte keine Ahnung, dass nicht weit von ihr entfernt Alexander und Denise saßen und das rührende Geständnis, das sie Benny machte, mit angehört hatten.

»Wer hat schon eine Frau wie dich, Liebes. Die für alle eine Mutti ist und dabei doch mir ganz allein gehört.«

Alexander von Schoenecker neigte sich vor und küsste Denise zärtlich auf den Mund.

»Nicht zu vergessen Sophienlust und alle meine Kinder«, meinte Denise. »Aber deine Liebe hilft mir, meine Aufgaben zu bewältigen.«

Jetzt war es ganz dunkel geworden. Der Mond kroch eben über die Baumwipfel, und sein silbernes Licht verwandelte den Park in eine Feenlandschaft. Und wieder lag ein tiefer Friede über Sophienlust.

Sophienlust Paket 1 – Familienroman

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