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Was ist Autismus

(Cordilia Derungs)

Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler prägte den Begriff Autismus um 1911 im Rahmen seiner Forschungen zur Schizophrenie. Er bezog ihn ursprünglich zunächst nur auf diese Erkrankung und wollte damit eines ihrer Grundsymptome beschreiben – die Zurückgezogenheit in eine innere Gedankenwelt. Bleuler verstand unter Autismus „die Loslösung von der Wirklichkeit zusammen mit dem relativen oder absoluten Überwiegen des Binnenlebens“.

Der Psychoanalytiker Sigmund Freud beschäftigte sich etwa zur selben Zeit mit den Begriffen „Autismus“ und „autistisch“ von Bleuler und setzte sie mit „Narzissmus“ bzw. „narzisstisch“ gleich – als Gegensatz zu „sozial“.

Die Begriffsbedeutung wandelte sich mit der Zeit von „dem Leben in einer eigenen Gedanken- und Vorstellungswelt“ hin zu „Selbstbezogenheit“ in einem allgemeinen Sinn.

Hans Asperger und Leo Kanner nahmen den Autismusbegriff dann 1943 und 1944 auf. Sie sahen in ihm aber nicht mehr nur ein einzelnes Symptom wie Bleuler, sondern versuchten damit gleich ein ganzes Störungsbild eigener Art zu erfassen. Sie unterschieden dabei Menschen mit Schizophrenie, die sich aktiv in ihr Inneres zurückziehen, von jenen, die von Geburt an in einem Zustand der inneren Zurückgezogenheit leben. Letzteres definierte nunmehr den Begriff „Autismus“.

Grundlagenforschung

In der Forschung werden verschiedene mögliche Ursachen oder Auslöser von Autismus untersucht. Genetische Faktoren, Spiegelneuronen, Abweichungen im Verdauungstrakt, Vermännlichung des Gehirns, atypische Konnektivität (atypischer Informationsfluss im Gehirn), Umwelt und mögliche kombinierte Faktoren.

Es gibt nach wie vor mehr Fragen als Antworten in der Autismusforschung.

Die Ausprägungen von Autismus umfassen ein breites Spektrum. Manche Eltern, Bezugspersonen oder „Fachleute“ wünschen sich eine „Heilung“ einer starken Ausprägung des Autismus. Viele Erwachsene mit leichter Ausprägung des Autismus haben gelernt, mit ihren autistischen Eigenarten zurechtzukommen. Sie wünschen sich oft die Akzeptanz durch ihre Mitmenschen. Auch sehen sie Autismus nicht als etwas von ihnen Getrenntes, sondern als integralen Bestandteil ihrer Persönlichkeit.

Dominic und der Autismus

Dominic ist das mittlere von drei Kindern. Die Schwangerschaft sei problemlos gelaufen, er ist in der 40. Woche zur Welt gekommen. Die Geburt gestaltete sich als sehr schwierig, da Dominic mit den Achseln im Geburtskanal hängen geblieben sei. Als er 10 Monate alt war, fiel der Mutter auf, dass mit Dominic etwas nicht stimmte. Nach mehreren Untersuchungen und eingeleiteter Früherziehung wurde im Jahre 1998 die Diagnose frühkindlicher Autismus gestellt.

Erstbegegnung am 25.9.2000 im Alter von 6 Jahren

Dominic kommt ins Untersuchungszimmer, schaut sich um, entdeckt 2 Autos und hält sich an diesen fest. Er begrüßt mich nicht, er schaut mich nicht an, er bleibt auf Distanz. Beim Seifenblasenmachen ist er bereit, sich zu beteiligen. Es gelingt ihm nicht, gezielt Seifenblasen zu produzieren. Seine Frustrationstoleranz ist sehr klein, und er ist nicht bereit, sich von mir helfen zu lassen. Dominic läuft weg. Danach ist es nur mit großer Anstrengung möglich, ihn nochmals für einige Tätigkeiten zu motivieren. Die Anwesenheit der Eltern beruhigt ihn und ich kann mit viel Vorsicht eine Teilaufmerksamkeit gewinnen.

Dominic ist Rechtshänder. Er ist bereit, verschiedene Materialien anzufassen. Er kann mit Farb- und Malstift umgehen, wobei die Kraftdosierung schwach ist. Dominic kann bei einem geometrischen Formenbrett die Formen problemlos zuordnen. Größen und Farben bereiten ihm keine Schwierigkeiten. Ein vierteiliges Puzzle kann er mit wenig Hilfe zusammensetzen. Seine Hand-Hand- und Hand-Augen-Koordination ist bei diesen Aufgaben angepasst. Dominic kann einen Ball fangen, ist aber nicht bereit, mir den Ball zurückzuwerfen.

Das Sprachverständnis zeigt sich während der Abklärungssituation nicht altersentsprechend. Dominic versteht wohl einzelne Wörter, kann in einer fremden Umgebung und mit einer fremden Person aber sehr wenig damit anfangen. Sobald ihn aber ein Material interessiert, ist er aufmerksamer und kann einigen verbalen Aufforderungen im Zusammenhang mit dem Situationsverständnis Folge leisten. In solchen Situationen zeigt er ein großes Lernpotenzial.

Dominic hat keine verbale Sprache. Es gelingt ihm auch nicht, einzelne Laute zu imitieren. Er zeigt eine stimmliche Stereotypie, bei der ich folgende Laute höre: „ai, ui, oi, ogi, agi, ei“.

Die oben genannten Verhaltensbeobachtungen lassen den „Laien“ wahrscheinlich keinen Autismus erkennen. Es könnte sich jedes Kind in bestimmten Situationen so verhalten. Die aufschlussreichen, beobachtbaren Verhaltensweisen bestehen aus: Inspizieren des Untersuchungszimmers, Ausschau halten nach bekannten oder interessanten Objekten, sich daran festhalten. Die anwesende Person ist kein Bezugspunkt, Blickkontakt wird nicht gesucht, sondern vermieden. Die Seifenblasen bekommen Aufmerksamkeit, die Person, welche die Seifenblasen produziert, wird nicht beachtet, Seifenblasen selber produzieren gelingt nicht. Daraus entsteht Frustration, die Hilfestellung der erwachsenen Person wird nicht angenommen, ist bedrohlich, also wird weggelaufen oder geschrien.

Bei den Autismus-Spektrum-Störungen kann eine erfahrene Person die Kernsymptomatik sehr schnell wahrnehmen. Sie kann das Kind nicht auf gleiche Weise erreichen wie ein neurotypisches Kind.

Erst die bewusste Beziehung und Verbundenheit mit sich selber lässt Beziehung und Verbundenheit mit anderen Menschen zu. Aus diesem Grund sind die Eltern – insbesondere die Mütter – lange die einzigen Vertrauenspersonen eines Kindes mit Autismus. Die Verbundenheit der Mutter zu ihrem Kind ist nebst der eigenen Verbundenheit wohl die stärkste.

Menschen sind in ständiger Interaktion mit der Umwelt. Bei einem neurotypischen Baby steht die erste soziale Interaktion mit der Mutter und weiteren Bezugspersonen im Zentrum. Bei Kindern mit Autismus merken die Mütter schnell, dass etwas „anders“ ist. Sie spüren die Verbundenheit nicht, anders oder immer nur von sich ausgehend. Dies verunsichert und die Interaktion beginnt das eigene Selbst in Angst zu versetzen. Viele Fragen, Ungewissheiten, Selbstzweifel und „Hilfeschreie“ beeinträchtigen die natürliche, liebende Verbundenheit mit dem Kind. Die Mütter werden oft lange mit ihren Ängsten alleine gelassen oder werden vertröstet, „das kommt schon noch“.

Durch Beziehungen, Verbundenheit und Interaktion mit der Außenwelt lernt das Kind. Dominic interessierte sich bereits früh für die Technik oder allgemein, wie Dinge funktionieren. Die Interaktion mit Menschen, welche ihn zur Erkundung und zum Verstehen der dinglichen Welt geholfen hätten, war und ist schwierig.

Dominic geht seinen eigenen, ihm bestimmten Weg, wie wir alle. Durch die Technik und die Verbundenheit mit seiner langjährigen Heilpädagogin und Freundin hat er nun ein Buch geschrieben, mit dem Wunsch, dass noch viele neurotypische Menschen versuchen, Menschen mit Autismus zu verstehen und sie so zu akzeptieren, wie sie sind.

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Cordilia Derungs

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